Berichtet wird im Fall des Monats Mai 2020 über ein Ereignis im Zusammenhang mit der ungenügenden Kenntnis eines neuen Medikamentes.
Was ist passiert?
Es soll aufmerksam gemacht werden auf eine Fehlerquelle hinsichtlich der Anwendung des Medikaments Tinzaparin (Handelsname) und der in einem Krankenhaus eingesetzten Software (Programm zum digitalen Medikamentenplans und bundeseinheitlichen Medikamentenplans), die sich auf einer Station der berichtenden Einrichtung ereignet hat. Ein Patient hat bei einem Körpergewicht von etwa 70 kg und einer erforderlichen therapeutischen Heparinisierung von den Pflegekräften beinahe statt der Fertigspritze 20.000 I.E. mit 0,6 ml, wie es im Programm angeordnet war, eine 0,9 ml Spritze erhalten. Den Pflegekräften, denen der Arzt den Irrtum erklärte, war leider nicht klar, dass Unterschiede bestehen. Vom Programm wurden lediglich die 20.000 I.E. in die Patientenkurve übernommen, nicht jedoch die 0,6 ml.
Die Antwort der Pflegekräfte lautete, sie hätten nur die 0,9 ml gehabt (von der Apotheke seien sie bislang nicht anders ausgestattet worden, zudem solle man zuerst die Vorräte an anderen Antikoagulationsspritzen aufbrauchen). Die theoretische Möglichkeit des Verwerfens von 0,3 ml aus der 0,9 ml-Spritze war ebenso unbekannt. Die Pflegekräfte, denen dies vom Arzt erläutert wurde, hatten keine Schulung erhalten, da sie im Nachtdienst waren. Eine Schulung untereinander hatte bislang nicht stattgefunden. Das Vorhandensein von Informationen zu Tinzaparin [Handelsname] im Intranet war auch nicht bekannt. Daraufhin wurden den Pflegekräften die Informationen im Intranet gezeigt und die entsprechenden Tabellen für die Station ausgedruckt. Es gibt die Befürchtung, dass sich dieses Problem wiederholen kann. Das Problem unzureichender Kenntnisse zu Anwendung neuer Medikamente ist ebenso nicht gelöst wie die Tatsache, dass richtig angeordnete Dosierungen falsch übertragen werden. Der meldende Arzt stellt sich die Frage der Notwendigkeit einer Übertragung des Softwareplanes zur Medikation in die Patientenkurve als eine weitere und unnötige Fehlerquelle.
Der berichtete Fall führte zu folgender Rückmeldung des CIRS-Teams:
Fachkommentar des Fachbeirats CIRSmedical.de
Autorin: Dr. Pamela Reißner, Fachapothekerin für klinische Pharmazie, LAK Hessen
Im vorliegenden Fall kann man deutlich die Entstehung einer Fehlerkette nachvollziehen, wie von Reason im „Schweizer-Käse-Modell“ beschrieben [1].
Nach Einführung eines neuen Arzneimittels (Tinzaparin 20.000) erfolgte Schulung und Information hierüber unzureichend – Kollegen in abweichenden Schichten (Nachtdienst) wurden nicht flächendeckend erreicht. Dazu kommt auslösend eine Verwechselungsmöglichkeit der mit unterschiedlichen Mengen befüllten Fertigspritzen zum Präparat „Tinzaparin 20.000“ (z. B. 0,6 ml und 0,9 ml). Fehler- bzw. Schadenbegünstigend ist hier, dass den Kollegen, die Anordnungen übertragen haben, nicht bekannt war, dass es Unterschiede in den Mengen gibt. Zudem war auf dieser Station bis dato nur eine Sorte Fertigspritzen vorhanden (0,9 ml).
Ursache des Fehlers ist zum einen die fehlende Kenntnis über das neue Präparat u. a. durch unzureichende Informationsmechanismen, eine fehlende Sensibilisierung gegenüber Dosisunterschieden bei Heparinisierung, ein Look bzw. Soundalike von Tinzaparin 20.000 und die Notwendigkeit eines weiteren Prozessschrittes (Übertragung), welche generell Fehlerrisiken erhöht [2].
Bei jeder Neueinführung bzw. Umstellung von Präparaten im Krankenhaus oder Pflegeeinrichtungen sollte die flächendeckende Information des Personals gewährleistet sein. Dies kann durch Schulungen durch die Apotheker vor Ort oder schriftlich (ggf. in Kombination) erfolgen. Durch die geschulten Kollegen müssen alle anderen, die nicht erreicht wurden, nachgeschult werden (Multiplikatorenfunktion). Dies muss – um Informationslücken zu vermeiden – umgehend erfolgen. Eine Dokumentation der Schulung bzw. der Informationsweitergabe sollte erfolgen. Praktisch kann dies auch durch schriftliche Informationen in sogenannten Stations- oder Schulungsordnern erfolgen oder über Informationen am Schwarzen Brett. Dies hat jedoch nur Aussicht auf Erfolg, wenn alle Kollegen beim ersten Dienstantritt einen Blick hier hinein bzw. auf das Brett werfen. Aufgrund der häufigen Umstellungen durch Lieferschwierigkeiten bei vielen Präparaten sinkt die Sensibilität gegenüber Neueinführungen und der Aufwand, jede Neuerung zu schulen bzw. darüber zu informieren ist massiv angestiegen. Dies befördert Fehler durch fehlende Kenntnis.
Generell sollte bei Umstellungen bzw. Neueinführungen darauf geachtet werden, dass Präparate ausgewählt werden, bei denen ein möglichst geringes Risiko für Verwechselungen besteht. In unserem Fall begünstigt die Bezeichnung 20.000 Anti-Xa I.E./ml direkt im Anschluss an den Namen des Präparates eine Verwechselung, zumal zwischen den Einheiten I.E. und dem Bezug ml noch der Faktor steht – so gerät der Bezug (hier: ml) leicht aus dem Fokus. Verstärkt wird das Verwechselungsrisiko dadurch, dass das Präparat und die unterschiedlichen Dosierungen der einzelnen Fertigspritzen noch nicht flächendeckend bekannt sind. Verordnet wurden eigentlich 12.000 I.E. (in 0,6 ml), die Angabe Tinzaparin 20.000 I.E. […]/ ml FSP 0,6 ml kann irreführend sein.
Das Entnehmen von X ml aus Fertigspritzen, um zunächst Bestände aufzubrauchen, ist abzulehnen. Zum einen ist dieses Verfahren zu ungenau bei einem Wirkstoff mit geringer therapeutischer Breite, zum anderen birgt dieser zusätzliche Prozessschritt ein hohes Risiko für Fehler (wird vergessen, wird fehlerhaft durchgeführt).
Unbenommen von der Pflicht zur Information („Push-and-Pull“-Prinzip) ist eine sichere Verordnung im (Stations-)Alltag. Hierzu gehört die Angabe von Präparat- bzw. Wirkstoffname, Arzneiform, Stärke und Dosierung sowie Dosierungsintervall. In unserem Fall wäre die Angabe Tinzaparin FSP 0,6 ml (= 12.000 I.E.) einmal täglich eine klare Angabe gewesen, alternativ auch Tinzaparin 12.000 I.E. in 0,6 ml FSP. Beides ohne die irreführende Angabe „20.000 Anti-Xa I.E./ml“. Die Verordnung sollte immer auch 1:1 in Dokumentationskurven (papierbasiert oder elektronisch) übernommen werden.
Literatur
- Reason J. Human error: Models and management. BMJ 2000; 320(7237):768–70. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10720363
- McDowell SE, Ferner HS, Ferner RE. The pathophysiology of medication errors: How and where they arise. British Journal of Clinical Pharmacology 2009; 67(6):605–13. DOI: 10.1111/j.1365-2125.2009.03416.x
Quelle: https://www.kh-cirs.de/faelle/mai20.pdf