Mangelversorgung der Patienten mit traumaartigen Belastungen und Abhängigkeitserkrankungen
Dr. med. Dr. phil. Klaus von Ploetz, Barbarossa-Klinik GmbH & Co. KG Kelbra
Die ungenügende professionelle Behandlung von Abhängigkeitserkrankten mit traumaartigen Belastungen im Gesundheitssystem der Bundesrepublik bleibt weiter eine gravierende professionelle Versorgungslücke.
Die Barbarossaklinik Kelbra hat deshalb zu Beginn dieses Jahres eine eigene Abteilung für „Schwerpunkt Psychosomatik bei Abhängigkeitserkrankungen“ eröffnet.
Psychosomatische Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu. Sie sind bei Arbeitnehmern die Ursache von 11 Prozent der Krankheitstage und von rund 40 Prozent der Frühberentungen. Sieben Prozent der Bundesbürger befinden sich in einer Psychotherapie (Tagung DKPM TU München 2012).
Menschen mit psychosomatischen Krankheiten nehmen tendenziell mehr Medikamente ein, fehlen häufiger bei der Arbeit und sind öfter beim Arzt oder im Krankenhaus als andere Patienten. Doch selbst wenn die Mediziner den tatsächlichen Ursachen der Beschwerden auf die Spur gekommen sind, ändert sich daran wenig. Das macht eine durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die gesetzliche Krankenversicherung geförderte Studie deutlich:
Bei jährlich über 630 Millionen verkauften Packungen auf dem Arzneimittelmarkt in der Bundesrepublik, mit einem freiverkäuflichen Anteil von fast 40 % zur Selbstmedikation, ist die Gefahr des Medikamentenmissbrauchs und evtl. dann folgender Medikamentenabhängigkeit recht hoch einzuschätzen. Darüber hinaus gibt es 1,4 Millionen medikamentenabhängige und 1,3 Millionen alkoholabhängige Menschen in Deutschland, davon 30 Prozent Frauen. Etwa 9,5 Millionen konsumieren Alkohol in riskanter (gesundheitsgefährdender) und missbräuchlicher Weise (Bundesdrogenbeauftragte: Suchtbericht 2009).
Es sind besondere Psychodynamiken und auch Diagnosegruppen zu nennen, die statistisch mit einem höheren Risiko zur Entwicklung eines Medikamentenmissbrauchs belastet sind. An erster Stelle sind hier eine Reihe von psychosomatischen Erkrankungen zu nennen, wie z.B. die Somatisierungsstörungen (ICD 10. F 45.X), Schmerzstörungen (ICD 10 F 45.4), Affektive Störungen (ICD 10 F 3X) und auch Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Es sind besonders diese genannten Psychodynamiken, die sich im weiteren Verlauf in einem komplexen Störungsbild zusammenfinden, für die sich der Begriff „Spezifische Komorbidität“ in besonderer Form der Operationalisierung eignet.
Im gleichen Maß gilt dies auch für den Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Auch hier gilt, dass länger vorbestehende Dispositionen zu psychischen Erkrankungen, einerseits aus Belastungssituationen wie aber bei schon bestehender familiärer Vorbelastung, auch hier die Neigung zur Selbstmedikation auftritt. (siehe auch: von Ploetz, K., Smuga, M., Dietsche, S., Löschmann, C. (2009): Rehabilitation von Patienten mit komorbiden Abhängigkeitserkrankungen in der psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb)
Es zeichnet sich damit die Notwendigkeit ab, eine deutliche Erweiterung der therapeutischen Aufgaben vorzunehmen, die nun anstelle isolierter Konzepte den gesamten Bereich der Behandlung Betroffener mit einer integralen Therapiekompetenz abdecken.
Neue Abhängigkeitskonzepte
Die neuen Forschungsansätze zeigen, dass der abhängigkeitserkrankte Patient unter einer sehr komplexen Erkrankung leidet, die sein Denken, seine Gefühle und den Körper selbst massivst schädigt. Diese schädigenden Einschränkungen umfassen einerseits die zurückgehende Mentalisierungsfähigkeit der eigenen Situation, zum anderen aber auch die emotionale Nachvollziehbarkeit der verlorengehenden Körperlichkeit sowie das verlorene Erleben und Benennen von Gefühlen als wesentliches Fundament von sozialer Beziehungsfähigkeit (siehe auch: v. Ploetz, Klaus, Rausch, Georg, (2002): Der Umgang mit Zukunftskonsequenzen bei Alkoholikern – Zukunftssensibilität eine neue therapeutische Qualität).
Der Betroffene gerät dadurch in eine Zwickmühle, einerseits kann er nicht mehr ausreichend gut seine Kognitionen einschätzen, da er trotz guter Vorsätze doch wieder rückfällig wird und zum anderen gerät seine körperliche Wahrnehmung in den Bereich, den er nur noch in letzter Konsequenz als Suchtdruck verstehen lernt. Dieser Prozess bewirkt eine Art Selbstorganisation in der Veränderungsmotivation, da Veränderungsanstöße, intern wie extern, eher ausgesperrt werden, durch einen in sich hermetisch wirkenden Zirkel, der durch beide Einschränkungen unterhalten wird. Die Folgen der eintretenden Selbstmedikation mit einer Droge, sei es Alkohol, Psychopharmaka oder sonstige Psychomimetika, verstellt weiter den zur Veränderung notwendigen Reflexionsprozess. Darüber hinaus leidet der Süchtige in einem viel höheren Ausmaß als bisher bekannt unter zuvor erlittenen Belastungen, die sich besonders in schwierigen Lebenslagen, wie familiären Problemen und Arbeitsplatzverlust, vor allem auch in körperlich-seelischen Veränderungen zeigen können, die sein Selbstbild verzerren. In einem jetzt in der Klinik eingeführten Test wird belegt, die Chancen suchtkrank zu werden steigen mit jeder positiv beantworteten Frage eines zehn Fragen umfassenden Fragebogens, der Kindheits- und Jungendbelastungen thematisiert (ACE). Dieser Fragebogen wurde durch V.J. Felitti vom vom Kaiser-Permanente Institut Los Angeles entwickelt. Wer mehr als 5 Punkte hat, muss zudem mit einer Lebenszeitverkürzung von fast 20 Jahren rechnen, dies zeigt die Langzeitstudie von V.J. Felitti (2002).
Es konnte nachgewiesen werden, dass in Korrelation zu der Anzahl belastender Kindheitserlebnisse die Erkrankungshäufigkeit, hier für Alkohol dargestellt, im Erwachsenenalter zunahm. Ähnliches gilt für Drogenabusus.
Bei einer reziproken Korrelation – also der Frage, wie hoch die Quote von als traumatisch empfundenen Erfahrungen bei Suchtpatienten ist – wird dieser Bezug bei Drogenpatienten noch deutlicher als bei Alkoholikerpatienten. Die Barbarossa-Klinik in Kelbra hat jetzt in einer eigenen Studie 2012 ihr Klientel mit dem ACE-Fragebogen auf bestehende psychodynamische Belastungen untersucht.
40 % der Patienten erreichten 0 Punkte. 26 % 1-2 Punkte, 22 % 3-5 Punkte, 12 % 6 und mehr Punkte. Fast zwei Drittel der Patienten haben deutliche psychodynamische Belastungen in ihrer wichtigen persönlichen Entwicklungszeit durchleben müssen, im Gegensatz zur Normalbevölkerung.
In der Umsetzung für die Rehabilitation in der Barbarossa-Klinik Kelbra bedeutet dies, den Patienten nach einer gründlichen Eingangsdiagnostik spezifische Rehabilitationspfade anzubieten.
Die eigentliche Dramatik dieser Patientengruppe zeigt sich aber erst in den notwendigen Anschlussbehandlungen der Patienten mit traumaartigen Vorbelastungen, die oft noch nicht den Grad einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erreicht haben müssen. Es ist in Fachkreisen allgemein anerkannt, dass bei Vorliegen einer traumaartigen Belastung von einer Gesamtbehandlungszeit von 2-3 Jahren auszugehen ist. Trotz guter Anfangsbehandlungen z.B. in einer konzeptuell dafür ausgerichteten Fachklinik, ist üblicherweise in der ambulanten Behandlung von Trauma- Therapeuten das Vorliegen einer Abhängigkeitserkrankung der Ausschlussgrund. Selbst die Trauma-Therapeuten, die die Notwendigkeit einer Weiterbehandlung anerkennen, scheitern in ihren Psychotherapieanträgen an den entsprechenden Gutachtern oder Obergutachtern, die in der Regel den Patienten an eine Fachklinik zurückverweisen möchten, aus der er meist schon zur Weiterbehandlung kam.
Damit ist ein Drehtüreffekt spezifischer Art gegeben, der genau den Patienten, die eigentlich gut auf die professionelle Traumatherapie ansprechen, eine nachhaltige Behandlung verweigert. Angesichts der immer wieder thematisierten demographischen Entwicklung wäre dies ein weiteres Beispiel gesundheitspolitscher Fehlsteuerung. Vorzuschlagen wäre hier die Entwicklung einer spezifischen Leitlinie (AWMF), um diese eklatante Versorgunglücke zu schließen.
Literatur beim Verfasser
Korrespondenzanschrift:
Dr. Dr. Klaus von Ploetz
FA für Psychotherapeutische Medizin
FA für Psychiatrie und Neurologie
FA für Kinder- & Jugendpsychiatrie
Barbarossa-Klinik GmbH & Co. KG
Lange Straße 111, 06537 Kelbra
Tel.: 034651 / 459-0, Fax: 034651 / 459-113
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