Tagebuchnotizen eines Seelsorgers aus den Pfeifferschen Stiftungen vom 7. Juni 2013
Freitag 7. Juni:
Um 10 Uhr erhalte ich vom Vorsteher die Nachricht, dass die Pfeifferschen Stiftungen geräumt werden. Von da an erfahre ich etwas, was ich in dieser Weise in meinem Leben noch nie erlebt habe: Die Mitarbeitenden sind vorbereitet. Alle Evakuierungslisten liegen seit Tagen aktuell bereit. Alle Evakuierungsorte sind ebenfalls einbezogen und weitgehend vorbereitet.
Das ist die rationale Seite. Und es ist großartig, dass zunächst diese Seite funktioniert. Daneben und darunter weit aufgerissene Augen.
Schwester I. packt die wichtigsten Habseligkeiten von Herrn T. auf der orthopädischen Station in Windeseile in einen blauen Müllbeutel.
„Unser Haus in Biederitz hatte doch 2002 auch direkt am Wasser gestanden. Keinen einzigen Zentimeter mehr darf es diesmal werden.“
Frau G. auf der internistischen Station fragt alle 3 Minuten: „Weiß meine Tochter, wo ich hinkomme.“ Alle erklären es ihr bejahend. Drei Minuten später die nächste Frage: „Weiß meine Tochter..“ Und wieder drei Minuten später schon wieder.
Nach etwa einer Stunde liegen alle Patientinnen und Patienten bepackt, beschildert und mit Namensschildern beklebt auf und an den Fluren. Die anderen sind bereits entlassen. Oder die anstehende Operation ist für die Zeit nach der Flut verschoben.
Aber selbst bei nur noch 80 Patienten wimmelt es im Krankenhaus vor blauen und weißen und roten und gelben Kitteln, als ob das Krankenhaus bis unter das Dach voll sei.
„Wir haben es von den Mitschülern über Twitter erfahren“, sagt mir Schülerin G., sichtlich stolz, dass sie nun mit anpacken kann.
Ich verlasse kurzzeitig das Krankenhaus, um in den anderen Bereichen nachzufragen.
Die ersten Bewohner des Johannesstiftes, Menschen mit dem, was wir gemeinhin eine „schwere Behinderung“ nennen, sitzen unter Sonnensegeln vor ihrem Haus.
„Auto?“ fragt mich G. aus ihrem Rollstuhl heraus.
„Urlaubfahrn, Urlaubfahrn“, ruft T. mit allerdings etwas auffällig ängstlicher Stimme, die nicht so ganz zu „Urlaub“ passt.
Die vielen langjährigen Mitarbeitenden der Behindertenhilfe schauen mich fast lakonisch an: „Wir sind jetzt die Spezialisten in Deutschland. 2002 hatten wir das doch auch schon.“
Im Haus Mechthild, einem der drei Altenheime, zieht mich die Hausleitung auf mein Nachfragen nach Unterstützung gleich mit in den zweiten Stock.
„Nehmen Sie mal hier Bettzeug von Frau T. mit. Und hier, von Frau G. gleich mit.“
Alte Damen und Herren sitzen noch in ihren Stühlen rund um den Mittagstisch. Die Mitarbeitenden reichen ihnen das Essen, die alte Uhr schlägt. Jemand singt, jemand anders erzählt vor sich hin. Es ist wie jeden Tag. Oder?
Eine alte Dame hält mich, das Bettwerk unter beiden Armen, den Weg sperrend fest: „Ich ziehe hier nicht aus. Nicht noch einmal. Ich ziehe hier nicht aus. Nicht noch einmal. Ich..“
Irgendwie bahne ich mir mit dem Bettwerk recht un-empathisch an der Dame den Weg vorbei.
In einem anderen Altenheim, dem Martin-Ulbrich-Haus, steht man vor der Aufgabe, 13 Wachkomapatienten zu verlegen.
Das nahegelegene Oscherslebener Krankenhaus hat sich bereit gefunden für die vorübergehende Aufnahme.
Die Mitarbeitenden sprechen ihre Dienste ab, wer noch alles aus dem Urlaub zusätzlich kommt. Es geht alles unglaublich professionell. Nein, einen Pfarrer brauche man jetzt hier nicht, sagt man mir sehr freundlich.
In der Zwischenzeit sind die Dutzenden von Krankenwagen vorgefahren. Herr V. wird aus dem ersten Stock von beherzten Johannitern gen Lostau heruntergebracht. Mit dem nächsten Aufzug fährt ein leeres Bett hoch. Draußen sichert die Öffentlichkeitsarbeit das Krankenhaus vor begehrlichen Bilderhaschern. Die seriösen Medien haben volles Verständnis für den Persönlichkeitsschutz der Patienten in Ausnahmesituationen. Nachdem ich noch einmal in zwei Altenheimen und bei den Menschen mit Behinderungen nachgeschaut habe, finde ich das Krankenhaus abgeschlossen vor. Ein abgeschlossenes Krankenhaus. „Ob wir das so vorfinden in ein paar Tagen wie jetzt?“, fragt mich eine Oberärztin. Sie muss sich abwenden und schnäuzen.
Die Menschen des Johannesstiftes warten mit großer Geduld vor dem Haus. Oder oben in ihren Wohngruppen.
N. allerdings sitzt dort ungewohnt kauernd auf dem Flur. „Wir müssen jetzt als Mitarbeitende Ruhe und Ruhe bewahren,“ sagt mir die junge Heilerziehungspflegerin. Sie strahlt mich an. Ich spüre ihre Kraft.
„Wir müssen jetzt unsere Augen und unser Herz überall haben,“ sagt die langjährige Mitarbeitende T., bevor sie als letzte in den Bus gestiegen ist und dabei noch einen Rollstuhl kunstvoll unter drei Sitzbänken verstaut hat.
Zwischendurch ein Ohr in ein laufendes Radio, ein Blick ins Internet. Der Pegel steigt und steigt. Die Marke von 2002 ist bereits länger überschritten und kein wirkliches Ende sichtbar.
In der Einsatzzentrale im Vorstandsbereich klingelt das Telefon ohne Unterlass. Angehörige, Rettungsdienste, Presse, erste nachbarschaftliche Hilfsangebote. Und erste beunruhigende Nachrichten aus den Evakuierungsquartieren.
Viele andere Pfeiffer-Kolleginnen und -Kollegen werden an diesem Abend noch sehr lange im Dienst sein.
Wenn Sie die Pfeifferschen Stiftungen unterstützen möchten, können Sie spenden unter:
KD-Bank (Bank für Kirche und Diakonie)
Konto-Nr. 155 355 4019
BLZ 350 60 190
Stichwort Hochwasser
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!
Vorsteher Christoph Radbruch
Pfeiffersche Stiftungen
Rückfragen bitte an:
Ulrike Petermann
Leiterin Unternehmenskommunikation
Pfeiffersche Stiftungen Magdeburg
Tel.: 0391 / 8505 - 317,
Fax: 0391 / 857814; E-Mail:
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I Pi Pfeiffersche Stiftungen
Am 13. Juni 2013 bekam die Redaktion des Ärzteblattes folgende Pressemitteilung der Pfeifferschen Stiftungen:
Derzeit läuft die Rückführung der Evakuierten auf das Gelände der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg-Cracau. Ab Samstag, 15. Juni, nimmt das Krankenhaus in den Pfeifferschen Stiftungen seinen allgemeinen Betrieb wieder auf - evakuierte Personen kehren zurück auf das Gelände. Sekretariate, MVZ und die Werkstatt für Menschen mit Behinderung nehmen bereits am Freitag die Arbeit wieder auf...