Prof. Dr. Walter Brandstädter
Prof. Dr. Walter Brandstädter
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Im Bundestag wurde am 16.01.2020 die „Erweiterte Zustimmungslösung“, wobei jede Organspende eine Zustimmung voraussetzt, mit 432 gegen 200 Stimmen angenommen. Die Widerspruchslösung wurde damit abgelehnt. Dabei gibt es keine Gewinner wie man lesen konnte – nur Verlierer: Kranke auf der Warteliste. Eine große Chance wurde vertan, dafür statistisch belegbares, demokratisch legitimiertes Sterben auf der Warteliste fortgeführt.

Mit der Wende hat nicht nur die Treuhand Trittbilder in der Wirtschaft hinterlassen, sondern auch in anderen Bereichen bemühen wir uns im Sinne einer vernünftigen Beseitigung dieser Konturen und Schäden um die weitere innere Einheit in Deutschland. So wurde der uralte Begriff der Poliklinik verteufelt, weitgehend eliminiert und durch das zeitgemäß inhaltlich modernisierte medizinische Versorgungszentrum ersetzt. Gelebte Gegenwart, wie es im Interesse der Patienten gehen kann, bei allen Problemen. Andererseits gab es wieder „Blutbanken“, die in der DDR durch staatliche Regelungen 1962 die Bezeichnungen „Blutspendezentrale“ oder „-Institut“ führten. Zufall oder getrübter Weitblick? Ich zitiere aus dem Standardwerk „Physiologie und Klinik der Bluttransfusion“ von H. Möller (1960) „die amerikanische Bezeichnung ‚Blutbank‘ wird bei uns allgemein abgelehnt. Das Blutbanksystem ist nach dem Prinzip einer Bank eingerichtet mit Kontenführung über ‚Blutschuld‘ und ‚Blutkapital‘. Jede Blutkonserve muß vom Empfänger bezahlt werden, oder durch die Blutspende eines Angehörigen oder Bekannten abgegolten werden“. Dort wollten wir nie hinkommen – weder mit Blut, noch mit Organen – und nach Möglichkeit auch die Organspende von lebenden Angehörigen vermeiden.

Unverständlich bleibt die weitere Entwicklung der Organspende mit der Zustimmungslösung. Es ist nicht zu verstehen, wie Deutschland mit 11,2 Organspendern/1 Million Einwohner an letzter Stelle der europäischen Länder (Spanien 48/1 Million) steht und schamlos als Organschuldner Organe anderer Länder mit Widerspruchslösung transplantiert. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation berichtet für 2018 über 3113 postmortal gespendete Organe bei 9697 benötigten Organen nach Wartelisten. Durchschnittlich 3,3 Organe pro Spender (955 insgesamt) wurden entnommen und transplantiert. Die Zahl der postmortalen Organspender ist im Vergleich 2018 und 2019 von 955 auf 932 gesunken. Dieses zeigt, dass die ab 01.04.2019 in Kraft getretene sinnvolle Änderung des Transplantationsgesetzes zur Regelung im klinischen Bereich (Transplantationsbeauftragte, Entnahmekrankenhäuser, Rufbereitschaft, Dokumentation, Angehörigenbetreuung) (bisher) keine Wirkung gezeigt hat. Die moralischen und rechtlichen Bedenken zur postmortalen Organspende haben Deutschland in eine nicht vertretbare Lage gegenüber den Patienten auf der Warteliste geführt. Mehr als 20 Länder in Europa arbeiten erfolgreich mit der Widerspruchslösung und versorgen auch Deutschland. Dem hatte sich 1975 die DDR angeschlossen. Bereits 2007 hat der Nationale Ethikrat die Einführung einer Widerspruchslösung empfohlen. In Deutschland gilt die Entscheidungslösung und damit das statistisch vorhersehbare, demokratisch legitimierte Sterben auf der Warteliste weiterhin.

Man kann Probleme gewissenhaft lösen oder, in geisteswissenschaftlicher Überhöhung verantwortungsvoll beschreiben, zerreden, aussitzen, alles ist möglich, aber nicht auf Kosten der Patienten auf der Warteliste. Diese Patienten haben im Parlament offensichtlich keine ausreichend einflußreiche Lobby, so scheint es im Moment zu sein. Bei späteren Analysen zur Politikverdrossenheit, dem Schwund des Glaubens an die parlamentarische, demokratische Wirklichkeit, oder den Kirchenaustritten in der Zukunft sollte man das gesellschaftliche Gedächtnis nicht unterschätzen.

Möge die jetzt geltende, sachlich im bisherigen Endergebnis unbegründete „Erweiterte Zustimmungslösung“ zur Organspende sehr schnell erfolgreich sein. Wir werden im medizinischen Bereich arbeiten, wachsam sein und solange für die uns anvertrauten Patienten streitbar bleiben, bis eine humane, dem wissenschaftlichen Stand entsprechende optimale Therapie erreicht wird. Meine Bilanz dazu: Vermögendes Deutschland, Armes Deutschland.

Prof. Dr. Walter Brandstädter
Ehrenpräsident der Ärztekammer Sachsen-Anhalt