Dipl.-Med. H. Thurow
Dipl.-Med. H. Thurow

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

da war er wieder. Herr T. – zum vierten Mal in diesem Monat. Und der Kalender offerierte noch 7 Arbeitstage bis unsere rührige Schwester Rosi mit einem energischen Handstrich das Monatsblatt abreißen würde. Er stand wie üblich mit seiner herzerweichenden „Ich weiß doch auch nicht …“-Mine auf der Türschwelle und schaute sich hilfesuchend im Behandlungszimmer um. Verständnisvoll nickend und noch unter dem positiven Eindruck einer erfolgreich verlaufenden Wirbelsäulenoperation, bot ich ihm zum vierten Mal in diesem Monat den Platz mir gegenüber an. Wie von einem imaginären Startschuss befreit, begann Herr T. noch im Stehen auch schon mit seiner umfangreichen Anamnese. Der vierten in diesem Monat. Das hatte er wohl entweder vergessen und verdrängt oder es schien mit seinem medizinischen Weltbild von einem immer und überall helfenden Arzt als durchaus vereinbar, dass er sein offensichtlich üppiges Zeitkontingent mit dem meinen verwechselte. Das Wartezimmer war voll. Mitunter auch mit Patienten, die seit vier Jahren nicht mehr bei mir waren und denen es deshalb mutmaßlich wirklich schlecht zu gehen schien. Natürlich trug Herr T. ein seiner Meinung nach quasi hoffnungslos erscheinendes Krankheitsbild vor, dessen jetziges Auftreten nach den umfangreichen Untersuchungen der drei vorangegangenen Besuche in einem sich eigentlich fast ausschließenden Verhältnis stand. Ich nutzte eine der seltenen Pausen zwischen seinen Diagnoseversuchen, um den flüchtigen Gedanken an Molières „Der eingebildet Kranke“ nachzuhängen. In Herrn T.'s Fall handelte es sich augenscheinlich nicht um einen eingebildeten Kranken angesichts seiner Ignoranz für die Belange der Mitmenschen im vollen Wartezimmer.

Liebe Kolleginnen und Kollege, diese kleine überspitzte Geschichte steht sinnbildlich dafür, dass die Effizienz unseres Gesundheitswesens mitunter auch von Faktoren abhängt, die von uns Ärzten nicht immer beeinflussbar sind.

Wir haben ein Gesundheitswesen, welches – trotz aller Unkenrufe von Permanentnörgeln – eines ist, das den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Nicht immer effizient, aber immer menschlich. Sicher ist es müßig, darüber zu streiten, ob durch eine erhöhte Selbstbeteiligung mehr Druck auf den Patienten ausgeübt und somit vielleicht sogar eine Effizienzsteigerung des Systems erreicht werden kann. Wer mehr will, muss mehr oder öfter bezahlen. Quasi der Beginn der medizinischen Marktwirtschaft. Und: vielleicht überlegt sich Herr T. dann ja, ob ein erneuter Arztbesuch wirklich notwendig ist!? Eines ist jedoch gewiss: Ich mag ihn mir trotzdem nicht in einem Gesundheitswesen vorstellen, welches durch einen Regierungswechsel à la USA von heute auf morgen zerschlagen werden kann. Obama-Care scheint gescheitert, noch bevor es seine Richtigkeit nachweisen konnte.

Wir wissen alle nicht, was jetzt kommt. Wir wissen nicht, wie das Gesundheitswesen der USA aussehen wird, dass der neue Präsident der Vereinigten Staaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Weisheit letzter Schluss propagieren wird. Vielleicht auch deshalb nicht, weil wir uns zu wenig in die amerikanische Seele hineindenken und -fühlen können. Sicher ist die Auffassung „Du musst für Dich selbst sorgen“ ausgeprägter und tiefer verwurzelt im Denken und Handeln der amerikanischen Bevölkerung als wir uns das vorstellen können. Mag unser Gesundheitssystem auch manchmal fehlerhaft, manchmal unzureichend, manchmal ineffizient oder bald nicht mehr finanzierbar erscheinen: eines ist es, im Vergleich zu Amerika, jedenfalls: solidarisch. Ein Blick über den Tellerrand kann uns auch vermitteln, dass der unsrige gar nicht so schlecht gefüllt ist. Kritisch und produktiv streitbar zu sein, sowie aufrichtigen Gedankens, Verbesserungen einzufordern, ist das hoffnungsvolle Grundprinzip für jede gute Entwicklung. Sicher, aber auch Gutes zu sehen und zu pflegen, kann motivieren und vorantreiben.

Lassen sie uns dieses, unser solidarisches Gesundheitssystem bewahren und noch effizienter aufstellen. Aber immer solidarisch! Auch beim fünften Besuch von Herrn T. in diesem Monat.

Dipl.-Med. H. Thurow
Geschäftsstelle Dessau