
Auch wenn ich nach einer 3-wöchigen Reise über 4.000 km durch den Wüstenstaat Niger Ende 2020 viele exotische Reiseeindrücke von Nomaden, Tuarek, Hirsebauern, Flüchtlingen oder Kamelkarawanen; vom Airgebirge durch das „Tenere“ nach Bilma; sammeln konnte, so ist doch die allgegenwärtige Armut nicht zu übersehen. Etwa alle 5 bis 10 Jahre (so um 1972, 1983, 2005, 2010 oder 2017) ist mit einer tragischen Hungerkrise zu rechnen. Im September 2020 war der Niger über die Ufer getreten und hatte viele Lehmhütten und Felder zerstört.
In der Weltarmutsstatistik landet der moslemische Wüstenstaat nach HDI regelmäßig auf dem letzten Platz. Die Geburtenrate ist mit 6 bis 7 Kindern pro Mutter die höchste der Welt. Dementsprechend ist der äußerst junge Altersdurchschnitt des Landes mit 15,2 Jahren zu erklären. 80 Prozent der Kinder leiden unter einer Anämie und ca. 2 Millionen Einwohner von 23 Millionen sind von Lebensmittelhilfen akut abhängig.
Die Kindersterblichkeit unter 5 Jahren hat sich in den letzten 30 Jahren etwas verbessert, beträgt aber immer noch um die 8,1 Prozent. Die Haupttodesursachen bei Kleinkindern sind Pneumonie, Malaria, Durchfallerkrankungen und neonatale Komplikationen. Diese Diagnosen konnten wir selbst bei der Durchsicht der Behandlungsbücher des kleinen CIS Hospitals in der Oase „Timia“ im Airgebirge, einem Tuarekgebiet, bestätigen. Malaria ist für 50 Prozent der Todesfälle und 25 Prozent aller Behandlungsfälle verantwortlich. Auch gibt es regelmäßige Ausbrüche von Virusmeningitiden in der Winterzeit sowie von Cholera und Masern. Die Hälfte der Bevölkerung muss von weniger als 2 Dollar am Tag leben und arbeitet zu 80 Prozent in der Landwirtschaft. Das Gebiet beweiden 1,3 Millionen Dromedare und ebenso viele Esel sowie 13 Millionen Ziegen. Eine Nomadin mit mehreren Kindern kann mit 35 bis 50 Ziegen und 3 Kamelen ausreichend Käse und Milch zum Überleben produzieren, wenn ihr Mann genug Hirse, Datteln, Tee, Zucker und Kleiderstoffe aus seiner Karawane aus dem südlichen Hausaland mitbringen sollte. Eine von 16 Müttern überlebt ihre Geburt nicht und wird überwiegend schon im Jugendalter verheiratet. Nur 30 Prozent der Bevölkerung können lesen und schreiben.

Viele Hilfsorganisationen bemühen sich mit Brunnenbau, Ausbildung, Impfstrategien, besserer neonataler Betreuung, Nahrungsergänzungen (wie Vitamin A, Eisen, ORS-Pulver) und Förderung des Stillens sowie Ernährungsprogrammen, die größte Not zu lindern. Ein Arzt kommt auf 20.000 Bewohner.
COVID-19 gibt es auch etwa mit 1.000 nachgewiesenen Fällen im Januar 2021 – allerdings ist die neue Viruserkrankung dort eher medial verbreitet als im Alltag der Sahelbewohner angekommen, welche ja oft schon traditionell dauerhaft einen „MNS“ tragen. Allerdings aus religiösen Gründen und ebenso als nötigen Sand- oder Sonnenschutz. Mein PCR-Coronatest im Hospital regionale de Agadez in der Sahara war natürlich etwas abenteuerlich und kostete 53 Dollar – also den ungefähren Monatslohn eines durchschnittlichen Arbeiters. Daher können sich dort so etwas nur Reiche und Ausländer leisten. Im örtlichen Fernsehen wird deshalb viel Werbung für mehr allgemeine Hygiene gemacht.
Der Missions-Propellerflieger von Niamey nach Agadez wurde wegen covidbedingtem Abzug vieler Missionare eingestellt, was uns 2.000 Zusatzkilometer auf welligen Sandstraßen entlang der gefährlichen nigerianischen Grenzregion einbrachte. Afrika ist ständig unterwegs. Auch unsere Gruppe sah hunderte Flüchtlinge auf wackligen Pickups oder als Mitfahrer auf dem Dach von Wüstentrucks durch die Saharawüste fahren.Einmal floh einer dieser mit 30 Menschen besetzten Schlepper-Pickups vor uns, weil wir unter 12-Mann-Tuarek-Gendarmerieschutz unterwegs waren. Mehrere Personen verletzten sich wohl dabei und blieben im Wüstensand liegen. Eine große Diskussion unter den 6 internationalen Teilnehmern begann. Seitdem Europa mehr Geld für Sicherheitsdienste für die Sahelstaaten ausgibt, ist der Trip ins gelobte Europa schwieriger geworden, weil nun auch unbekannte und korruptionsteure Wege nach Norden Richtung Algerien oder Libyen genommen werden. Ein unterbezahlter Grenzsoldat wird bei seinem Dienstauftrag wohl eher den Schleppern ein Trinkgeld abverlangen, als die Reise zu beenden. Neben afrikanischen Flüchtlingen sind aber auch arme Goldsucher, nomadisierende Stämme und westafrikanische Migranten auf Arbeitssuche in die reicheren nordafrikanischen Ölstaaten unterwegs. Ein Trip zum Mittelmeer soll um die 750 Euro kosten, mehr als ein Direktflug nach Paris aus dem Land. Eine unbekannte hohe Zahl von Geflüchteten bleibt mit untauglichen Fahrzeugen im Sand liegen und viele verdursten dann. Neben diesen um 350.000 bis 500.000 Durchreisenden pro Jahr hat Niger an seinen Grenzen im Westen zu Mali und im Südwesten zu Nigeria und in der austrocknenden Tschadseelandschaft ein neueres Problem. Dort leben nun viele durch Kriegshandlungen der Boko-HaremSekte Vertriebene. Erst im letzten Sommer wurden 6 junge französische Entwicklungshelfer durch diese Organisation bei einem Überfall eines Motorradkommandos getötet sowie Anfang Januar 100 unschuldige Dorfbewohner an der Grenze zu Mali.
Bei meinem Besuch am Tschadsee vor 2 Jahren bestaunte ich die neue Ausrüstung des Militärs mit Kleidung, Geländefahrzeugen und Booten. Deutschland gab 100 Millionen Euro Entwicklungshilfe zur Stabilisierung des austrocknenden Tschadseegebietes. Man erzählte mir, dass auf dem zwischenstaatlichen Markt der Grenzregion, den ich gerade am Charifluss besuchte, sich ein Kind mit Sprenggürtel in die Luft gesprengt hatte – einfach unfassbar. Unsere Reisechefs verhandelten mit dem örtlichen Sultan und dem Militär am Hafenort „Mali“ umsonst, um den berühmten See per Boot besuchen zu dürfen.
Interessant zu lesen sind die Bücher des Deutschen Heinrich Barth, der schon um 1850 die Region als Araber verkleidet erkundete und als einziger von vier gestarteten Europäern überlebte. Seine zeitweiligen Lehmbehausungen in Agadez oder Timbuktu konnte ich schon besichtigen. Herr Peter Fuchs, Ethnologe, schrieb in seinem Buch zum Niger ,,Menschen der Wüste“: „Mit Nomaden leben heißt, lernen und erfahren, dass wir uns umso freier fühlen, je weniger Komfort uns umgibt, je weniger Zivilisationsgüter wir mit uns herumschleppen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen.“
Ich empfehle folgende Literatur zum tieferen Einstieg in diese arme wie faszinierende Region:
- Peter Fuchs „Menschen der Wüste“
- Karl Arenz „Die Entdeckungsreisen in Nord- und Mittelafrika“
- Stephan Schmith „Nach Europa“
- Desiree Trotha „Die Enkel der Echse“
- Paul Stoller „Im Schatten der Zauberer“
- Kilian Kleinschmidt „Weil es um Menschen geht“
PS: Im Januar 2021 organisierte ich die nicht einfache Lieferung eines Malariamikroskopes für die Oase „Timia“. Das gespendete Spezialmikroskop traf nun Ende Januar im Armenhospital ein.
Hilfsmöglichkeiten wie bei MSF, Unicef, See-eye oder andere Organisationen finden sich im Internet. Ich hoffe sehr, dass bei dem derzeit sehr einseitig dominierenden Thema „Corona“ auch die starken wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Krise auf die Ärmsten dieser Welt nicht vergessen werden! Wenn man dort unterwegs sein darf, mit offenen Augen, relativieren sich unsere Probleme etwas.
Dipl.-Med. Martin Steinert
Jessen
Fotos: Autor