
Matthias Vogel (Foto: privat)
Vogel, M.1; Meyer, F.2; Walter, M.3; Frommer, J.1
1) Aus der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität
mit Universitätsklinikum Magdeburg A.ö.R., Magdeburg
2) Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie, Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität
mit Universitätsklinikum Magdeburg A.ö.R., Magdeburg
3) Klinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Jena, Jena
Einleitung
Die Psychosomatische Medizin als ein Querschnittsfach befasst sich auch mit den Komplikationen medizinischer Behandlungsgänge, zumindest dann, wenn diese psychische Relevanz haben oder aber, umgekehrt, die Psyche den Schlüssel zum Verständnis der Komplikation selber liefert. Dieser Heuristik haftet aus der Sicht vieler Mediziner ein Anklang unseriöser Esoterik und psychologischer Mystik an. Mit der vorliegenden Arbeit wollen wir im Hinblick auf medizinische und v. a. chirurgische Therapien psychische und psychosomatische Mechanismen beleuchten, die für die gelingende Anpassung an diese Therapien relevant sind.
Die Literatur kennt verschiedene Coping-Strategien, die sich auf die Bewältigung von Stress beziehen. Allerdings entsprechen hinsichtlich medizinischer Implikationen unterschiedliche Verarbeitungsweisen (1) womöglich auch verschiedenen und verschieden funktionalen Ergebnissen der Bewältigung und somit – indirekt – auch der Behandlung. Beispielhaft berichten Stanton et al. (2) in diesem Zusammenhang, dass Akzeptanz und emotionale Unterstützung mit einer besseren Lebensqualität und emotional ausgeglicheneren Befindlichkeiten verbunden seien als etwa Bewältigungsmuster, die durch selbstanklagende und verleugnende Coping-Stile geprägt sind. Phobische Dispositionen spielen hier naheliegender Weise eine besondere Rolle. Der der Neurosenlehre entlehnte Begriff „phobisch“ beschreibt eine grundlegende Bereitschaft zur ängstlichen Erwartung. Ängstliche Menschen sind, gerade bei psychosozialer Belastung, kognitiv und emotional zentriert und berichten demzufolge mehr Angst auch vor der Progredienz ihrer bestehenden körperlichen Erkrankung (3). Ein Beispiel für die Versorgungsrelevanz solcher Zusammenhänge liefert die Psychoonkologie, die nach progressiven Strategien sucht, deren Wesen es ist, die eigenen Ressourcen der Betroffenen einzubeziehen und zu stärken (3). Indes verweist der Begriff „progressiv“ implizit auf sein Gegenstück „regressiv“. Darunter werden, zumindest aus psychotherapeutischer Perspektive, Entwicklungen zusammengefasst, die auf dem Abwehrmechanismus der Regression beruhen. Dieser wiederum beschreibt die dauerhafte oder passagere funktionelle Unreife wichtiger psychischer und psychosomatischer Mechanismen bzw. Ressourcen.
Im Rahmen des transaktionalen Stressmodelles gilt das Bewältigungsverhalten als durch die Interaktion zwischen Umwelt und Personenvariablen bestimmt (4). Zentral für die Überwindung einer körperlichen Krise sind gedankliche Operationen, welche die eigene (im Zweifel unangenehme) emotionale Auslenkung zum Inhalt haben. Wie sich die Bewältigung konkret ausgestaltet, hängt von den individuellen psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Merkmalen ebenso ab, wie von den Gegebenheiten und Ausgestaltungen des Bewältigungsgrundes und dem Zusammenwirken der beiden Faktoren. Für schwere körperliche Erkrankungen gilt im Allgemeinen, dass sie die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen sehr stark beanspruchen und daher bei hohem Leidensdruck oder Hemmnissen für die Bewältigung das Individuum an die Grenzen seiner Belastbarkeit führen können. Die Krankheitsbewältigung als kontinuierlicher Prozess kann eine grüblerische Haltung umfassen, die soziale Einbindung bzw. das Bemühen darum betreffen, ferner zu Informiertheit führen, Bedrohungsabwehr ermöglichen oder die Suche nach Halt in Religion und Spiritualität bewirken. Bei diesen beispielhaft einem Maß der Krankheitsverarbeitung* entnommenen Kriterien der Bewältigung werden zwar bewusste Motive bzw. Strategien beschrieben (5), doch angesichts einer existenziellen Bedrohung wird die Wahl einer bestimmten Strategie auch unbewussten Impulsen folgen, wenn beispielsweise die Erkrankung Ängste und innere Bilder induziert, die bereits in der Kindheit erlebt worden sind.
Unbewusste Mechanismen sind jedoch – durch den Charakter der Unbewusstheit – schwer zu erfassen. Allerdings ließen sich in verschiedenen Untersuchungen intrapsychische und auch psychodynamische Vorgänge mit Behandlungsergebnissen bzw. „outcomes“ körperlicher Therapien in Relation setzen. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass gemäß der psychoanalytischen Heuristik das Unbewusste der Rahmen ist, in dem Konflikte dadurch gelöst werden, dass innere Wahrnehmungen (z. B. Emotionen, aber auch Anteile des Selbst wie Erinnerungen) abgewehrt werden können. Die Bedrängnis und Angst, in welche eine Erkrankung Betroffene stürzen kann, sind potente Auslöser solcher Vorgänge. Dies gilt offenbar gerade für die Uneinheitlichkeit des Identitätserlebens sowie für bestimmte Abwehrvorgänge, die im Rahmen posttraumatischer Störungen, wie etwa der PTBS, bedeutsam sind (6, 7). Dabei ist zu betonen, dass eine etwaige posttraumatische Diathese zur Maladaption eine hohe Relevanz für das ärztliche Handeln haben könnte, weil sie zu einer verzerrten bzw. tendenziös nicht an der tatsächlichen (gemeinsamen) Realität orientierten Wahrnehmung führen kann. Dies bedeutet, dass die Konstellation, bei der es im Rahmen einer operativen Behandlung zu einer Verletzung der körperlichen Integrität kommt, das verinnerlichte Traumagedächtnis aktivieren und somit systematisch als traumatisierende interpersonelle Erfahrung fehlverarbeitet werden könnte. Folglich steht zu vermuten, dass die Korrelate einer Maladaption wie z. B. postoperative Schmerzen und Schonhaltungen unglücklicherweise durch Aspekte der Biographie im Sinne einer psychischen (Trauma-)Abwehr vorprogrammiert werden.
Das Ziel der vorliegenden Kurzübersicht ist es, Prozesse der Krankheitsverarbeitung aus psychologischer bzw. psychosomatischer Sicht anhand einiger typischer und häufiger operativer Interventionen sowie perioperativer Situationen und Konstellationen zu beschreiben.
*Klauer, T. & Filipp, S.-H. (1993). Trierer Skalen zur Krankheitsbewältigung. Göttingen: Hogrefe.
Eckpunkte
Psychische Implikationen in der Onkologie/Psychoonkologie
Krebserkrankungen führen für die Betroffenen zu einer Reihe ganz erheblicher psychischer Herausforderungen und stellen die Bewältigungsressourcen auf eine besonders harte Probe (8). Die Diagnose(-stellung) verändert die Lebensperspektiven abrupt und häufig fundamental bis hin zur erzwungenen Hinnahme einer verkürzten Lebensdauer bzw. eingeschränkter und von den eigenen Planungen erheblich abweichender Möglichkeiten der Lebensführung. Dies betrifft indes nicht allein die Erkrankten selbst, sondern auch deren Angehörige (9).
Die Anpassung an diese veränderte körperliche, psychische, familiäre und ggf. wirtschaftliche Situation muss ebenso bewerkstelligt werden, wie die (bei Krebserkrankungen besonders invasiven und oft beeinträchtigenden) therapeutischen Vorgehensweisen hingenommen und ausgehalten werden müssen. Dieser Stress kann zunehmend die Gedankentätigkeit, das Gefühlsleben und die sozialen Entfaltungsräume bestimmen und so das Bewusstsein einengen. Auch wenn der Begriff der Selbstwirksamkeit durch seine zunehmende mediale Verbreitung popularisiert und abgegriffen wirkt, so beschreibt er doch gerade im Angesicht einer vitalen Bedrohung die geradezu überlebenswichtige Kompetenz eines suffizienten und selbstregulierenden Umgangs mit Stress (10). Aus diesem Grund wird im onkologischen Behandlungszusammenhang die Stärkung der häufig fragilen Stressbewältigungskompetenzen bei Krebspatienten/-innen und deren Angehörigen durch psychosoziale Hilfen angestrebt. Gegenüber krankheitswertigen Korrelaten dieser Labilität, welche sich als diagnostizierbare psychische Krankheiten (etwa Depressionen oder Angststörungen) zeigen, wird im günstigsten Fall so Primärprävention betrieben. Neuere Forschungsergebnisse zeigen überdies, dass die psychischen, psychosomatischen und psychiatrischen Belastungen bei Krebserkrankten besonders häufig die Form von depressiven und Angsterkrankungen einschließlich der einschlägig posttraumatischen Symptomatologie (ein- und überschießende Erinnerungen, „Arousal“ und Vermeidung) annehmen. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass der psychosoziale Unterstützungsbedarf sich aus unterschiedlichen Gründen und in verschiedener Weise nicht nach diagnostischen Schwellen deskriptiver Klassifikationen, etwa diagnostischen Kriterien der ICD, richtet (5). Umstände, die mit erhöhten Wahrscheinlichkeiten für maladaptive Anpassungsprozesse verbunden sind, sind z. B. etwa (jüngeres) Alter, (weibliches) Geschlecht, bestimmte Entitäten (Brustkrebs) oder Stadien der Erkrankung (Tumorprogression). Hinzu kommen soziodemographische Merkmale wie ein wenig auskömmlicher sozioökonomischer Status und das Vorhandensein eigener, insb. kleiner Kinder sowie eine psychiatrische, psychosomatische oder psychotherapeutische Vorgeschichte, die ja letztlich Ausdruck, Folge und Korrelat der oben gezeigten Labilität ist. Die Methodik der Bedarfsermittlung, die den Patienten in der Regel in Form von fragebogenbasierten Screenings begegnet, ist jedoch möglicherweise in Bezug auf die Gesamtheit der subjektiven Hilfe- und Unterstützungsbedarfe nicht erschöpfend sensitiv (5). Tatsächlich ist die psychoonkologische Bedarfslage u. U. komplexer als selbst bei einer schweren psychischen Erkrankung, weil eben auch der systemische Charakter, d. h. auch die Nöte und Überforderungen der um das Wohl ihrer Nächsten besorgten Angehörigen, zu berücksichtigen ist. Daher muss von einer systematischen Unterschätzung der Bedarfe ausgegangen werden, v. a. wenn diese mit psychischen Erkrankungen gleichgesetzt werden (die immer als das Überschreiten einer bestimmten Belastungsschwelle definiert sind). Dies mag angesichts der Darstellung, dass etwa 30 % der Krebskranken eine psychische Störung wohl am ehesten als Reaktion auf die Krebserkrankung entwickeln (11), überraschen. Dabei verdeutlichen diese Argumente jedoch vor allem eines: die Wichtigkeit der möglichst sensiblen Wahrnehmung solcher Probleme auf ärztlicher Seite auch dann, wenn sie sich unterhalb der diagnostischen Schwelle abspielen. Das psychoonkologische Handeln zeigt sich zum einen in der Diagnostik relevanter psychischer Probleme, zum anderen in der Beratung und Hilfestellung in sozialen Fragen sowie in solchen, die die Rehabilitation betreffen. Darüber hinausgehende Bedarfe erklären sich häufig als Folge einer bereits vor der Krebserkrankung wiederholt überspannten Bewältigungsressource. Diese lässt sich nach der Meinung vieler Autoren an einer Vorgeschichte mit psychischen, psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungsepisoden ablesen, wobei diese nicht nur die Verarbeitungsmöglichkeiten im Hinblick auf körperliche Erkrankungen einschränkt, sondern auch das Risiko psychischer Dekompensationen infolge einer Fehlanpassung an die körperliche Erkrankung erhöht (12). In Summe ist die Einschätzung der psychischen Hemmnisse einer auch im Angesicht einer schweren und womöglich traumatisierenden körperlichen Erkrankung aufrechtzuerhaltenden gemütsmäßigen Stabilität als eine komplexe psychodiagnostische Herausforderung anzusehen. Letztlich wird diese Diagnostik in der Regel an die fachliche psychotherapeutische Kompetenz gebunden sein, wobei infolge der herausragenden Bedeutung sozialer Unterstützung (durch Familie, Partner etc.) die Angehörigen auch in die psychoonkologische Betreuung einzubeziehen sind.
Transplantationswesen
Die Lebertransplantation erfordert von den Betroffenen ein hohes Maß an Durabilität und Behandlungstreue. Die Anwartschaft auf ein Organ ist mit ausgeprägter psychischer und psychosomatischer Belastung verbunden, so leiden etwa 25-60 % dieser Gruppe an relevanten Störungen, v. a. aus dem Bereich der depressiven und Angststörungen (13). Dies erweist sich als kontraproduktiv, weil eine hochkomplexe Operation bevorsteht, die von den Operierten eine gesundheitsförderliche und sich den ärztlichen Anordnungen unterordnende Haltung verlangt. Der partielle Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit und die Bedrängnis durch Schmerzen, Transplantatabstoßung oder unerwünschte Medikamenteneffekte (z. B. Osteoporose) stellen die adaptiven Ressourcen und Bewältigungskompetenzen auf einen nicht abzumildernden Prüfstand. Hier führen Angst und Depression wie überdies negative Affekte im Allgemeinen zu einer eher unzureichenden Adhärenz (14). Dabei ist anzunehmen, dass die Angst bei gelisteten Patienten für ein Lebertransplantat auch deshalb so ins Gewicht fällt, weil die Organknappheit sich nicht wie etwa im Falle der Nierentransplantation durch eine Ersatztherapie überbrücken (1) lässt. Zudem gilt für die alkoholische Hepatopathie, dass die Disposition zum Alkoholmissbrauch, die bspw. in Spannungsintoleranz und geringer Selbstwirksamkeit bestehen kann, zugleich die Meisterung der Therapie erschwert. Dies ist ein anschauliches Beispiel für die Äquifinalität (struktureller) psychischer Leiden, die in unterschiedlichen Bereichen dazu führt, dass Betroffene sich immer wieder und auf je ähnliche Weise in einer ausgelieferten, hilflosen und prekären Lage wahrnehmen. Somit tragen dieselben übergeordneten psychischen Dispositionen, welche das prämorbide gesundheitsschädliche Verhalten veranlasst haben, etwa ein unsicherer Bindungsstil, auch zu transplantationsbezogenen Komplikationen, etwa einem depressiven, verleugnenden oder vermeidenden Stil der Krankheitsverarbeitung, zu geringerer Resilienz und zu weniger tragfähiger bzw. funktionaler sozialer Unterstützung, bei. Vor diesen Hintergründen ist die Evaluation und ggf. Betreuung dieser chirurgischen Patienten eine wichtige Aufgabe. Das Augenmerk gilt dabei besonders (13, 14)
- psychosozialen (chronische Stressoren, finanzielle Probleme),
- psychopathologischen (Ausmaß der Angst),
- motivationalen und kognitiven Aspekten sowie
- Aspekten der Informiertheit (1).
Psychosomatische Bewältigungshindernisse
Psychologische Eigenschaften sind normalverteilt und daher bei den Individuen unterschiedlich ausgeprägt. Es bedarf nicht der Erwähnung, dass körperliche Erkrankungen hierauf keine Rücksicht nehmen. Dabei hängt die Bewältigung vom Vorhandensein bewältigungsförderlicher psychischer Kompetenzen ab. Die sog. negativen Affekte (Depressivität, Ängstlichkeit und dissoziative Symptomatik) sind als Korrelate von Somatisierung und Hyperalgesie, bspw. bei chronischen Schmerzen, anzusehen. Diese emotionalen Zustände sind mit grüblerischen, katastrophisierenden und Tendenzen zu Schuldgefühlen sowie zur Hilflosigkeit verbunden (15). Emotionale, oder allgemeiner, psychische Stabilität ist ein Kennzeichen psychischer Gesundheit bzw. geringer Vulnerabilitäten. Im Unterschied dazu können psychische Dispositionen, z. B. im Rahmen einer bestimmten Persönlichkeitskonstellation, systematisch eine gesteigerte Empfänglichkeit für fluktuierende und teilweise schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen bedingen. Deshalb gilt für psychische und psychosomatische Störungsbilder, die auf dieser (Persönlichkeits-)Ebene verankert sind, dass sie besonders relevant für die Verarbeitung körperlicher Morbidität und – darüber hinaus – auch für die Belastbarkeit im Hinblick auf deren Therapie sind. In Bezug auf die chirurgischen Disziplinen konnte anhand des Kniegelenksersatzes gezeigt werden, dass dieser bei traumatisierten Menschen und bei solchen mit Persönlichkeitsstörungen seltener zur Beschwerdefreiheit führt als bei Menschen ohne diese psychischen Voraussetzungen (16). Die Erklärung hierfür liegt in den Mechanismen der zentralen Schmerzverarbeitung, welche sich an manchen ihrer Verschaltungskerne, etwa dem anterioren Cingulum, mit der Psychophysiologie psychischer, emotionaler und sozialer Prozesse überlappt (17). Daher führt letztere zu ähnlichen Aktivierungsmustern, wie dies bei Schmerzen der Fall ist. Man kann hier getrost eine Synergie bspw. negativer Affekte und schmerzhafter Afferenzen in Bezug auf die Modulation der Schmerzschwelle annehmen. Diese Bereitschaft zur niederschwelligen Schmerzwahrnehmung steht im Zusammenhang mit einer chronischen Belastung mit Stresshormonen, insbesondere in vulnerablen Phasen der Adoleszenz. Nimmt es da Wunder, dass sich unter Patienten mit chronischen Schmerzen Kindheitstraumatisierungen (Missbrauch oder Vernachlässigung) häufen (18)? Psychische Traumafolgen, wie zum Beispiel dissoziativ veränderte Wahrnehmungseinstellungen, scheinen als übergeordneter Faktor maladaptive Mechanismen der Krankheitsverarbeitung zu induzieren, wie dies für Katastrophisieren (7) oder Schuldgefühle (15) gezeigt werden konnte.
Münchhausen oder der Missbrauch der Chirurgie
Die Aussicht auf einen zu verbuchenden Krankheitsgewinn verleitet manche Menschen zur Simulation körperlicher (und psychischer) Erkrankungen. Bekannt ist dieses Phänomen als bewusstseinsnahe Variante im Zusammenhang mit der (derzeit ausgesetzten) Wehrpflicht, der Betroffene mithilfe einer Erkrankung entkommen wollen, es zeigt sich aber andererseits auch unabhängig von solchen bewussten Anreizen einer Krankenrolle, mit einer Prävalenz von 0,5-2 % in Versorgungskontexten (19) als Ausdruck einer unbewussten Motivation. Auch die artifizielle Störung (Münchhausen-Syndrom) hat einen Bezug zu widrigen Lebensumständen und Traumatisierungen und geht oft mit selbstschädigend-manipulativem Handeln einher. Betroffene versuchen auf diese Weise, sich emotional und in Bezug auf das Erleben innerer Anspannung zu regulieren. Anscheinend zeichnet sich die Körperwahrnehmung dieser Patienten dadurch aus, dass sie nachhaltig durch grenzverletzendes und die körperliche Integrität bedrohendes Verhalten bestimmt wird. Abermals verwundert die hohe Koinzidenz der artifiziellen Störung mit Persönlichkeitsstörungen nicht. Im Hinblick auf chirurgische Behandlungsumfelder können sich abdominelle Schmerzen, Stuhl- und Harnverhalt, Wundheilungsstörungen, Abszesse u. a. als artifiziell erweisen. Auf der Beziehungsebene werden Ärzte in die innere Dynamik der artifiziellen Störung einbezogen: Geschmeichelt durch die Idealisierung durch den Patienten, sieht sich der Arzt zu einem medizinischen, u. U. „blutigen“ Handeln als „Rettung“ verleitet, auch wenn der Patient (und nicht das ärztliche Gegenüber) die Indikationsstellung manipulativ kontrolliert. In dieser Art der Beziehungsgestaltung manifestieren sich womöglich bestimmte zentrale Beziehungserfahrungen des Patienten. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich vor allem psychosomatische Kompetenzverankerung als ein Mittel gegen solchen Missbrauch des medizinischen Systems.
Psychosomatische Basiskompetenzen in der Chirurgie
Die vorstehenden Ausführungen unterstreichen die Relevanz psychischer und psychosomatischer Aspekte in einem chirurgischen Setting. Die Diagnostik umfasst das Erkennen maladaptiver Entwicklungen bei Patienten. Diese äußern sich auch körperlich und führen so zu entsprechenden Klagen mit somatischem Bezug. Doch ist es geboten, die Einbettung dieser Klagen in einen psychischen und psychosozialen Beschwerdekontext diagnostisch zu erfassen. Im chirurgischen Arbeitsalltag ist dafür wenig Raum, so dass die routinemäßige Delegation an Vertreter des psychosozialen Behandlerspektrums eine sinnvolle Option darstellt. Grundlegend ist die standardisierte Diagnostik mittels Fragebögen zu empfehlen, die etwa negative Affekte oder die subjektive Stressbelastung zuverlässig erfassen. Idealerweise ist die interdisziplinäre Kooperation institutionalisiert, und ein Vertreter des „Psycho-Faches“ als Bestandteil des Teams einer chirurgischen Station fest in den Stationsablauf integriert, z. B. weil er oder sie Visiten begleitet. Auf diese Weise ist die Ansprechbarkeit universell, kontinuierlich und niederschwellig gegeben, und es kommt durch das präsente Modell-Handeln zur Diffusion der jeweiligen Kompetenzen aus dem psychischen Fachgebiet in das chirurgische, was der ärztlichen Weiterbildung keinen Schaden zufügt.
Fazit
Psychosomatische Aspekte und Nosologie haben auch in chirurgischen Settings Einfluss auf die Behandlungsergebnisse bzw. die patientenseitige Zufriedenheit. Gerade traumatisierte Menschen könnten sich dabei mit der Anpassung an invasive Therapien besonders schwertun. Daher ist den jeweiligen Kolleginnen und Kollegen, die im ärztlichen Kontakt zu diesen stehen, eine Sensibilität für psychosomatische Perspektiven nahezulegen. Da jedoch – trotz der teilweise verpflichtet absolvierten Kurse in psychosomatischer Grundversorgung – dieser Sensibilität in operativen Settings Grenzen gesetzt sein dürften, stellt sich hier womöglich die Frage nach einer festen Einbettung psychologischer Diagnostik in diese Settings. Ein erster Schritt in Richtung dieser interdisziplinären Integration könnte in geeigneten „Screenings“ nach psychischer Belastung bestehen.
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