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Zu Beginn des Jahres wurde eine Umfrage unter Studierenden der Medizin veröffentlicht, welche in regelmäßigen Abständen erfolgt. Sie wurden befragt, wie sie sich ihr zukünftiges Berufsleben vorstellen können. Für die meisten der Befragten war die entscheidende Frage, wie sich Beruf und Familie vereinbaren lassen. Somit können sich ca. 90 % im späteren Berufsleben ein Angestelltenverhältnis vorstellen. Die Hauptargumente für diese Entscheidung sind die überschaubaren Arbeitszeiten und der Austausch mit Kollegen, die Hauptgründe gegen eine Niederlassung sind die überbordende Bürokratie, das finanzielle und Regressrisiko.
Seit über 20 Jahren bin ich in der Niederlassung in einer Gemeinschaftspraxis tätig. Die Balance von Arbeit und Familie war damals kein Entscheidungskriterium für mich oder hatte zumindest keine so große Wertigkeit. Die eigene Praxis, die Arbeit als Freiberufler war das erstrebenswerte Ziel. Ich wollte eigenständig arbeiten, unabhängig sein, selbstständig entscheiden, wie ich meinen Arbeitsalltag gestalte, wieviel Freizeit ich habe, mit wem ich arbeite. Dies alles beflügelte meinen Mut und ließ manche Bedenken in den Hintergrund treten. Dass es ganz so einfach nicht ist, merkte ich bald: Suche nach geeigneten Räumen, deren Umbau, Verhandlungen mit Banken, Einrichtern und Vermietern, Suche nach passendem Personal. Schlechte Berater gab es zuhauf. Kaum jemand kannte sich aus – also blieb nur der viel zitierte Sprung ins kalte Wasser.
Heute, nach über 20 Jahren, weiß ich, dass manches von mir zu kurz gedacht war und ich mache mir, angesichts dieser aktuellen Umfrage, Gedanken über das Pro und Contra der Niederlassung. Auf der Negativseite stehen bei mir, ähnlich wie auch in der Befragung, der große Arbeits- und enorme bürokratische Aufwand und der damit verbundene Freizeitverlust, gefolgt von der unausweichlichen Bindung an Miet- und Versicherungsverträge und damit an die einmal getroffene Entscheidung.
Nicht zu vergessen ist das wirtschaftliche aber auch gesundheitliche Risiko der Selbstständigkeit. Kein Wunder, dass sich nur ein paar Prozent der Befragten für eine Einzelpraxis entscheiden würden. Auf der Pro-Seite steht ganz oben die Eigenständigkeit, das selbstbestimmte Arbeiten, die Entscheidungsfreiheit: bei der Auswahl der Mitarbeiter, bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsalltages, in Grenzen auch die Höhe des Arbeitspensums.
Bei der Niederlassung heute bieten sich viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten als vor 25 Jahren, z. B. ist die Teilung eines KV-Sitzes möglich, das Nebeneinander von Niederlassung und Anstellung oder die Beschäftigung von Kollegen. Damit können insbesondere Ärztinnen in der Lage sein, Beruf und Familie gut „unter einen Hut“ zu bringen. Somit relativieren sich manche Nachteile der freiberuflichen Tätigkeit wieder.
Der derzeitige Trend ist jedoch laut Niederlassungsanzeigen die Anstellung in einem MVZ, die Eröffnung bzw. Übernahme einer inhabergeführten Praxis ist da eher die Ausnahme. Hier wird die freie, selbstbestimmte Berufsausübung zugunsten der Flexibilität der Lebensplanung und der Sicherheit geopfert. Hält dieser Trend an, dann sind die Freiberufler unter uns vielleicht bald die Ausnahme.
Ich fühle mich in meiner jetzigen Situation, niedergelassen und in einer Gemeinschaftspraxis tätig, wohl und bin zufrieden. Aber ich muss mir am Ende meiner Überlegungen eingestehen, dass ich, stünde ich heute am Anfang meiner beruflichen Laufbahn, eine Niederlassung zumindest viel gründlicher überdenken würde.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Monat Mai!
Dipl.-Med. Holger Thurow
Vorsitzender der Geschäftsstelle Dessau
der Ärztekammer Sachsen-Anhalt