Grundlage für Diagnostik, Therapieplanung, Therapieüberwachung, Therapieverlaufskontrolle und als Instrument zur Qualitätssicherung
Artikel im Original erschienen in: Heggenberger, Reiner H. (Hrsg): Geriatrie-Report – Forschung und Praxis in der Altersmedizin 02-2014, S. 5ff.
Entsprechend der demografischen Entwicklung wird der Anteil der hochbetagten und pflegefallgefährdeten Patienten in den nächsten Jahren zunehmen. Deshalb ist das Bundesland Sachsen-Anhalt besonders betroffen. Mit der Einführung des Facharztes für Innere Medizin und Geriatrie wurde dieser Entwicklung in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin bereits Rechnung getragen.
Die demografischen Erfordernisse werden die sozialen Unterstützungssysteme herausfordern, insbesondere die niedergelassenen Ärzte, insbesondere Hausärzte sowie die anderen Gesundheitsberufe.
Einsatzmöglichkeiten und Testinstrumente
Die Durchführung des geriatrischen Assessments findet in den ambulanten Praxen in noch nicht ausreichendem Maß Anwendung, obwohl erlösrelevant. Es kann auch von den Mitarbeitern der Arztpraxen realisiert werden, denkbar wäre die Durchführung auch in Praxen für Logopädie, Physio- oder Ergotherapie. Zusätzliche EBM-Ziffern (Hausärztlicher Geriatrischer Betreuungskomplex) werden gerade eingeführt.
Das Ziel eines autonomen, selbstbestimmten Lebens in einer gewohnten Umgebung (bis zuletzt) muss unter Ausnutzung der gegebenen sozialen Unterstützungssysteme gewährleistet werden. Der erste Schritt hierzu ist die Erkennung der Defizite, aber auch der Ressourcen. Der Einsatz des geriatrischen Assessment sollte routinemäßig erfolgen, um diese Defizite frühzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen frühzeitig in die Wege leiten zu können. So wären z. B. bei Erkennung von Mobilitätseinschränkungen und Sturzgefährdungen Präventionsmaßnahmen im Rahmen eines ambulanten Rehabilitationssportes indiziert. Für die Verordnung steht das Formular 56 von der KV zur Verfügung.
Kostenloser Download der Assessmentinstrumente unter: www.kcgeriatrie.de (Info-Service Assessmentinstrument in der Geriatrie).
Die geriatrischen Fachabteilungen, welche im Bundesverband Geriatrie Mitgliedseinrichtungen sind, haben eine vergleichbare Strukturqualität, die sicherstellt, dass die bei geriatrischen Patienten auftretenden komplexen Anforderungen sowohl in akutmedizinischer als auch rehabilitativer Hinsicht erfüllt werden können (personelle, räumliche und apparative Mindestausstattung).
Das geriatrische Basisassessment kann auch effektiv in der Qualitätssicherung eingesetzt werden – natürlich auch im Rahmen einer ambulanten Behandlung. Das GEMIDAS-Projekt (Geriatrischer Minimaldatensatz), welches jetzt vom Bundesverband Geriatrie (298 Mitgliedseinrichtungen) als GEMIDAS-Pro in einer moderneren Fassung fortgeführt wird, sichert einen externen Qualitätsvergleich (01/2014 487 220 Datensätze). Aus der Geriatrie entlassene Patienten sind in 70 bis 80 % nach 6 und auch nach 12 Monaten in einem nachhaltig gebesserten Zustand.
Im Rahmen des geriatrischen Assessments wird gefahndet hinsichtlich:
- Alltagskompetenz,
- kognitiver Störungen,
- seelischer Situation (Depressionen),
- Mobilität und
- Sturzgefährdung.
Die Durchführung nach den Vorgaben der Arbeitsgruppe Geriatrisches Assessment (AGAST) umfasst:
- Geriatrisches Screening nach Lachs
- Barthel-Index (Alltagsaktivitäten)
- Geldzähltest (Selbsthilfefähigkeit)
- Handkraftmessung (Sturzgefahr)
- Mini-Mental-State (Kognition)
- Uhrentest (Kognition)
- Timed Up & Go Test (Mobilität)
- Tinetti-Test (Sturzgefahr)
- Depressionsskala (Emotion)
- Sozialstatus
Ergänzend sollte auch ein Schmerzassessment durchgeführt werden (Auswahl der verwendeten Testinstrumente in Abhängigkeit der kognitiven Situation der Betroffenen)
In den folgenden Ausführungen werden mehrere Assessment-Instrumente betrachtet (Selbsthilfestatus, Mobilität, Kognition und seelische Verfassung).
In Form von 5-, 10- und 15-Punkte-Items werden die Patienten hinsichtlich ihrer Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) beurteilt. Eine maximale Punktzahl von 100 deutet auf einen weitgehend selbstständigen Probanden in den ADL hin. Der Barthel-Index wird in der Regel wöchentlich erhoben.
Timed Up & Go Test:
Dieser Test wird von Physiotherapeuten innerhalb der ersten 4 Tage nach stationärer Aufnahme und vor Entlassung durchgeführt. Der Test überprüft die Mobilität, welche z. B. eine Voraussetzung für den selbstständigen Toilettengang bzw. für das Überqueren einer Straße darstellt.
Durchführung:
Die Benutzung eines Hilfsmittels, z. B. eines Gehstockes, ist erlaubt, der Proband sitzt auf einem Stuhl mit Armlehne (Sitzhöhe ca. 46 cm). Nach Aufforderung soll sich der Proband ohne fremde Hilfe erheben, eine Strecke von 3 m gehen, umkehren und sich wieder setzen.
Interpretation:
- < 10 s: Alltagsmobilität uneingeschränkt
- 11 – 19 s: geringe Mobilitätseinschränkung, noch keine Einschränkungen in den ADL
- 20 – 29 s: abklärungsbedürftig, evtl. funktionell relevante Mobilitätseinschränkung
- > 30 s: ausgeprägte Mobilitätseinschränkung, erfordert i. d. R. eine intensive Betreuung und adäquate Hilfsmittelversorgung
Mini-Mental-State:
Mithilfe verschiedener Fragen können die kognitiven Fähigkeiten der Patienten bewertet und eingeschätzt werden.
Durchführung:
Dem Patienten werden der Reihenfolge nach die einzelnen Fragen gestellt und die entsprechende Punktzahl für die einzelnen Bereiche notiert (Orientierung, Aufnahmefähigkeit/Merkfähigkeit, Sprache, Aufmerksamkeit und Rechenfähigkeit, Gedächtnis/Erinnerungsvermögen, Ausführung von dreiteiligen Aufforderungen, Lesen und Ausführen, Schreiben, Kopieren/visuelle konstruktive Fähigkeiten) und am Ende zusammengezählt.
Wichtig ist, den Test in einer ruhigen und ungestörten Atmosphäre durchzuführen. Der Therapeut, Psychologe oder Arzt sollte während des Tests langsam, laut und deutlich sprechen. Der Zeitbedarf liegt im geriatrischen Bereich zwischen 10 bis 20 Minuten.
Beurteilung:
• 24 – 27 Punkte: Grenzbereich (ergänzend Clock-Completion-Test angeraten)
• 18 – 23 Punkte: leichte kognitive Defizite
• 0 – 17 Punkte: schwere kognitive Defizite
Clock-Completion-Test:
Der Uhrentest informiert über wichtige kognitive Aspekte der Demenz (Gedächtnis, exekutive Funktion sowie optisch-räumliche Wahrnehmung).
Durchführung:
Der Patient wird gebeten, in einen vorgezeichneten Kreis die fehlenZahlen/Ziffern einer Uhr von 1 bis 12 einzutragen, danach soll er die Uhrzeiger für die Uhrzeit 11.10 Uhr einzeichnen. Während der Durchführung macht sich der Therapeut Notizen zur Ausführung der gestellten Aufgabe.
Beurteilung:
Für die Bewertung der angefertigten Zeichnung wird das Scoring-System nach WATSON verwendet. Geriatrische Depressionsskala
Zur Erkennung seelischer Auffälligkeiten erfolgt der Einsatz der Geriatrischen Depressionsskala (GDS). Gezählt werden die Kreuze hinter den Fragen.
Beurteilung:
- 0 – 5 Punkte: normal
- 5 – 10 Punkte: leichte bis mäßige Depression
- 11 – 15 Punkte: schwere Depression
Kognitive Einschränkungen sind bei ca. 30 % der geriatrischen multimorbiden vulnerablen Patienten vorhanden. Dafür werden im Rahmen des Geriatrischen Assessments erste Anhaltspunkte gefunden. Eine ausführliche neuropsychologische Testung erfolgt ergänzend im Verlauf. Nicht selten stellt sich eine fortgeschrittene Demenz heraus und bei dann zusätzlich bestehender Schluckstörung bzw. Mangelernährungssituation wird in der Regel im weiteren Verlauf die Frage PEG-Sonden-Indikation diskutiert. Das Legen einer PEG-Sonde bedarf einer klaren medizinischen Indikation und darf niemals aus Gründen der Zeit-, Personal- und Kostenersparnis gelegt werden. Die Ernährung über eine PEG-Sonde ist keine terminale Maßnahme bei Patienten mit infauster Prognose. Ältere, fortschreitend demente Patienten profitieren eher nicht von einer PEG-Sondenanlage. Es gibt keine überzeugenden Hinweise dafür, dass eine künstliche Ernährung über eine PEG-Sonde bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz medizinisch sinnvoll ist.
Aufgrund dieser schwierigen Konstellation ist häufig das Einberufen eines ethischen Konsils bzw. eine ethische Fallbesprechung angezeigt.
Im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung wird dann ein ethischer Diskurs geführt, in welchem man zu einer allgemeinen Handlungsorientierung gelangt. Die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Professionen werden dargestellt. Eine ethische Fallbesprechung ist gelebte Interdisziplinarität. Ziel der Ethikarbeit ist es, durch interdisziplinäre, neutrale, ethische Analyse zur Lösung eines ethischen Konfliktes in einem konkreten Behandlungsfall beizutragen. Das Ethikkomitee eines Klinikums hat die Aufgabe, bei der Suche nach einer ethisch begründeten und für alle Beteiligten nachvollziehbaren Entscheidung zu helfen.
Weiterhin soll ein Ethikkomitee dazu beitragen, Verantwortung, Selbstbestimmungsrecht, Vertrauen, Respekt, Rücksicht und Mitgefühl als gelebte moralische Werte in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Hierbei möchte der Autor auf den Interdisziplinären Studiengang „Medizin, Ethik, Recht“ unter Leitung von Herrn Prof. Lilie an der hiesigen Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verwei-sen. Im Rahmen unserer ethischen Fallbesprechungen ist in der Regel ein Absolvent des Interdisziplinären Studienganges Medizin, Ethik, Recht der MLU Halle-Wittenberg zugegen.
Siehe: http://www.studienangebot.uni-halle.de/de/www/detail/?id=95&#sb
Zum Weiterlesen:
2. überarbeitete Auflage im Mai 2014 erschienen
Kontakt: HELIOS Klinik Lutherstadt Eisleben
Chefarzt Dr. med. Henning Freund
Geriatrische Abteilung und Tagesklinik
Tel.: +49 34 75 90-1650
FAX: + 49 34 75 90-1616
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