Erfahrungen und Anregungen der Berufshaftpflichtversicherung

Iatrogene Schäden von Kindern1 machen meist ganz besonders betroffen. Dies gilt für die behandelnden Mediziner ebenso wie für Eltern, Verwandte, Öffentlichkeit sowie für die Juristinnen und Juristen bei Versicherungen und Gerichten.

Um so mehr ist es gerade auch bei der Behandlung von Kindern notwendig, sich immer wieder für die typischen Fehlerquellen zu sensibilisieren, welche seit vielen Jahren2 immer wieder vorkommen. Die für diesen Beitrag gesichteten Fälle, in denen nach sachverständiger Beratung oder rechtlicher Einschätzung Schadenersatz zu leisten war, zeigen neben besonderen Einzelsituationen typische Fallmuster, die man „im Hinterkopf behalten“ sollte.

Gerade kleine Patienten können keine oder nur diffuse Hinweise zum Krankheitsbild geben. Deshalb spielen bei der Behandlung von Kindern nicht nur Behandlungsfehler durch Abweichen vom Facharztstandard eine Rolle, sondern vor allem auch das Übersehen von Erkrankungen. Der Haftungsmaßstab für eine solche Fehldiagnose schaut wie folgt aus:

  1. Fehlerstufung der Rechtsprechung
    Fehlerstufung der Rechtsprechung
    Die objektive Fehlerhaftigkeit einer Diagnose ist nicht vorwerfbar, wenn die notwendigen Befunde erhoben und schlüssig gedeutet wurden. Eine solche Fehldiagnose führt aber dann zur Haftung, wenn diese zunächst schlüssige Arbeitsdiagnose später – zum Beispiel bei Fortbestehen von Beschwerden – nicht in Frage gestellt wurde.
  2. Eine falsche Diagnose ist schon von Anfang an ein Behandlungsfehler, wenn sie
    1. für einen gewissenhaften Arzt eine unvertretbare Fehlleistung darstellt oder
    2. auf dem Unterlassen elementarer Befunderhebungen beruht.


Die Sachverhalte, die zu einer Haftung geführt haben, haben vielfältige Aspekte. Exemplarisch seien folgende Fälle genannt:

  • Ein 3-jähriger Junge fällt im Dezember in einen ungesicherten Teich. Er erleidet einen schweren hypoxischen Hirnschaden, weil der erste Notarzt lediglich den Tod feststellte und die Wiederbelebung erst 10 Minuten später durch den zweiten Notarzt erfolgte.
  • Bei der Beschneidung eines Jungen amputiert der Urologe versehentlich die Eichel des Kindes. Der Arzt ruft sofort den Notarzt. Eine Restitutio im Krankenhaus misslingt. Beide (muslimischen) Eltern müssen in psychi­atrische Behandlung.
  • Ein Chirurg entfernt bei einem 14-jährigen Jungen nach Palpation einen haselnussgroßen Knoten am rechten Unterarm. Der Patient erleidet einen Dauerschaden durch die später erheblich eingeschränkte Verwendungsfähigkeit der Hand und kann seinen angestrebten Wunschberuf nicht mehr ausüben. Der Arzt hat durch die Entfernung eines zuvor nicht geklärten Neurinoms einen irreparablen Nervdefekt verursacht.
  • Ein 12-jähriger Patient klagt im Anschluss an eine Hydrozephalusoperation, bei der ein  ventrikulo-peritonealer Shunt gelegt wurde, über „Gespenstersehen“. Dieses wird nicht ernst genommen. Laut Gericht ist eine Verletzung berufsspezifischer Sorgfaltspflichten, wenn nicht unverzüglich ein Computertomogramm angefertigt wird und sichergestellt, dass der Patient aus medizinischer Sicht nicht über „wirkliche“ Gespenster klagte. Der Patient ist heute bei vollem Bewusstsein ein Schwerstpflegefall.
  • Der Arzt hat im Rahmen der U 6 grob fehlerhaft die Ausbildung eines Hydrozephalus (Wasserkopf) bei einem Säugling nicht diagnostiziert. Hierdurch ist eine dringend erforderliche Shunt-Operation zunächst unterblieben. Durch den erhöhten Hirndruck kam es zu einer erheblichen irreversiblen körperlichen und geistigen Entwicklungsstörung. Das Kind wird nicht zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sein.
  • Die Eltern stellten ein Schielen ihres Kindes fest. Bei der U 5 und bei anschließenden Vorstellungen wegen Erkältungen riet der Arzt zum Abwarten. Die Eltern suchten im 9. Lebensmonat des Kindes einen Augenarzt auf, der die Verdachtsdiagnose Retinoblastom stellte. In einer Augenklinik wurde festgestellt, dass das rechte Auge infolge der Erkrankung vollständig und das linke Auge zu 90 % erblindet war. Wegen der Gefahr einer Metastasenbildung mussten beide Augen entfernt werden. Laut Sachverständigem gehört es zum Grundwissen jedes Kinderarztes, dass Schielen ab einem Alter von 3-4 Monaten stets behandlungsbedürftig ist, weil es ein Symptom für verschiedene ernst zu nehmende Augenkrankheiten und ein Leitsymptom für die beim Kläger vorliegenden Retinoblastome ist.
  • Postoperativ wird ein massives Nachbluten bis zum Erbrechen koagulierten Blutes nicht erkannt. Auch dann erfolgt noch keine chirurgische Intervention. Später Reanimation, Bluttransfusion, Kind kann gerettet werden, offenbar keine Dauerschäden. Der Sachverständigespricht von „einem kleinen Wunder“.
  • Akute Unterbauch- und Leistenschmerzen bei 14-jährigem Patienten führen zur sofortigen Vorstellung bei einem Allgemeinmediziner. Dort erfolgt keine Befunderhebung/ Inspektion im Genitalbereich. Der Gutachter stellt fest: „Es ist ein nicht nachvollziehbares Fehlverhalten, ohne weitere Untersuchung eine Zerrung zu vermuten“. Folge: Ablatio testis nach Hodentorsion.
  • Ein 12-jähriges adipöses Mädchen klagt über einseitige Knieschmerzen, der Oberschenkel fühle sich „wie Muskelkater“ an. Der Arzt untersucht das Knie und stellt „Wachstumsschmerzen“ fest. Er rät abzuwarten und das Körpergewicht zu reduzieren. Ein Jahr später wird anderweitig eine „Epiphysiolyse ohne äußeren Einfluss“ diagnostiziert. Der Gutachter sieht im Unterlassen einer zielgerichteten Befunderhebung einen schweren Fehler, der aufgrund des späten Behandlungsbeginns mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Coxarthrose führen werde.
  • Es erfolgt die Vorstellung eines 6-jährigen Mädchens beim Kinderarzt. Feststellung diffuser, mehr rechtsseitiger Unterbauchschmerzen, 40 Grad Fieber, keine Abwehrspannung. Der Gutachter urteilt: „Eine Appendizitis war erst gar nicht in Betracht gezogen worden. Hierin liegt ein eindeutiger Befunderhebungsfehler“

Typische Fehler:

  1. Abrissfraktur am Zeigefinger nicht erkannt
  2. Nach Schnittverletzung am Zeigefinger keinen Beugetest
  3. Hüftgelenksdysplasie nicht diagnostiziert (U4+U5)
  4. Hüftluxation auf Sono U3 nicht erkannt, jetzt OP statt  Spreizbehandlung
  5. Blinddarmentzündung / -durchbruch nicht erkannt
  6. Keine Befunderhebung Hodentorsion, ablatio testis
  7. Katarakt bei U2 nicht erkannt
  8. Neugeborenenmeningitis nicht erkannt
  9. Statt Borreliose Erkältung diagnostiziert
  10. Tumor bei U7 nicht erkannt.
  11. Bei U3 nicht auf Kopfgröße reagiert (Hydrozephalus)
  12. Skoliose nicht erkannt
  13. Keuchhusten nicht erkannt
  14. Asthma bei Kleinkind über Jahre nicht behandelt
  15. Diabetes nicht diagnostiziert, unterbliebene Blutuntersuchung
  16. Tiefer Gewebeschaden und Nervverletzung nach Vereisung Fuß
  17. Verbrennung durch Wärmflasche
  18. Hodentorsion nicht erkannt


Bei aller Vielschichtigkeit von Behandlungssituationen und Fehlermöglichkeiten kommen einige Potentiale (die in der Regel von medizinischen Sachverständigen, nicht von Juristen festgestellt werden) in langjähriger Betrachtung immer wieder vor.

In diesem Cluster sind auffällige Schadenthemen angesprochen. Eine Haftung lässt sich hier oft vermeiden, wenn an entsprechende Erkrankungen gedacht und diese ausgeschlossen und dies dokumentiert wurden. Dann, und nur dann, kann eine Diagnose im Ergebnis zwar falsch, aber immer noch vertretbar sein (Beispiel: Appendizitisverdacht hat sich aufgrund konkret sehr schwieriger Diagnostizierbarkeit zunächst nicht bestätigt).

 

Rechtsanwalt Patrick Weidinger

[i]Rechtsanwalt Patrick Weidinger
Abteilungsdirektor der Deutschen
Ärzteversicherung
Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein![/i]

 

 

 

 

 

1 Hier: außerhalb von Geburtsschäden
2 Bereits vor über 20 Jahren ging es in den vom Autor dieses Beitrages bearbeiteten Haftungsfällen immer wieder um Fehldiagnosen bei Appendizitis, Hodentorsion, Epiphysenlösung, Karzinomen, Augenerkrankungen, Schnittverletzungen.