Konstanze SchellerScheller K.1, Schubert J.2
1    Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
2    Petersberg, Halle/Saale

Lippen-Kiefer-Gaumenspalten (Cheilognathopalatoschisis, LKGS, Abb. 1, S. 64) und isolierte Gaumenspalten (Palatoschisis, GS) sind in Europa die zweithäufigste angeborene Fehlbildung. So lag die Prävalenz im Jahr 2012 für eine LKGS in Sachsen-Anhalt mit 23 Lebendgeburten (17♂, 8♀) bei 14,7/10.000 Geburten (1/681) und für eine isolierte GS mit 15 Neugeborenen (6♂, 9♀) bei 8,8/10.000 Geburten (1/1.135) (Fehlbildungsmonitor des Landes Sachsen-Anhalts; Götz et al., 2012). Die Auswertung spiegelt auch die bekannte geschlechtsspezifische Verteilung wider, die zeigt, dass Knaben deutlich häufiger von der schweren Form der Spaltbildung, der durchgängigen LKGS (♂:♀ = 2-3:1), und Mädchen häufiger von einer isolierten GS (♂:♀ =1:2) betroffen sind.

Die Häufigkeit des Auftretens von Spalten ist streng vom genetischen Verwandtschaftsgrad abhängig. Das Risiko des Wiederauftretens beträgt bei nahen Verwandten im Wesentlichen summarisch 4,05 % und ist somit gegenüber der Normalpopulation (0,2 %) im Mittel um das 20-fache erhöht. Sie ist mit 8,6 % am höchsten, wenn ein betroffener Vater eine Tochter erwartet und am niedrigsten bei einer betroffenen Frau, die einen Sohn erwartet (Tolarova, 1987). Bei mehreren Betroffenen in der Familie steigt das Risiko noch weiter auf 13–14 % an. Diese Zahlen sind für die genetische Beratung von spaltbetroffenen Familien sehr geeignet (s.u.).

Das Modell des multifaktoriellen Mehrschwellenwertsystems spiegelt die Ätiologie und diese Zahlenabhängigkeiten entsprechend wider: Mikroformen und dentofaziale Anomalien, als Ausprägungen geringgradiger Entwicklungsstörungen, sind deutlich häufiger als die Makroform einer Spaltbildung, und dies wiederum am häufigsten bei Verwandten 1. Grades von Spaltbetroffenen (Abb. 2, S. 64).

Abb. 2: Multifaktorielles Schwellenwertsystem (modifiziert nach Schubert, 1980). Teratogene Faktoren schieben die Verteilungskurven nach rechts und bedingen somit, mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad, ein höheres Risiko für die Entstehung einer Fehlbildung und protektive nach links mit reduziertem Fehlbildungsrisiko.
Abb. 2: Multifaktorielles Schwellenwertsystem (modifiziert nach Schubert, 1980). Teratogene Faktoren schieben die Verteilungskurven nach rechts und bedingen somit, mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad, ein höheres Risiko für die Entstehung einer Fehlbildung und protektive nach links mit reduziertem Fehlbildungsrisiko.

Die genetische Komponente ist bis heute allerdings weiterhin unklar und ein spezielles „Spalt“-Gen konnte trotz erheblicher Bemühungen nicht identifiziert werden.

Das Auftreten einer LKGS stellt nicht nur für die Betroffenen und deren Familien eine wesentliche physische und psychische Belastung dar, sondern ist auch eine ökonomische Belastung für das Gesundheitssystem (ca. 100.000 €/Behandlungsfall). So bedarf die Rehabilitation eines Spaltpatienten unter der Koordination eines Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen einer jahrelangen interdisziplinären Behandlung durch unterschiedliche Fachdisziplinen (Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kieferorthopädie, Kinderzahnheilkunde, Logopädie), um ein gutes ästhetisches und funktionelles Ergebnis zu erreichen.

Letztlich stellt sich nun die Frage, inwieweit eine suffiziente Prävention diese Fehlbildung verhindern kann und wie diese in der alltäglichen Praxis verwirklicht werden kann.

Embryonalentwicklung

Abb. 3: Gesichtsentwicklung eines menschlichen Embryos. Gebiete erhöhter Störanfälligkeit während der Embryonalentwicklung befinden sich entlang der Grenzzone zwischen pros- und dienzephaler (2 bzw. 3) bzw. der rhombenzephalen Region (4), aus der sich im Verlauf die Kieferregion bildet (nach Pfeifer).
Abb. 3: Gesichtsentwicklung eines menschlichen Embryos. Gebiete erhöhter Störanfälligkeit während der Embryonalentwicklung befinden sich entlang der Grenzzone zwischen pros- und dienzephaler (2 bzw. 3) bzw. der rhombenzephalen Region (4), aus der sich im Verlauf die Kieferregion bildet (nach Pfeifer).

Die Gesichtsentwicklung des Menschen findet sehr früh während der Embryonalentwicklung zwischen der 5.-7. Embryonalwoche (33.-60. Embryonaltag) statt. Hier werden Oberlippe und Philtrum, der mittlere Anteil der Oberlippe, durch das Aufeinandertreffen der beiden Oberkieferwülste und des medialen Nasenwulstes gebildet (Moore, 1990). Anschließend vereinigen sich die Oberkieferwülste in der Mitte und bilden durch horizontale Fusion den sekundären Gaumen (Hart- und Weichgaumen). In dieser Zeit ist das Gesicht gegenüber dem Angriff teratogener Einflüsse am empfindlichsten.
So führen Störungen und Verzögerungen dieser Entwicklungsschritte zum Ausbleiben der Verschmelzung an diesen Kontaktstellen (Grenzzonen, Abb. 3) und unterschiedlichste Arten von Spaltbildungen können entstehen (Mossey et al., 2009). Die Kenntnis dieser Entwicklungszeiträume ist somit besonders für präventive Maßnahmen wichtig, da diese möglichst vor der sensiblen (kritischen) Entwicklungsphase einsetzen müssen.

Tierexperimentelle Untersuchungen zur Spaltprävention

Untersuchungen zur Prävention von Spaltbildungen werden an speziellen Mäusestämmen schon sehr lange an der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt.

Hierbei wurden verschiedene Mäusestämme mit einer unterschiedlichen Sensitivität zur Spaltentwicklung ausgewählt. Diese machten es – in Abhängigkeit vom Versuchsziel – möglich, sowohl endogene genetische, als auch exogene (Umwelteinflüsse) und protektive Faktoren, gezielt zu untersuchen. In diesen stets aufeinander aufbauenden Versuchsreihen konnte durch die hochdosierte Gabe von Thiamin (Vitamin B1) während der frühen Schwangerschaft eine deutliche Reduktion und Abschwächung der phänotypischen Erscheinung von teratogen induzierten Spalten (Dexamethason, Cyclophosphamid) erzielt werden (Dostal und Schubert, 1990; Bienengräber et al., 2001; Weingärtner et al., 2006). Die vielfältigen reprozudierbaren Untersuchungsergebnisse bestärkten nunmehr die Vermutung, dass die exogene Komponente der Spaltentstehung durch eine konsequente Vitamin B-Substitution zu verhindern oder in ihrer Erscheinungsform abzuschwächen ist.

Prävention in spaltbelasteten Familien

Das Wiederauftreten einer Spaltbildung in den betroffenen Familien zu verhindern („prevention of recurrence“) zählt seit vielen Jahrzehnten zum Forschungsprofil der Hallenser Kieferchirurgischen Klinik.

Seit Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde, aufbauend auf empirischen Ergebnissen der 1940er Jahre, durch Herrn Professor Dr. Dr. J. Schubert eine prophylaktische Behandlung von Frauen in betroffenen Familien durchgeführt (Hintz, 1987). 1-2 Monate vor einer geplanten Schwangerschaft und während des ersten Trimenons wurden hierzu Polyvitamin B-Präparate verabreicht (Schubert und Krost, 2006). Hierbei kam die bis zu 20-fach erhöhte Tagesdosis von Vitamin B1 (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V., www.dge.de) zur Anwendung.
In der Ergebnisanalyse der behandelten Frauen (2014) fanden sich bei Verwandten 1. Grades zwei Lippenkerben (1980-2005) und eine inkomplette Lippenspalte (bis 2014) unter 107 Lebendgeburten (weitergeführt ab 2006 in Anlehnung an Schubert und Krost, 2006). Betrachtet man nun das empirisch bestimmte Risiko für die Makroform der Spalte ohne Prophylaxe-Maßnahmen, das mit 4,9 % für LKG- und 2,4 % für Gaumenspalten angegeben wird (Tolarová, 1969), lag das tatsächliche beobachtete Risiko de facto bei 0 % und für die Entstehung einer Mikroform bei nur 2,8 %. Aufgrund der sehr geringen Beobachtungsgruppengröße war allerdings leider keine suffiziente Aussage über die Signifikanz möglich.

Die tatsächlich vorhandenen Mikroformen werden allerdings, wie eigene Untersuchungen beweisen, wesentlich höher als 2,8 % liegen, da zu dem ersten Untersuchungszeitpunkt als Säugling alle möglichen Varianten noch gar nicht ausgebildet sind (z.B. die vielfältigen Möglichkeiten von Mikroformen im Zahnsystem). Diese Mikroformen spielen für den Betroffenen de facto keine klinische Rolle, sind aber für die Einteilung der genetischen Komponente in einer Familie und damit für die präventive Beratung für den Kliniker sehr wertvoll.

B-Vitamine

Einige der wasserlöslichen B-Vitamine, wie Thiamin (B1), Folsäure (B9) und Pyridoxin (B6) werden als „kritische Vitamine“ in der embryonalen Entwicklung bezeichnet, da sie nicht speicherbar sind und ein Fehlen dieser Vitamine bekanntermaßen zu Fehlbildungen führt (Gaßmann, 1990). Laut Nationaler Verzehrstudie von 2008 (Nationale Verzehrstudie II: Ergebnisbericht Teil 1. Max Rubner-Institut, Karlsruhe 2008) erreichten ca. 21 % der Männer und 32 % der Frauen in Deutschland die empfohlene Tageszufuhr für Vitamin B1 (Thiamin) und 79 % der Männer und 86 % der Frauen die empfohlene tägliche Zufuhr für Folsäure (Vitamin B9) nicht. Für Vitamin B6 (12 % Männer, 13 % Frauen) und Vitamin B12 (8 % Männer, 26 % Frauen) ist der Anteil der Unterversorgung wesentlich geringer. Da zudem bis zu 10 % aller Menschen heterozygot für Vitamin-abhängige metabolische Störungen sind und 10 % der Schwangeren eine insuffiziente Sättigung von Vitamin B1, B2 und B6 aufweisen, scheint eine konsequente Vitaminsubstitution mit einem Vitamin B-Komplex-Präparat während der Schwangerschaft generell sinnvoll (Knapp, 1970). Für die klinische Anwendung ist allerdings zu beachten, dass eine Normalisierung der Vitaminkonzentrationen im Serum erst nach einer oralen Gabe der 3-fach empfohlenen Dosierung zu erwarten ist (Grimm et al., 1978).
Eine adäquate Vitamin B-Zufuhr während der Schwangerschaft scheint somit eine konsequente Folgerung und auch aus diesem Grund liegt unsere empfohlene präventive Dosis zur Vermeidung von Spaltbildungen bis zu einer Zehnerpotenz über der allgemein empfohlenen Dosierungen. Dies ist für die wasserlöslichen B-Vitamine belanglos, da Überschüsse renal ausgeschieden werden und Nebenwirkungen für diese Vitamingruppe nicht bekannt sind. Im Gegensatz dazu können jedoch Überdosen fettlöslicher Vitamine (z.B. Vitamin A) teratogen wirken, sodass wir die Anwendung von Multivitaminpräparaten, die solche Vitamine enthalten, nicht befürworten können.

Hinsichtlich des Zeitpunkts der präventiven Gabe empfehlen wir diese, möglichst vor Eintritt der Schwangerschaft bis mindestens zur 12. Schwangerschaftswoche durchzuführen, um mit Sicherheit die kritische Phase der Organentwicklung einzuschließen.

Zusammenfassung

Die Präventivempfehlung für Risikofamilien („prevention of recurrence“) stellt einen wichtigen Bestandteil des Gesamtkonzepts der Betreuung von Familien mit Spaltträgern dar, die neben der Erfassung, der Behandlung und der genetischen Beratung in unserer Klinik durchgeführt werden.

Da Polyvitamin B-Präparate in Tierversuchen und in klinischen Studien nachweislich die Entstehung einer teratogenen Spaltbildung im Gesicht verhindern können, ist es bedauerlich, dass es trotz der vielen positiven Erfahrungen bis heute keine detaillierte Empfehlung zu einer B-Vitaminsubstitution in der Frühschwangerschaft gibt („prevention of occurrence“). Eine solche Empfehlung würde derjenigen der Folsäuresubstitution zur Prävention von Neuralrohrdefekten entsprechen (Smithells et al., 1980; Johnson und Little, 2008). Auch wenn die Gesichtsspalten wegen ihrer guten Behandlungsmöglichkeiten nicht das Gefahrenpotential der Neuralrohrdefekte haben, erscheint die Prävention dieser Art der Fehlbildung sinnvoll, und sei es "nur" wegen der erheblichen physischen Belastung Betroffener und aus gesundheitsökonomischer Sicht.

Für Anfragen hinsichtlich der Prävention und Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten stehen wir gerne jederzeit zur Verfügung.

Literatur bei den Verfassern

Korrespondenzanschrift:
PD Dr. Dr. Konstanze Scheller
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und
Plastische Gesichtschirurgie der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ernst-Grube-Straße 40
06120 Halle
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