Ethische Fallberatung kann bei schwierigen Entscheidungssituationen in der gesundheitlichen Versorgung Unterstützung leisten. In solchen Fällen lässt sich das weitere Vorgehen meist nicht durch medizinische oder pflegerische Kenntnisse allein bestimmen, sondern bedarf ethischer Kompetenz.
Vor gut 20 Jahren wurde das in den USA entwickelte Konzept der klinischen Ethikberatung in Deutschland aufgegriffen und zunächst von kirchlichen Krankenhausträgern propagiert. Breiteren Einzug in die Praxis erlebte die klinische Ethikberatung jedoch erst durch die entsprechende Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO) im Jahr 2006 und durch die Krankenhauszertifizierung, welche einen qualifizierten Umgang mit ethischen Fragen forderte (ZEKO 2006; Simon 2020).
Doch auch im ambulanten Bereich, sei es in der Hausarztpraxis oder im Pflegeheim, sind Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal oder Angehörige häufig mit ethischen Konflikten konfrontiert. Ethische Konflikte außerhalb des Krankenhauses betreffen häufig Entscheidungen der Therapiebegrenzung, wie beispielsweise das Hinterfragen der (weiteren) Versorgung mit einer PEG-Sonde, die Ermittlung des Patientenwillens, Konflikte mit den Angehörigen oder Fragen bezüglich einer möglichen Therapiezieländerung (Seifart et al. 2018). Vor diesem Hintergrund forderte der 111. Deutsche Ärztetag im Jahr 2008 die Ärztekammern dazu auf, ambulante Ethikberatung anzubieten (BÄK 2008). Zudem rief die ZEKO im Jahr 2020 dazu auf, das bislang nur sporadisch bestehende Angebot der außerklinischen Ethikberatung weiterzuentwickeln und flächendeckend zu etablieren (ZEKO 2020).
Die Aufgaben von Ethikberatung im Gesundheitswesen umfassen:
1) Ethische Fallberatungen
2) Ethische Fortbildungsangebote
3) Entwicklung von Ethik-Leitlinien
Eine ethische Fallberatung ist ein strukturiertes Gespräch der am Konflikt beteiligten Parteien, welches durch einen geschulten Moderator („Ethikberater“) geleitet wird und das Ziel einer gemeinsamen Entscheidungsfindung verfolgt. Nach dem Zusammentragen der medizinisch-pflegerischen Fakten werden die möglichen Handlungsoptionen aufgezeigt und vor dem Hintergrund der individuellen Lebenssituation und der Wertvorstellungen des Patienten abgewogen. Zur ethischen Bewertung können die vier zentralen medizinethischen Prinzipien Autonomie, Wohltun, Nichtschaden, Gerechtigkeit herangezogen werden (ZEKO 2020; Beauchamp und Childress 2019). Ergebnis der Beratung ist idealerweise ein Konsens bezüglich des weiteren Vorgehens, wobei die Verantwortung für die Entscheidung immer bei den (Be-)Handelnden selbst verbleibt. Eine ethische Fallbesprechung kann zur Sensibilisierung gegenüber ethischen Konfliktsituationen beitragen, die ethische Kompetenz für zukünftige, vergleichbare Situationen erhöhen und Kommunikationsprozesse positiv verändern. Allen voran aber wird sie von allen Beteiligten als sehr entlastend erlebt (Thiersch et al. 2018).
Weitere Aufgabe der Ethikberatung ist die Organisation und Durchführung von ethischen Fortbildungsveranstaltungen für Mitarbeitende des Gesundheitswesens, um diese perspektivisch zur selbstständigen Lösung ethischer Konflikte zu befähigen. Bei häufig wiederkehrenden ethischen Konfliktsituationen kann eine Ethikberatung zudem Leitlinien erstellen, in welchen das ideale Vorgehen in vergleichbaren Fällen beschrieben wird (Neitzke 2008).
Es gibt verschiedene Modelle zur Durchführung von ethischer Fallberatung, wobei sich für die außerklinische Ethikberatung an einer Ärztekammer eine Kombination des Delegations- und des Prozessmodells anbietet (LÄK Thüringen 2022).
Bei weniger komplexen ethischen Problemlagen bespricht die anfragende Person den Fall direkt mit einem medizinethisch weitergebildeten Arzt zur Einholung einer fachlichen Zweitmeinung oder mit den Mitgliedern der Ethikberatung (Delegationsmodell). Sind zur Lösung des Problems die Perspektiven aller Betroffenen nötig, sollte eine moderierte Fallbesprechung mit allen am Konflikt Beteiligten – bspw. den Angehörigen, dem rechtlichem Vertreter, den Mitarbeitenden der SAPV, Pflege oder des Sozialdienstes, der behandelnde Arzt – in Präsenz oder virtuell durchgeführt werden (Prozessmodell). Um ethischen Problemen in der außerklinischen Versorgungsstruktur möglichst umfassend zu begegnen, sollte die Möglichkeit der Anfrage einer ethischen Beratung nicht allein Ärzten vorbehalten sein, sondern allen Personen offenstehen (Thiersch et al. 2018).
Anne-Sophie Gaillard
Literaturverzeichnis
- Beauchamp, T. L. & Childress, J. F. 2019. Principles of Biomedical Ethics, New York, Oxford University Press.
- Bundesärztekammer (BÄK) 2008. Beschlussprotokoll des 111. Ärztetags. Ärztetags-Drucksache Nr. VI - 61.
- Landesärztekammer Thüringen 2022. Ambulante Ethikberatung der Landesärztekammer Thüringen – die ersten beratenden Ärzte sind berufen worden. Ärzteblatt Thüringen, 39-40.
- Neitzke, G. 2008. Praxis der Klinischen Ethikberatung. Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch. Stuttgart: Kohlhammer.
- Seifart, C., Simon, A. & Schmidt, K. W. 2018. Ambulante Ethikberatung in Deutschland – eine Landkarte bestehender Konzepte und Strukturen Hessisches Ärzteblatt, 4, 238-240.
- Simon, A. 2020. Ethikberatung im Gesundheitswesen. In: Riedel, A. & Lehmeyer, S. (eds.) Ethik im Gesundheitswesen. Berlin, Heidelberg: Springer
- Thiersch, S., Friedrich, O. & Marckmann, G. 2018. Außerklinische Ethikberatung: Eine Evaluation des Angebots in den Landkreisen Traunstein und Berchtesgadener Land mittels Dokumentenanalyse und Befragung von Hausärzten. Ethik in der Medizin, 31, 45-59.
- Zentrale Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer 2006. Ethikberatung in der klinischen Medizin. Deutsches Ärzteblatt, 103, A1703-A1707.
- Zentrale Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer 2020. Außerklinische Ethikberatung. Deutsches Ärzteblatt Online.