Teil 1 – aktuelle Möglichkeiten der Gefäßchirurgie

K. Korsake 1 **, U. Barth 2, T. Mildner 3, R. Albrecht 4, A. Udelnow 1, F. Meyer 5 */Z. Halloul 5 *
1 Klinik für Gefäßchirurgie, endovaskuläre Chirurgie und Phlebologie, Städtisches Klinikum Dessau, Dessau-Roßlau
2 Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie, Ameos Klinikum Schönebeck, Schönebeck (Elbe)
3 Klinik für Gefäßchirurgie, endovaskuläre Chirurgie und Phlebologie, Harzklinikum Dorothea Christiane Erxleben, Wernigerode
4 Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Minimalinvasive und Thoraxchirurgie, HELIOS-Klinikum Aue
5 Arbeitsbereich Gefäßchirurgie, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie,
Universitätsklinikum Magdeburg A.ö.R., Magdeburg
*Die beiden Autoren fungieren als gleichberechtigte „senior authors“.
**jetzige Einrichtung: Ambulantes OP Zentrum Bodensee, Radolfzell am Bodensee
Einleitung
Die Gefäßchirurgie als einer der jüngeren Zweige des breit aufgestellten chirurgischen Fachgebiets in der Humanmedizin hat eine stürmische Entwicklung erfahren, wenn man nur an die minimal-invasiven bildgebenden und interventionellen oder auch endovaskulären Ansätze denkt. Auch die konventionelle operative Therapie hat sich durch den Einsatz von verschiedenen Fremdmaterialen und Prothesen enorm entwickelt. Die Bewertung der Gefäßchirurgie mit ihren Chancen und Grenzen ist eine herausfordernde Thematik, die uns im klinischen Alltag allgegenwärtig, unmittelbar und zum Teil unmerklich betrifft. Weitreichende Chancen eröffnen sich durch langjährige Erfahrungswerte und deren Verbreitung. Technologischer Fortschritt z. B. durch minimal-invasive/endovaskuläre Therapien, Hybrideingriffe, Biomaterialien oder Stammzelltherapien führt zu neuen Tätigkeitsfeldern, die wiederum neue Weiterbildungsrichtlinien, Leitlinien und Stufenkonzepte erfordern. Fortschritte in der Intensivmedizin, die enge Verflechtung verschiedener Fachdisziplinen und ein zum Teil durch die Krankenkassen mitfinanziertes Screening erlauben die Anpassung der Gefäßmedizin an die Erfordernisse des demografischen Wandels.
Die wahre Herausforderung ist jedoch, wie wir mit den damit verbundenen Grenzen umgehen. Multimorbidität, Koinzidenzen z. B. durch Tumorerkrankungen sowie Vielfachmedikation führen häufiger zu frühen und späten Komplikationen, die zu behandeln sind. Kostendruck, Vorgaben zur Steigerung der Erlössituation sowie Kapazitätsprobleme können dabei das Machbare eingrenzen. Hinzu kommt häufig eine Diskrepanz zwischen medizinisch Sinnvollem und technisch Machbarem. Ganz entscheidend ist der zu berücksichtigende persönliche oder mutmaßliche Wille des Patienten.
Ziel der vorliegenden narrativen Übersicht ist es, basierend auf
i) selektiv eruierten Referenzen der aktuellen themenbezogenen wissenschaftlichen Literatur,
ii) teils eigenen, teils berichteten klinischen Erfahrungen (und)
iii) spezifischen illustrativen Fallkonstellationen,
ausgewählte Aspekte der neuen Chancen, die den klinisch-gefäßchirurgischen Alltag zunehmend bestimmen, beispielhaft zu umreißen und ethischen, medizinisch-prozeduralen und ökonomischen Grenzen gegenüberzustellen.
Im ersten Teil dieses zweiteiligen Artikels werden eine Übersicht der Entwicklung der Gefäßchirurgie und die aktuellen Möglichkeiten und Grenzen dargestellt. Der zweite Teil in der nächsten Ausgabe des Ärzteblattes Sachsen-Anhalt stellt den Versuch dar, die Zukunft der Gefäßchirurgie sowie auch die Weiterbildungs- und beruflichen Perspektiven der Gefäßchirurgen aufzustellen.
Material und Methoden
Narrative Kurzübersicht mit selektiver Literaturrecherche in PubMed® unter den Suchwörtern „Vascular surgery”, „Therapeutic options”, „Endovascular interventions“, „Center of vascular medicine“, „Multimorbidity“, „Polypharmacia“, „Limitations of care”, teils unter Zurückgreifen auf Sekundärliteraturangaben der eruierten Primärreferenzen.
Ergebnisse (Eckpunkte)
1. Historische Aspekte der Gefäßchirurgie
Nachdem Hallowell beim Menschen im Jahre 1759 [1] die erste Arteriennaht an der durch einen Aderlass verletzten A. brachialis vollzog, ist viel Zeit vergangen. Die Gefäßchirurgie hat sich seitdem stürmisch entwickelt.
Die moderne Gefäßchirurgie begann Anfang des 20. Jahrhunderts mit Alexis Carrel, der 1902 die ersten Gefäßanastomosen beschrieb [2]. 1911 hat Labey aus Frankreich erfolgreich eine arterielle Embolie beseitigt. Den Ersatz der A. poplitea nach Aneurysma-Resektion durch End-zu-End implantierte Vene beschrieb erstmal Goyanes J. im Jahr 1906 [3]. Anfang des Jahrhunderts begannen auch schon erfolgreiche Versuche, einen Ersatz für die A. carotis interna zu schaffen: Alexis Carrel erhielt 1912 den Nobelpreis für die Entwicklung von Gefäßnahttechniken, die ihm schon Organtransplantationen ermöglichten [2]. Der 1915 im Alter von 30 Jahren in Gefangenschaft an Typhus verstorbene deutsche Arzt Ernst Jeger nahm die erste erfolgreiche und dokumentierte Wiedereinpflanzung eines durch Schuss abgetrennten Armes vor. Er schrieb ein Buch, das in erstaunlicher Weise alle heute gebrauchten Naht- und Bypasstechniken schon vorwegnimmt, die von ihm experimentell erprobt wurden [3].
Die Entwicklung der Gefäßchirurgie setzte dann weiterführend eigentlich erst nach dem 2. Weltkrieg ein und schreitet immer noch rasch voran. Mehrere Faktoren ermöglichen erst diese Fortschritte.
1952 wurde zum ersten Mal von M.E. DeBakey bei einem Menschen eine Bifurkationsprothese aus Polyester (Dacron) eingesetzt, die er auf seiner Nähmaschine zu Hause selbst hergestellt hatte. Die Idee des Venentransplantates für die Überbrückung kleinerer Gefäße war schon zu Beginn des Jahrhunderts umgesetzt worden und wurde erst 1949 mit dem ersten femoropoplitealen Venenbypass von Kunlin wiederentdeckt [3].
Die Rekonstruktion der Herzkranzgefäße bis Anfang der 70er Jahre galt als unmöglich. Voraussetzung war die Entwicklung der Röntgendarstellung der Herzkranzgefäße durch Sones 1962 in Cleveland nach dem Prinzip des von Werner Forßmann beschriebenen Herzkatheters. 1964 wurde an der Klinik DeBakey’s zum ersten Mal erfolgreich durch Edward Garrett eine Vene zur Überbrückung eines Herzkranzgefäßverschlusses eingesetzt, was in den folgenden Jahren als Bypassoperation eine eigene rasante Entwicklung nahm. Die Behandlung der Herzkranzgefäßerkrankungen wurde sogar in der neueren Zeit zum Schrittmacher für die Einführung gänzlich neuer Techniken. Die minimal-invasive, vor allem endovaskuläre Gefäßchirurgie mit sich sukzessive erweiterndem Eingriffsspektrum und das bildgebend-/interventionell-radiologische Prozedurenprofil mittels Dehnungsballons, Endarteriektomiekatheter und Stents und neuerdings auch Stentprothesen können als beredte Zeugnisse der erreichten Fortschritte in der Gefäßmedizin dienen.
Mit fortschreitender Technik werden dabei die Grenzen des Machbaren in der Gefäßchirurgie immer mehr erweitert, wobei sich die Grenzen zu den interdisziplinär verbundenen Fächern in der Gefäßmedizin, der interventionellen Radiologie, der Angiologie, Nephrologie, Neurologie und darüber hinaus zu Viszeralchirurgie, Kinderchirurgie, Endokrinologie, Urologie, Gynäkologie immer mehr überlappen.
2. Aktuelle Möglichkeiten und Grenzen der Gefäßchirurgie
Aktuelle Möglichkeiten
Allgemeine Bemerkungen
Durch die fortgeschrittene Technik und die wachsende Erfahrung im Bereich der Gefäßchirurgie scheint mittlerweile vieles möglich zu sein, wobei die Zeit zeigen wird, welche derzeit noch experimentellen Methoden und Techniken
- sinnvoll sind,
- sich auf Dauer durchsetzen (bzw.)
- in einem ausreichenden Risiko-Nutzen-, aber auch Kosten-Nutzen-Verhältnis (auch im Hinblick von Aufwand versus Vergütung) stehen.
Die rasante Entwicklung der Gefäßchirurgie wäre ohne enge Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen, insbesondere mit Radiologie und Angiologie nicht möglich gewesen. Ein zertifiziertes Gefäßzentrum bzw. gefäßzentrumsgleiche Strukturen sind beispielsweise ohne erfahrene interventionelle Radiologie kaum vorstellbar.
Diagnostik/diagnostische Verfahren
- Diagnostik und Therapieplanung mit DSA (Digitale Subtraktionsangiographie), CTA (computertomographische Angiographie) und MRA (Magnetresonanzangiographie) vermag die Gefäße in verschiedenen Projektionen darzustellen sowie statisch und dynamisch zu untersuchen. 3D-Rekonstruktionen haben die Operationsplanung und auch postoperative Bilder genauer gemacht und visuell geeigneter bildhaft wiedergegeben, insbesondere für die Darstellung der abdominalen/thorakalen Gefäßäste, z. B. in der Op-Vorbereitung und letztlich kontrollierenden Darstellung der aortomesenterialen Prothesen.
- Die CO2-Angiographie ermöglicht eine erweiterte Diagnostik auch in den Fällen, wo Kontrastmittel kontraindiziert ist (Niereninsuffizienz, Kontrastmittelallergie).
- Zur Verhinderung einer jodinduzierten Nephropathie oder Hyperthyreose, nephrogen systemischer Fibrose und einer deutlich erhöhten Strahlenbelastung findet die Kontrastmittelsonographie zur Detektion von endoluminaler Undichtheit (Endoleaks) in der postoperativen/-interventionellen Nachsorge zunehmende Verbreitung. Die hochauflösende 3-D-Sonographie und Bildfusion mit der CT-Angiographie bietet die Möglichkeit einer verbesserten Endoleakdiagnostik [4]
Zentrumsstruktur
Für die gefäßmedizinische und damit -chirurgische Kompetenz ist ein Gefäßzentrum bzw. eine gefäßzentrumsgleiche Struktur notwendig. Die anspruchsvolle Diagnostik und Therapie braucht eine enge Zusammenarbeit mehrerer Fachgebiete und so ist die vollständige Gefäßchirurgie im gesamten vorzuhaltenden Versorgungsspektrum in der Peripherie selten realisierbar.
Die Angiologie stellt eine wichtige Säule des Gefäßzentrums dar und unterstützt die Gefäßchirurgie mit Diagnostik und konservativer Therapie sowie auch zunehmend mit interventionellen Verfahren in einem mittlerweile rekrutierten Spektrum, das sich von sonographiegestützter Thrombininjektion in Pseudoaneurysmen bis zu endovaskulären Verfahren erstreckt, die sich mit denen überlappen, die die interventionelle Radiologie vertritt. Die meisten Entscheidungen hinsichtlich Diagnostik und Therapie in der Gefäßchirurgie werden in den interdisziplinären Gefäß(medizin)konferenzen getroffen, zusammen mit interventionellen Radiologen, Angiologen, nicht selten Neurologen, Kardiologen, Kardiochirurgen, Nephrologen und anderen Spezialisten, deren Versorgungsprofil gefäßmedizinische Aspekte und Probleme besitzen.

Abb. 1-3: Bereichsinterne klinische Bilddokumentation (Arbeitsbereich Gefäßchirurgie [Leiter: Prof. Dr. Z. Halloul – Ko-Autor], Klinik für Allg.-, Visz.-, Gefäß- & Transpl.-Chirurgie, Univ.-Klinikum Magdeburg A.ö.R.)
Materialien, Equipment, Prozeduren
Die Entwicklung von Techniken und Materialien führte auch zu Fortschritten der Gefäßchirurgie, wobei das sukzessiv erweiterte „Mögliche“ die Grenzen immer weiter gesteckt hat (Abb. 1: Diverse Stentmaterialien aus dem gefäßchirurgischen Alltag).
Gefäßersatzverfahren entwickeln sich sehr intensiv. Endovaskuläre Techniken wie EVAR (endovaskuläre Versorgung von Pathologien der abdominalen Aorta), TEVAR (endovaskuläre Versorgung von Pathologien der thorakalen Aorta), EVAS (endovaskuläres Aortensealing) [5] ermöglichen große, komplexe Rekonstruktionen der Gefäße, brauchen aber viel Erfahrung.

Abb. 3: Postoperative 3-dimensionale CT-Rekonstruktion nach endovaskulärem Typ-II-„Repair“
Abb. 1-3: Bereichsinterne klinische Bilddokumentation (Arbeitsbereich Gefäßchirurgie [Leiter: Prof. Dr. Z. Halloul – Ko-Autor], Klinik für Allg.-, Visz.-, Gefäß- & Transpl.-Chirurgie, Univ.-Klinikum Magdeburg A.ö.R.)
Endovaskuläre Gefäßmedizin beschränkt sich nicht mehr auf „einfache“ Dilatationen und Stenting (Abb. 2: verschiedene Stentdesigns für [T]EVAR), es werden mittlerweile medikamentenbeschichtete Devices genutzt aber auch neue Techniken, wie z. B. Rotationsthrombektomie und Lyse durchgeführt. Es wird schrittweise möglich, auch Gefäße mit kleinerem Gefäßdurchmesser, z. B. am distalen Unterschenkel, zu rekanalisieren und das Ergebnis langfristig zu sichern. Im Prothesenbereich ist die Entwicklung ebenso sehr rasant. Gefensterte oder gebranchte Prothesen (Abb. 3: Postoperative 3-dimensionale CT-Rekonstruktion nach endovaskulärem Typ-II-„Repair“), insbesondere an der Aorta und ihren Abgängen ermöglichen einen sehr komplexen Gefäßersatz. Bei der Implantation ist jedoch sehr viel Erfahrung und Kompetenz erforderlich. Die notwendig gewordene Planimetrie erlaubt mit Millimeter-Genauigkeit heutzutage, einen sehr variablen Gefäßersatz durchzuführen.
Hybrid-OPs (z. B. Kombination Gefäßchirurgie und interventionelle Radiologie/Angiologie) werden dabei immer mehr zum gefäßchirurgischen Alltag. Das kann die Kosten der Gefäßchirurgie noch weiter erhöhen.
Daneben geht die Kompetenz noch weiter aus der Peripherie in Richtung der Gefäßzentren.
Erfahrungswerte
„Erfahrung ist nicht das, was einem zustößt. Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem zustößt.“ schrieb einst der Schriftsteller Aldous Huxley. Es ist also die Reflexion und Verarbeitung von Erlebtem. Hier kommt es besonders darauf an, das von Ärztegenerationen erarbeitete und übermittelte Wissen mit der wahrgenommenen Realität zu vergleichen, zu korrelieren. Das Sammeln von Erfahrungswerten benötigt eine gewisse Anzahl von klinischen Berufsjahren mit Erfolgen und Niederlagen sowie einer adäquaten Fehlerkultur in der Aus-/Weiterbildung.
„Um aus Fehlern zu lernen, sind offene Diskussionen unter Kollegen wichtig.“ bemerkte J. Schmidli in seinem Beitrag zum Thema „Optimum versus Maximum“ [6]. Dazu eignet sich die Diskussion im Alltag, bei der OP-Planung, am OP-Tisch, bei der Weiterbildung, in der Morbiditäts- und Mortalitätskonferenz, in Fachpublikationen und Vorträgen.
Neue Tätigkeitsfelder
Die endovaskuläre Gefäßchirurgie hat in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung erfahren, die zunehmend die operative Therapie bestimmt.
Während der offen-chirurgische Ersatz für die Versorgung der pathologischen Veänderungen der Aorta ascendens und des Aortenbogens den Goldstandard darstellt, hat sich die endovaskuläre Therapie der Aorta descendens und des Aortenbogens bis zur Zone 2 nach Ishimaru als Therapie der Wahl durchgesetzt [7]. Tsilimparis et al. konnten aber auch nachweisen, dass „branched endografts“ und fenestrierte Grafts zur Behandlung von Hochrisikopatienten mit Aortenbogenpathologien sicher einsetzbar sind [8].
Dieser Trend der endovaskulären Aneurysmaversorgung wird durch Zahlen aus dem DIGG-Register für das Jahr 2014 statistisch unterstützt, wonach 72 % der infrarenalen Aortenaneurysmen endovaskulär versorgt wurden [9].
Auch die Versorgung von Poplitealaneurysmen erfuhr in den letzten Jahren endovaskuläre Alternativen, insbesondere durch die Anwendung flexibler gecoverter Stengrafts. Einen neuen Therapieansatz verfolgen Tessarek und Görtz durch Verwendung von Superastents®, die über die Modulation der Flussdynamik zur intraluminalen Druckreduktion und zur Thrombosierung des abluminalen Aneurysmasackanteils führen [10].
Ein erfolgversprechender Ansatz bei der Behandlung der nichtrekonstruierbaren kritischen Extremitätenischämie scheint die autologe Stammzelltherapie zu sein. Erste Studien und Fallserien konnten eine Stimulierung der Neovaskularisierung ischämischer Bereiche durch Wachstum von Kollateralarterien aus mononukleären Stammzellen zeigen. Es könnte sich daher eine neue Behandlungsalternative ergeben [11].
Das breite Feld der Wundtherapie, insbesondere des diabetischen Fußsyndroms und der chronischen Ulzera cruris, führte in den letzten Jahren zu einer unüberschaubaren Flut neuer und kostenintensiver Verbands- und Wundbehandlungstechniken. Neue Tätigkeitsfelder ergeben sich daher in der Anwendung dieser neuen Techniken, insbesondere auch mit Hinblick auf den wachsenden Druck durch die Zunahme multiresistenter Keime in den zu behandelnden Wunden. Wünschenswert wären Bemühungen für eine studienuntersetzte Ermittlung geeigneter Wundtherapien, um einen (noch weitestgehend fehlenden) Evidenzgrad zu erreichen.
Grenzen der Gefäßchirurgie
Die Grenzen der Gefäßchirurgie liegen weniger im Bereich des Machbaren, sondern in Beziehung zu anderen Aspekten.
Metabolisch
Die steigende Lebenserwartung der Menschen in epidemiologischer Hinsicht und ein ungesunder Lebensstil lassen Gefäßerkrankungen häufiger werden. Nach Daten des DEGS1 (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) sind 67,1 % der Männer und 53,0 % der Frauen übergewichtig [12]. Adipositas ist vor allem bei den Männern deutlich gestiegen. Nikotinabusus liegt bei 20,8 % der Frauen und 27 % der Männer vor [13]. Laut „Deutschem Gesundheitsbericht Diabetes 2017“ liegt Deutschland mit 6,5 Mio. Menschen, die an Diabetes mellitus leiden, an zweiter Stelle im europäischen Vergleich [14]. Nikotinabusus, Adipositas, Dyslipidämie, Diabetes mellitus sind hinlänglich bekannte Risikofaktoren für die arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen [15].
In vielen Fällen sind die Gefäßerkrankungen jedoch nur ein Problem in einem komplexen Krankheitsbild. Die Patienten sind im Allgemeinen schwer beeinträchtigt und krank sowie nicht selten multimorbide. Die meisten Gefäßerkrankungen betreffen darüber hinaus mehrere Gefäße, nicht nur die, die man aktuell interventionell angeht oder operiert. Folglich sind Grenzen also auch jene der möglichen (funktionalen) Inoperabilität durch
- eine älter werdende Patientenklientel,
- Begleiterkrankungen, insbesondere chronische (kardio-pulmonal/-zirkulatorisch, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Leberfunktionsstörungen, Vor-OPs etc.),
- Vielfachmedikation (Allergie, Antibiotika, Unverträglichkeiten, Resistenzen),
- simultane OPs,
- neue Antikoagulantien und deren erforderliches periinterventionelles/-operatives Management (sowie)
- Thrombozytenaggregationshemmer.
Diese Aspekte erhöhen das OP- und Narkose-Risiko um ein Vielfaches, führen nicht selten auch zu überhaupt erforderlicher bzw. längerer intensivmedizinischer Behandlung und potenzieren das periinterventionelle/-operative Morbiditäts- und Letalitätsrisiko.
Demenz, Immobilität, Wachkoma, chronisches Schmerzsyndrom, Versorgungspflicht, Nikotin- und Alkoholabusus lassen beim behandelnden Arzt durchaus auch die Frage der Sinnhaftigkeit und ethische Aspekte aufkommen. Weitere einflussnehmende Aspekte umfassen
- kritische Lebenserwartung,
- Tumorerkrankungen im Endstadium,
- koronare Herzkrankheit (KHK), Z. n. akutem Myokardinfarkt (AMI),
- Arrhythmie,
- transitorische ischämische Attacke (TIA), Z. n. zerebrovaskulärem Insult,
- chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Asthma,
- Raucher,
- Adipositas,
- Diabetes mellitus.
Die Patienten, die an pAVK leiden, bringen immer mehr schwerwiegende Begleiterkrankungen „mit in den OP-Saal“, wodurch die perioperative Mortalität und Morbidität zunehmen [16].
Nicht selten lässt die Compliance der Patienten zu wünschen übrig:
- Der Raucher sollte zunächst erst aufhören zu rauchen!
- Ein Patient mit chronischen Wunden muss erstmal die angeordneten druckentlastenden Maßnahmen und die teils komplexen Begleitmaßnahmen akzeptieren.
Vielfachmedikation
Die häufig multimorbiden gefäßchirurgischen Patienten sind nicht selten typische Fälle der Polypharmazie. Eine Antikoagulationstherapie führt zur Blutungsneigung bei Notfalloperationen, weshalb ein adäquates, nicht selten kostenintensives präoperatives Management, z. B. Substitutionstherapie erforderlich ist. Antidiabetische Therapie und deren Steuerung bei schweren Entzündungen, Operationen usw. kann zu Azidosen, hyper- und hypoglykämischen Zuständen führen.
Eine Niereninsuffizienz setzt ein Fragezeichen vor jede neue Medikation, die man auch nur kurzfristig ansetzen möchte. Medikamente abzusetzen, geht daneben oft nicht so schnell wie sie zu verordnen, was gerade für ein dringliches OP-Setting von Nachteil sein kann. Es gibt teils potenzierende oder inhibierende Interaktionen. Das Management ist anspruchsvoll. Es erfordert fachspezifische Kenntnisse. Der klinische Pharmakologe, der Apotheker oder Pharmazeut kann dahingehend ein nutzbringender Partner sein, wie sich mit guten Erfahrungen im Rahmen eines initiierten „Drug interaction stewardship“ in Anlehnung an das „Antibiotic stewardship“ herausstellte.
Kosten
Kosten auf Grund neuer Technologien, Designs oder Medikamente sind allgemein steigend. Die Bezahlbarkeit muss allerdings weitestgehend gewahrt bleiben. Daher müssen die Versicherungsträger mit dem Gesundheitswesen über die Allgemeinkosten diskutieren, um ein ausgeglichenes Kosten-Nutzen-Verhältnis zu erhalten. Es sollte daneben eine mindestens kostendeckende Leistungserbringung geben. Behandlungszahlvorgaben sind dabei strikt zu vermeiden. Ambulante OPs können die Kosten etwas senken, die Erlössituation darf daher aber nicht überdimensional gemindert sein [17].
Die Lebenserwartung steigt, was ebenfalls als Kostentreiber angesehen werden kann. Insbesondere an Arteriosklerose leidende Patienten erfordern nicht selten wiederholte interventionelle oder operative durchblutungsverbessernde Maßnahmen. Altersgrenzen sind dabei selten festgelegt. Außerdem sind noch keine prädiktiven Faktoren etabliert, bei welchem Patienten-Nutzen-Effekt welche Technologie bei Patienten eingesetzt werden soll.
Komplikationen
Gefäßchirurgie ist nicht selten komplikationsträchtig aufgrund der komplexen Therapiemethoden, aber auch der Multimorbidität der Patienten sowie des teils sehr anspruchsvollen und aufwendigen periinterventionellen/-operativen Managements.
- So kann es bei erforderlicher intraoperativer und frühpostoperativer Antikoagulation zu Nachblutungen kommen.
- Die Gefäßanastomosenheilung kann Probleme aufweisen (Anastomosen mit Kunststoffbypässen, Patchplastiken mit xenogenem Material).
- Auch Interventionen, „PTAs“ (perkutane transluminale Angioplastie) können mit Aneurysma spurium oder Nachblutung im Punktionsbereich einhergehen.
- Es können frühe und späte Anastomosenstenosen, sogenannte „In-Stent“-Stenosen oder früh-thrombotische Verschlüsse der operierten Gefäße entstehen.
- Späte Komplikationen können auch mit der Krankheitsprogression zusammenhängen sowie durch späte Gefäßverschlüsse oder Rezidivstenosen bedingt sein.
- Durch relativ lange OP-Zeiten und kritische Ischämiezeiten kann es zu Organfunktionsstörungen kommen. Nierenversagen, Sepsis, SIRS sowie auch kardiovaskuläre Aspekte führen nicht selten zur Notwendigkeit der intensivmedizinischen Behandlung postoperativ.
- Bei Becken-/Bauchgefäßoperationen können auch viszerale Komplikationen auftreten [18] (Abb. 4: Flussdiagramm eines Studiendesigns und des periinterventionellen Managements bei Patienten mit (nicht-)symptomatischer A.-carotis-Stenose).
- Die Erfolgsaussicht des Komplikationsmanagements wird nicht unwesentlich vom „ASA-Score“ (American Society of Anesthesiologists [ASA]: Scoring-System zur Einteilung von Patienten bezüglich ihres körperlichen Zustandes) des Patienten wie auch von der Erfahrung des Operateurs bzw. Gefäßinterventionalisten, Intensivmediziners und der Einrichtung mit heutzutage zu fordernden Gefäßzentrumsstrukturen bestimmt.

Mutmaßlicher Wille, Patientenverfügung
Weil Patienten immer älter und häufig multimorbide sind, besteht nicht selten die Konstellation, dass die Patienten nicht mehr adäquat in der Lage sind, eigene Entscheidungen kompetent zu treffen. Eine suffizient aufgesetzte Patientenverfügung ist dahingehend immens hilfreich, jedoch längst nicht in allen Fällen vorliegend, manchmal wird sie jedoch auch nicht hinreichend und präzise beachtet.
Häufig problematisch ist die Konstellation, wenn die Angehörigen vor einer größeren Entscheidung stehen. Unbedingte Basis der Entscheidung ist, was der Patient selbst äußert/geäußert hat, da es den (mutmaßlichen) Willen des Patienten repräsentiert. Angehörige sind in dieser Beziehung besonders gefordert, ggf. auch ein Vormund oder Vertreter, ggf. eine gerichtlich bestellte Betreuung. Eine Vorsorgevollmacht kann helfen und zur Klärung dienen, dass diese Aspekte im meist dringlichen Bedarfsfalle vorliegen, d. h. geklärt worden sind.
Sinnhaftigkeit
Eine bedeutsame Frage ist die Sinnhaftigkeit des Machbaren. In Anbetracht immer älter werdender Patienten mit höherem Risikopotenzial (OP- und Narkoserisiko, ebenso steigt die allgemeine und spezifische Komplikationsrate sowie die Morbidität/Letalität) auf Grund von Begleiterkrankungen (Organfunktionsstörungen kardiopulmonal, hepatobiliär – im Einzelnen: Insult, Asthma, Bronchitis, Raucher, Adipositas, Fettleber, Diabetes mellitus, Tumorerkrankung etc.) und Vielfachmedikation gewinnt die Frage der Kosten-Nutzen-Relation hinsichtlich prognostischer Aussichten an Bedeutung und muss eine sensible und adäquate Beantwortung finden. Insbesondere ist über die Sinnhaftigkeit bei präventiven Operationen (wie bei einer asymptomatischen Karotisstenose) nachzudenken.
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Fortsetzung des Artikels (Teil 2) in der Mai-Ausgabe des Ärzteblattes Sachsen-Anhalt
Verantwortlicher Autor:
apl. Prof. Dr. med. habil. Frank Meyer
Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.
Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie
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