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Suizidalität erkennen und adäquat begegnen

Tag der Suizidprävention der Universitätsklinik Magdeburg

Tag der Suizidprävention der Universitätsklinik Magdeburg

Foto: stock.adobe.com/picture-waterfall

Etwa 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jährlich das Leben. Somit sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, illegale Drogen und AIDS zusammen. Die weitaus höhere Zahl an Suizidversuchen ist nicht genau zu beziffern. Hinter einem Suizid können vielfältige Ursachen stehen, die von psychischen Erkrankungen bis zu individuellen Lebenskrisen reichen. Suizidalität kann jeden im Laufe seines Lebens betreffen. Doch Suizidprävention ist möglich. Ob Laie oder medizinische Fachkraft: Jeder kann lernen, Suizidgefährdung frühzeitig zu erkennen und professionelle Hilfsangebote zu vermitteln.

Diesem Ziel diente der Tag der Suizidprävention der Universitätsklinik Magdeburg A. ö. R. am 17.10.2024, den das Klinische Ethikkomitee (KEK) in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie (KPSY), der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (KPSM) sowie dem Sozialdienst der Uniklinik erstmals veranstaltete.

Den Auftakt bildete ein Vortrag von Prof. Dr. Thomas Nickl-Jockschat (Chefarzt KPSY), bei dem der Referent die vielfältigen Ursachen von Suizidalität ausführte und aufzeigte, woran sich Suizidgefährdung beim Gegenüber erkennen lässt. Spätestens seit Goethes Werther-Roman sei der Wunsch nach dem eigenen Versterben mit der Lebensphase der Pubertät assoziiert, bei der sich ein Heranwachsender aus Liebeskummer das Leben nehmen will, so Nickl-Jockschat. Dabei sei Suizidalität ein Phänomen aller Altersklassen und sozialen Schichten. Es sei daher Aufgabe von Experten, tradierte Bilder zur Suizidalität, die nicht der Realität entsprechen, als Mythen zu entlarven. So halte sich noch immer hartnäckig das Vorurteil, dass Menschen, die offen ihre Suizidabsichten äußern, tatsächlich keinen ernstzunehmenden Suizidversuch vornehmen würden.

Nach dem Vortrag folgte in größerer Runde ein Austausch darüber, welche gesamtgesellschaftlichen und fachspezifischen Maßnahmen dazu geeignet seien, Suizidalität adäquat zu begegnen und Selbsttötungen zu verhindern. Neben Nickl-Jockschat beteiligten sich an der Podiumsdiskussion Prof. Dr. Florian Junne (Chefarzt KPSM), Juliane Fiebig (Oberärztin, Fachklinik für Psychosomatische Medizin in Pulsnitz), Birgit Greulich (Landesverband Sachsen-Anhalt e. V. Angehörige psychisch Kranker) sowie Matthias Dambacher (Telefonseelsorge). Prof. Dr. Bettina Hitzer, Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees der UMMD, moderierte die Diskussion.

Auf Hitzers Frage, wann eigentlich Suizidprävention beginne, antworteten Fiebig und Junne, dass bereits im Kindergarten und in der Schule die ersten Maßnahmen ansetzen müssten. Aus ihrer Praxiserfahrung heraus berichteten sie, dass insbesondere Menschen, die vereinsamt seien und jeden Glauben daran verloren hätten, in Beziehung zu einem anderen Menschen treten zu können, ein hohes Suizidrisiko aufweisen würden. Auch das neuere Phänomen des Cybermobbings sei insbesondere in der Kinder- und Jugendphase ein Auslöser für Suizidgedanken. Einig waren sich die Podiumsbeteiligten darin, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, Vereinsamung entgegenzutreten und soziale Integration zu fördern. Eltern, Erzieher und Lehrer sollten Kinder dabei unterstützen, sich als Teil einer Gemeinschaft wahrzunehmen. Zur Beziehungsfähigkeit gehöre es zudem, in die Lage versetzt zu werden, eigene Gefühle äußern zu können und zu dürfen sowie mit der Fehlerhaftigkeit – der eigenen und der von anderen – umgehen zu lernen. Dabei seien Strategien, negative Impulse abzubauen, ganz individuell. Substanzmissbrauch setze hingegen die Impulskontrolle herab und sei oft ursächlich dafür, dass bereits länger gehegte Suizidabsichten in die Tat umgesetzt würden.

Doch was ist, wenn die düsteren Gedanken von einer psychischen Erkrankung herrühren? Hier gelte es, die Betroffenen zeitnah einer professionellen Behandlung zuzuführen. Der Weg zu einem Therapeuten sei dabei nicht immer einfach und Gespräche mit Angehörigen oft schambesetzt. Hier biete die Telefonseelsorge seit nunmehr 70 Jahren ein niederschwelliges Gesprächsangebot für die Betroffenen, so Dambacher. Auch die Rolle der Hausärzte als erste Anlaufstelle und Lotse durch das Gesundheitssystem sei enorm wichtig. Die Rolle des Internets schätzten die Beteiligten der Podiumsdiskussion hingegen ambivalent ein: es biete einerseits einen Raum für niederschwellige Beratungs- und Hilfsangebote und könne dazu dienen, den Austausch zwischen Betroffenen im Sinne der Selbstermächtigung zu fördern, andererseits könne der Algorithmus – je nachdem, welche Begriffe Betroffene bei ihrer Informationssuche verwenden – Gefährdungen verstärken. Ein weiterer Aspekt, der die Inanspruchnahme von professionellen Hilfsangeboten verhindere, sei, dass viele Betroffene die Einnahme von Psychopharmaka fürchten. Erweise sich im weiteren Verlauf eine langfristige Einnahme von Medikamenten als notwendig, sei das Management der unerwünschten Nebenwirkungen entscheidend für den langfristigen Therapieerfolg, so Nickl-Jockschat.

Bereits im Kindergarten und in der Schule müssten die ersten Maßnahmen für Suizidprävention ansetzen.

Konnte trotz aller Maßnahmen ein Suizidversuch nicht verhindert werden, so gilt es, anschließend Nachsorge zu betreiben sowie Angehörige und das weitere soziale Umfeld als Risikopopulation zu erkennen. Auch telemedizinische Möglichkeiten, um Patienten und Angehörigen länger „nachzugehen“, werden mittlerweile erfolgreich genutzt. Etwa 90 Prozent der Überlebenden eines Suizidversuchs tragen schwere Folgeschäden körperlicher und seelischer Natur davon. Die damit einhergehende Belastung auch für die Angehörigen von psychisch Erkrankten ist enorm. Das wusste auch Birgit Greulich als Mutter eines seit vielen Jahren an Depression erkrankten Sohnes zu berichten. Besonders die Auseinandersetzung mit Behörden, um die soziale Absicherung für erwerbsgeminderte Erkrankte zu beantragen, belaste die Betroffenen und ihre Familien. Um sich als Angehörige nicht selbst „ins Aus zu schießen“, musste auch sie lernen, rechtzeitig Grenzen zu setzen, die eigene Erschöpfung zu bemerken und Selbstsorge zu betreiben. Da helfe es, Unterstützungsangebote wie die der Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker in Anspruch zu nehmen. Auch das vom Sozialdienst der Uniklinik betriebene Trialog-Forum biete den Austausch von Erfahrungen zwischen Betroffenen, Angehörigen, Behandlern und der Öffentlichkeit. Nach wie vor aber führe der Mangel an stationären und teilstationären Versorgungsangeboten, der in Sachsen und Sachsen-Anhalt besonders eklatant sei, alle guten Absichten der Berater und Behandler ad absurdum. Hier sei das Engagement der politisch Verantwortlichen gefragt.

Zum Abschluss der Veranstaltung wagte Hitzer mit den Anwesenden einen Blick in die Zukunft. Die beteiligten Fachvertreter erhofften sich wertvolle Impulse aus der translationalen Forschung: Die Standorte Halle und Magdeburg sind beteiligt am Aufbau des Deutschen Zentrums für psychische Gesundheit (DZPG), das 2023 etablierte wurde. Das DZPG hat sich zum Ziel gesetzt, die Übersetzung von Forschungsergebnissen in neue diagnostische Verfahren und therapeutische Ansätze für Patientinnen und Patienten sowie Angehörige zu beschleunigen. Aber auch die Rückübersetzung von Praxiswissen in die Forschung spielt eine ebenso wichtige Rolle. So werden neue Methoden, wie beispielsweise digitale Begleiter in der Psychotherapie erprobt, mit deren Hilfe Behandler in den von Patienten verwendeten Sprachmustern subtile Hinweise auf Suizidalität früher erkennen können. Auch Hirnstimulationsverfahren, die bei pharmakoresistenter Depression oder Schizophrenie besser verträglich scheinen als eine Elektrokrampftherapie, seien vielversprechend. Wichtig schien allen Beteiligten, in Zukunft vermehrt personalisierte Ansätze zu nutzen, dabei auch die individuelle genetische Veranlagung zu beachten sowie netzwerkbasierte Angebote zu offerieren.

Am folgenden Tag konnten Interessierte an einem von der Psychiatriepflege ausgerichteten Achtsamkeitsworkshop teilnehmen und Infostände verschiedener Klinikbereiche und Angehörigeninitiativen besuchen. Der Tag der Suizidprävention stieß auf ein reges Interesse und soll auch im kommenden Jahr wiederholt werden. Hierzu planen die Veranstalter neben Vorträgen und Infoständen einen Virtual Reality-Erfahrungsparcours mit der Robert-Enke-Stiftung.

Korrespondenzanschrift:

Prof. Dr. Bettina Hitzer, Anna Siemens
Klinisches Ethikkomitee
c/o Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Medizinische Fakultät, Leipziger Straße 44,
39120 Magdeburg
E-Mail (Sekretariat): Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Tel.: 0391/67 24 340, Internet: https://get.med.ovgu.de/

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