
Grönland: Sozialmedizinische Besonderheiten eines Landes in der Arktis
Die Grönländer mit etwa 56.000 Einwohnern (etwa die Einwohnerzahl Wittenbergs) verteilen sich auf einer Fläche von halb Europa oder der 6,1-fachen Fläche Deutschlands. Allein die Küstenlänge der größten Insel der Welt übertrifft um ein Drittel den Erdumfang. Grönland ist nur auf dem Luftweg oder mit dem Schiff an seinen eisfreien Rändern zur offenen See erreichbar. Im Zentrum der Insel beeinflusst eine 2 km dicke Eisschicht unser Klima.
Die mit 80 Kilometern längste Straße haben Amerikaner im Westen durch eine Renntiertundra am Gletscherrand zur Anbindung eines Militärflughafens an das Meer gebaut. Ansonsten ist man auf Bootstransporte, Hundeschlitten und die Künste der Air Greenland-Piloten angewiesen, die im Schneesturm mit ihren rubinfarbigen robusten Dash-Propellerflugzeugen eine oft nur ca. 400 m lange Schotterpiste ansteuern müssen. Wenn es erforderlich ist, transportieren Hubschrauberpiloten auch Schwangere z. B. von Thule ins nächstgelegene Geburtskrankenhaus nach Ilulissat, das 1.000 km südlich von Thule entfernt liegt. Grellgrün angezogene Rettungsassistenten fahren oft nur wenige Kilometer, um ihre Patienten am nächsten Küstentaxiboot zu übergeben oder zum Airport zu bringen.

Im Sommer schwanken die Temperaturen zwischen 17 Grad im Süden bis zum Gefrierpunkt in der nördlichen Baffinsee. Vier Monate vollständige Dunkelheit im Winter wechseln sich mit drei Monaten taghellem Sommer ab. Mir berichtete ein Grönländer von minus 53 Grad Rekordtemperatur im Winter. Transport, Jagd, Internetverbindungen oder Medizin sind hochgradig von den Wetterschwankungen abhängig. Insgesamt 70 Ärzte sind im Land angestellt. In der Einsamkeit halten es viele medizinische Gastarbeiter aus Dänemark oft nur wenige Monate aus. Mein Reiseziel war der nördlichste Ort im Eisland und auf der Welt (nur noch Spitzbergen liegt genauso weit nördlich).
Die Jägersiedlung der letzten Eisbärenjäger und Robbenfänger im winzigen Siorapaluk erreichte ich mit viel Wartezeit erst nach vollen 8 stürmischen Tagen mit Flugverspätungen und nach einer mehrstündigen 80 km langen Bootstour durch Eisfelder hindurch. Geduld muss man in Grönland haben.
Da das Wetter zu windig und neblig für einen Krankentransport zum Geburtskrankenhaus in Ilulissat war, musste auch eine 16-Jährige ihr Kind im nördlichsten Krankenhaus der Welt in Quaanaag (Thule) entbinden – wie mir stolz ihr Vater am Eingang berichtete. Die erste Geburt hier seit 2 Jahren verlief gut; nur der Name des Kindsvaters war nicht bekannt.
Die Zeiten ändern sich. Der Inuit meldet sich nun per Radiofunk bei seiner Familie ab und sieht im Handy nach, wie das kommende Jagdwetter wohl wird, bevor er mit einem uralten Kajak und Speer auf Narwal-Jagd geht.
Die wichtigste Überlebens-Einrichtung in den heutigen kleinen Küstenorten ist das zentrale Öllager. Alle Heizungen, zentralen Energiegeneratoren, Kommunikationsmittel und die Möglichkeit des Auftauens von 30.000 Jahre altem Eis für Trinkwasser im Winter hängen von dieser Versorgung ab. Ebenso vom Versorgungsschiff, das oft nur ein- bis zweimal pro Jahr im Sommer durch das Packeis kommen kann. Bei eiligen Medikamenten kann es eher sein, dass nur der rote Hubschrauber sie per Aluminiumkiste zur Ambulanz bringen kann.
Das typische Grönland-Bad besteht aus einem Plumpsklo mit schwarzem Folienauffang-Eimer und einem Wasserkanister über einem Waschbecken. Alles andere würde sonst sofort zufrieren. Es wummert ein kleiner Ölofen in der Ecke, der oft noch aus einem Ölfass betankt wird. In kleinen, bunt angemalten Holzhütten muss sich oft das ganze Familienleben in nur einem Raum abspielen.
Zehn Prozent des verfügbaren Einkommens wird leider in Alkohol umgesetzt und in der besseren Variante auch in viel Kaffee. Die Folgen für eine intakte Familienkultur sind teils dramatisch. Es gibt intensive Kinderprogramme für vernachlässigte Familienangehörige.

Die Folgen der relativ schnellen Transformation vom indigenen Jägerdasein zur modernen Zivilisation und dem damit zusammenhängenden Kultur-, Arbeits- und Werteverlust sind beträchtlich. Grönland hat einen einmaligen Höchstanteil in der Todesstatistik der Welt von etwa 30 Prozent unnatürlicher Todesursachen. Im Land gibt es eine der höchsten Selbstmordraten der Welt – insbesondere bei jüngeren Männern, wie mir eine Krankenschwester bestätigte. Die Abtreibungsrate ist mit 800 auf 1.000 Geburten besonders hoch. Teenagerschwangerschaften sind ein weit verbreitetes Phänomen und die Gonorrhoe und HIV-Fälle steigen. Tuberkuloseinfektionen sind häufig. Sich in der modernen neuen Welt zu orientieren ist schwer – so hängen überall an den Gesundheitsstationen Plakate zur Aufklärung über Kinderrechte. „Bleib bei Covid und Husten einfach mindestens vier Tage zu Hause, bis du wieder ganz gesund wirst“, steht auf anderen Hinweistafeln. Das wirkt doch sehr sympathisch, finde ich. Immerhin auch 21 Grönländer verloren durch den neuen Virus ihr Leben; über 67 Prozent bekamen eine Impfung dagegen. Die Herausforderung, ein dänisches Sozialsystem auf der Insel zu verwirklichen kostet den dänischen Steuerzahler etwa 8.000 Euro pro Grönländer und Jahr.
Die Wirtschaft des Eislandes hängt zu über 80 Prozent von der Fischerei ab; insbesondere Krill und Heilbutt. Arbeitsplätze sind rar. In den Verwaltungen sind übermäßig viele Leute beschäftigt, auch um die hohe Arbeitslosenrate zu drücken. Tausende junger Inselbewohner ziehen zur Ausbildung nach Dänemark und viele bleiben dann dort für immer. Ganze Jagddörfer stehen nun dadurch leer.
Dafür gibt es auch in kleinen Dörfern mit 60 Einwohnern meist noch eine Zwergschule und eine Gesundheitsstation mit Internetanbindung, Diagnoseprogrammen, Ersthelfern und Medizinischem Lager. In den größeren Ortschaften ab 500 Einwohnern wurden überall kleine ärztlich geleitete Krankenstationen neu gebaut.
Das nördlichste Gelbe Krankenhaus in Quaanaag hat einen Senior-Doktor aus Dänemark und zwei Schwestern sowie einen Toyota RTW mit maximal 6 km Fahrstrecke zu bieten. Auf dem Hausdach wartet das einzige Schneemobil des Ortes auf seinen Notfalleinsatz, umgeben vom Geheul der über 450 Schlittenhunde.

Pro Tag werden 10 bis 15 Patienten versorgt. Die Krankenstation ist mit EKG, Sonografie, kleinem Labor, kostenloser Apotheke, Impfangeboten, Internetanbindung, überschaubarem OP-Saal und einigen stationären Betten wie eine Poliklinik sehr gut ausgestattet. Daneben lag gleich ein neu erbautes Altenpflegeheim in blauer schwedischer Holzbauweise.
Sicherlich ist es eine Herausforderung, für alle Krankheitsumstände von der Geburt bis zum Tod auf einer Flächengröße wie Deutschland in Avannaa, der nördlichsten Provinz Grönlands als einziger Arzt alleine verantwortlich zu sein. Noch kleinere Jägersiedlungen der Umgebung können nur per Hubschrauber-Ambulanz zwei- bis dreimal im Jahr besucht werden, wenn der Patient per Boot oder Holzschlitten nicht mehr transportfähig sein sollte. Alle Patienten, die in den „Kreis“-Krankenhäusern in Ilulissat oder der Hauptstadt Nuuk nicht versorgt werden können, müssen nach Dänemark transportiert werden.
Andere Besonderheiten auf Grönland kann man wegen der Inuit-Ernährung mit Rohfleisch beobachten (100 kg Robbenfleischverbrauch im Schnitt pro Jahr). Es gibt noch Fälle von Trichinosen. Ebenso ist die PCB-Belastung von Meeresraubtieren erhöht, wie mir junge japanische Wissenschaftlerinnen berichteten. Sie untersuchten gerade Wale und Fische auf diese Gifte und wollten auch mir einen Fragebogen zum Fisch- und Walfleischverzehr übergeben.
In der Schule wird in Grönländisch, Dänisch und Englisch unterrichtet, sodass meine Kommunikation mit der jüngsten Generation meist einfacher war, als mit den überwiegend nur einsprachigen Rentnern.
Das medizinische dänische elektronische Patientendokumentationssystem funktioniert, wenn der Strom nicht ausfällt, vermutlich wesentlich besser als bei uns. Ebenfalls war erstaunlich, dass Fahrkarten für Schiffe oder Flugzeuganbindungen fast nur noch im Internet buchbar waren. Selbst der nördlichste Supermarkt des Landes in Quaanaag nahm lieber Kreditkarten als Geld an.
Heiß diskutiert werden Atomkraftwerke, Raketenbunkersystem unter dem Eis sowie eine verschwundene Atombombe – das Amerikanische Erbe in der Gegend um die bestehende Abhör-, Raketen- und Flugplatzanlage der USA in der Thule-Airbase. Einige Einwohner meinten zu mir, dass sie wegen der Strahlenbelastung nun lieber weniger Walross- und Moschusochsenfleisch vom dortigen Tundra-Areal konsumieren würden.
Um allgemeine Gefahren abzuwehren, gibt es an der Nordostküste noch Eisbärpolizisten und die wolfsartigen Grönlandhunde. Diese sind nur als Welpen sehr niedlich und danach eine Gefahr für den grönländischen Nachwuchs, so dass die Hunde im Sommer an Eisenketten gelegt werden sollten. Mir haben sie nur Fleecejacke und Fernglas gestohlen.
Nachdem ich in Ittoqqortoormiit am Cap Topin zweimal auf 70 m von einer Eisbärenmutter angegriffen wurde, lernte ich ein funktionierendes Gewehr, das ich zur Abschreckung bekam, zu schätzen. Auch wenn dieses noch so alt und verrostet war.
Die Klimaerwärmung hat schon seit vielen Jahren Grönlands Norden erreicht. Die winterliche Eisdecke wird dünner und wenn das Packeis fehlt, gehen die örtlichen Robbenbestände für das größte Landraubtier der Erde zur Neige, was die feinen Eisbärennasen für die Gerüche aus Abfallbergen an Wohnsiedlungen empfindlicher macht. Die meisten Siedlungen haben einfach nur 1 bis 2 km weiter am Ortsrand einen großen schnell wachsenden Abfallhaufen von unserer modernen Zivilisation angehäuft; bis der Schneefall alles schnell wieder zudeckt.
Trotz aller Schwierigkeiten erreichen Grönländer ein Durchschnittsalter von 70 Jahren. Ich übernachtete per Zufall in der Hütte der über 83-jährigen Tochter des Inuit-Jägers „Eidervogel“. Er war einer der Inuit-Begleiter des berühmten Polarforschers Rasmussen auf dessen
5. Thule-Expedition vor 100 Jahren. Rasmussen erkundete auf der mit 18.000 Kilometer längsten Hundeschlittenreise in der Arktisforschung die „Westpassage“ von Thule über die Baffinsee, die Hudson Bay über Kanada und weiter über Alaska bis hin zur Beringstraße vor Russland. Damit besuchte Rasmussen alle 4 bestehenden Inuit-Hauptgruppen und ist der Begründer der Ethnografie der indigenen Völker des nördlichen Polargebietes.
Die Inuit-Mentalität gefällt mir. Man wird erstmal 15 Minuten mehr geduldig abwartend beobachtet. Nach positiver Gesamteinschätzung wird das Eis gebrochen und schon bald wird man so behandelt, als würde man bereits ein langjähriger Freund sein – untermauert mit etwas grönländischem Witz, einem verschmitzten Lachen, gezuckertem Kaffee oder frischem Robbenfleisch. Dort „Oben“ ist die Natur einfach großartig.
Die Wunderwelt der Eisberge und die dort seit 4.500 Jahren lebenden Ureinwohner und ebenso die heutigen Mediziner verdienen meinen vollen Respekt.
Was sagte doch ein Touristenportal von Greenland „Redet einfach mit den Einheimischen und nicht über sie“ – sehr richtig!
P.S : Auch der deutsche Polarforscher Arved Fuchs, der mir vor Jahren in Ost-Greenland begegnete, konnte im August 2022 von seinem berühmten Holzsegelkutter auf dem Weg ins immer kalte Wunderland vor Island dank moderner Medizin mit operativer Darm-Versorgung und den Möglichkeiten moderner Kommunikation von nordisch-isländischen Ärzten gerettet werden. Der bekannte Polarforscher Knud Rasmussen hatte alle sieben langjährigen Polarexpeditionen gut überstanden, bis ihm eine Lebensmittelvergiftung dann doch den Tod brachte. Seine Bücher sind immer noch sehr lesenswert, wenn man einen Arktischen Reisetraum, einmal im Leben dort zu sein, umsetzen sollte.
DM Martin Steinert
Arztpraxis Klöden, Kreis Wittenberg
verwendete Literatur:
- Rolf Lindemann: „Grönland – Perspektiven eines Entwicklungslandes in der Arktis“
- Laenderdaten.info: „Gesundheitswesen in Grönland“
- Arved Fuchs: „2018 zu Besuch im Krankenhaus Quaanaag, Dr. Vitt“
- Knud Rasmussen: „5. Thuleexpedition 1921-1923“
- Markus Bühler-Rason: „Vanishing Thule“ ausführliche kulturelle Infos und Jagdaspekte zu Thule
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