
Siol, A. F.1, Peter, L.-M.1, Richter, C.2, Lessig, R.2, Junghänel, M.1, Stoevesandt, D.1
1 Dorothea Erxleben Lernzentrum Halle, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
2 Institut für Rechtsmedizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Einleitung
In Deutschland und anderen Ländern, in denen Ärztinnen und Ärzte die Leichenschau unabhängig von ihrer Spezialisierung durchführen, ist die zugehörige Lehre oft zentraler Bestandteil der Ausbildung in der Rechtsmedizin (1). Trotzdem kommt es immer wieder zu eklatanten Fehlleistungen (2, 3). Die Notwendigkeit der Fortbildung zu diesem Thema wird auch von jungen Ärztinnen und Ärzten wahrgenommen. Basierend auf einer Bedarfsanalyse, die wir Ende 2019 bezüglich zentraler Fertigkeiten für den klinischen Berufsstart erhoben haben (n=78), wurden die Durchführung einer ärztlichen Leichenschau, das korrekte Ausfüllen des zugehörigen Totenscheins und das Vorgehen bei ungeklärten bzw. nicht-natürlichen Todesfällen von etwa ¾ der Befragten als notwendiger Lehrinhalt für ein Curriculum angegeben.
In den vergangenen Jahren fand deshalb eine kontinuierliche Weiterentwicklung der studentischen Ausbildung im Fach Rechtsmedizin an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) statt. Dazu wurden zunehmend auch moderne Lehr- und Prüfungsmethoden verwendet.
Die Thanatologie wird traditionell im Rahmen einer Vorlesung und praktischen Übung am realen Leichnam vermittelt. Die Prüfungsleistung wurde durch das Bestehen einer Multiple Choice-Klausur erbracht (4). Durch die Etablierung einer obligatorischen Station im Dorothea Erxleben Lernzentrum Halle (Saale) (DELH) im Semesterprogramm des 8. Semesters, in der die Studierenden das korrekte Ausfüllen der Todesbescheinigung anhand zweier von der Rechtsmedizin aufgearbeiteten Fälle erlernten, und durch die Möglichkeit des fakultativen Nachbereitens weiterer 8 Fälle in Form von E-Learning Modulen, wurde die Lehre 2015 erstmals erweitert (5). Darauf folgte im Jahr 2016 die Einführung zweier obligatorischer OSCE-Stationen (Objective Structured Clinical Examination). In dieser praktischen Prüfung wurden die Studierenden einerseits an der Station „Praktische Leichenschau“ mit einem Simulator, andererseits an der Station „Todesbescheinigung“ im Hinblick auf die im DELH und E-Learning-Modulen trainierten Inhalte geprüft (6). Ein Jahr später erfolgte die standardisierte Prüfung der Station „Todesbescheinigung“ statt in Papierform computerbasiert (7).
Im Sommersemester 2020 fand eine Umgestaltung der ursprünglichen SkillsLab-Station durch die Integration einer Einheit zum Leichenfund in der virtuellen Realität (VR) statt (Abb. 1), welche seit 2018 im DELH in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Rechtsmedizin der MLU entwickelt wird und bis heute einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess unterliegt (4).
Ziel
Vor dem Hintergrund festzustellender Mängel bei der Durchführung der ärztlichen Leichenschau in Deutschland findet eine kontinuierliche Verbesserung und Weiterentwicklung hinsichtlich der Ausbildung im Fach Rechtsmedizin an der MLU statt. Es werden moderne Lehr- und Prüfungsmethoden wie beispielsweise das im folgenden beschriebene Training zum Leichenfund mittels VR verwendet, um die Lehre zu erweitern. Mit Hilfe dieser Technik sollen sich charakteristische Leichenfundkonstellationen realer und detailgetreuer darstellen lassen (4). Ziel dieser Arbeit ist dabei die Evaluation und Einschätzung des virtuellen Leichenfundes als Lehrobjekt im Rahmen der rechtsmedizinischen Ausbildung durch Studierende im Praktischen Jahr sowie Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung. Es erfolgte eine deskriptive Auswertung zur statistischen Initialbewertung.

Methoden
Zur Einführung in die SkillsLab-Station demonstriert ein geschulter Tutor zunächst in Anlehnung an das Praktikum Rechtsmedizin die Durchführung der Leichenschau an einem Simulator (mittels Totenflecken modifizierter Pflegesimulator). Nach Besprechung theoretischer Grundlagen und gemeinsamer Erarbeitung des Ausfüllens einer Todesbescheinigung werden zwei virtuelle Todesfälle von den Studierenden unter Anleitung des Lehrenden bearbeitet. Es kann dabei zwischen verschiedenen Fallszenarien in einer virtuellen Wohnung gewählt werden (Abb. 2). Die VR-Anwendung wird im DELH in Zusammenarbeit mit dem Institut für Rechtsmedizin der MLU entwickelt und mit der Game Engine “Unity” von Unity Technologies, San Francisco, CA, USA realisiert. Der virtuelle Leichenfund funktioniert dabei geräteübergreifend und wird unter Verwendung der VR-Brille “Oculus Quest” der Firma Facebook Technologies, LLC, Menlo Park, CA, USA konstruiert. In der virtuellen Wohnung findet man nicht nur eine verstorbene Person mit typischen Leichenerscheinungen vor, sondern auch einen Personalausweis zur Identifikation und andere Hinweise auf die Todesursache.

Die Anwender haben die Möglichkeit, alle Räume der virtuellen Wohnung zu begehen, in diesen befindliche Gegenstände anzuheben und sich genauer anzusehen. Eine integrierte Toolbar (Abb. 3) ermöglicht bei Auffinden der Leiche das vollständige Entkleiden durch eine Schere, das Bestimmen der Körperkerntemperatur durch die Verwendung eines Thermometers und die genauere Inspektion von Totenflecken, Fäulnisveränderungen oder anderen äußeren Auffälligkeiten durch eine Lupenfunktion. Je nach Körperregion erscheinen bei Verwendung der Lupe an den Fall adaptierte, von der Rechtsmedizin zur Verfügung gestellte Bilder eines realen Leichnams, um so eine realistische Darstellung zu gewährleisten.
Anschließend kann, basierend auf dem verwendeten Fall, eine Todesbescheinigung ausgefüllt werden. Mit abschließender Diskussion und Feedback durch den Tutor wird die Station beendet.

39 Studierende im Praktischen Jahr (PJ) (Teil des Wahlpflicht PJ-Curriculums) und 15 Teilnehmende des 3-tägigen Assistenzarztkurses (AAK) (fakultativer Kurs für Berufsanfänger) der Universitätsmedizin Halle, die im DELH an einer Lehreinheit zum Thema Leichenschau unter Einbeziehung des VR-Projekts Leichenfund teilnahmen, wurden mittels eines standardisierten Evaluationsbogens befragt. Die Bewertung der einzelnen Items erfolgte mittels fünfstufiger Likert-Skala von „stimme voll zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“. Die Stufen eins und zwei wurden dabei in der Auswertung als „volle und überwiegende Zustimmung“ zusammengefasst.
Ergebnisse
58 % der Studierenden und alle Teilnehmenden des AAK waren über 25 Jahre alt. Davon hatten 19 % der PJler und 8 % der Ärzte ein Alter von über 30 Jahren. Die überwiegende Anzahl der Befragten gaben mit voller bzw. überwiegender Zustimmung an, dass die Lernziele vor der Veranstaltung deutlich gemacht (87 % im PJ, 100 % im AAK) und erreicht wurden (85 % im PJ, 100 % im AAK). Bezüglich der Organisation und Struktur bewerteten fast alle Teilnehmenden die Gruppengröße von nur 4 Personen als positiv. Während 41 % der PJler den zeitlichen Umfang des Kurses von ursprünglich einer Stunde als (eher) zu kurz bewerteten, wurde der zeitliche Rahmen von angepassten zwei Stunden im AAK von 87 % als optimal bewertet. Die überwiegende Anzahl der Befragten beurteilten die Wiederholung rechtsmedizinischer Inhalte als sinnvoll.
Zu Vorkenntnissen und Lerninhalten befragt, gaben nur ca. 30 % der PJler und der Teilnehmenden des AAK an, dass sie sich vor der Veranstaltung in der Lage fühlten, eine praktische Leichenschau durchzuführen. Ebenfalls ca. 30 % gaben an, zu wissen, wie eine Todesbescheinigung auszufüllen ist.
Über 90 % der Teilnehmenden des AAK und zwei Drittel der PJler erachteten die Veranstaltung als geeignet zur Festigung der bisherigen rechtsmedizinischen Fertigkeiten und fühlten sich durch den Kurs sicherer, eine praktische Leichenschau durchzuführen bzw. eine Todesbescheinigung auszufüllen.
Der Kurs wurde abschließend von der überwiegenden Anzahl der Befragten als sehr gut oder gut evaluiert. Eine Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse findet sich in Abb. 4.

Diskussion
Die Vorkenntnisse zum Durchführen einer Leichenschau und zum Ausfüllen einer Todesbescheinigung wurden von den Teilnehmern unserer Kurse als gering betrachtet, sodass eine Notwendigkeit zur Auffrischung rechtsmedizinischer Inhalte gesehen werden kann. Dies entspricht auch den Ergebnissen der Bedarfsanalyse, die zur Etablierung eines Assistenzarztcurriculums am DELH mit 78 Personen durchgeführt wurde. In Bezug auf die teils mangelnde Qualität bei der Durchführung der ärztlichen Leichenschau ist eine weitere Verbesserung der Ausbildung der Medizinstudierenden sowie von Ärztinnen und Ärzten durch vermehrt praxisorientierte Maßnahmen erforderlich (5). Über 90 % der Teilnehmenden des AAK erachteten die 2-stündige Veranstaltung als geeignet zur Festigung der bisherigen rechtsmedizinischen Fähigkeiten sowie Fertigkeiten und fühlten sich durch den Kurs sicherer, eine praktische Leichenschau durchzuführen bzw. eine Todesbescheinigung auszufüllen. Der Anteil der Studierenden, die dem zustimmten, war etwas geringer. Ursächlich hierfür könnte der differierende zeitliche Umfang der Veranstaltungen sowie dadurch bedingte Abweichungen in der Kursgestaltung sein. Weiterhin können Unterschiede in der demografischen Zusammensetzung sowie im Kenntnisstand der Befragten die variierenden Ergebnisse zwischen Studierenden und Assistenzärzten beeinflusst haben.
Im Artikel von Richter et al. wurden 10 Lehrende und 22 Studierende zu Vor- und Nachteilen der virtuellen im Vergleich zur realen Leichenschau befragt. Als vorteilhaft beurteilten die Lehrenden v.a. die Reproduzierbarkeit der Befunde, die höhere Standardisierung bei Training und Prüfung sowie die Unabhängigkeit von zeitlichen und räumlichen Ressourcen. Demgegenüber wurden Nachteile insbesondere im Fehlen von taktilen oder olfaktorischen Sinneseindrücken und der nichterforderlichen Überwindung emotionaler Barrieren gesehen. „Durch den kombinierten Einsatz von realer und simulierter Leichenschau können diese Vor- und Nachteile wahrscheinlich ausgeglichen werden“ (4).
Zusammenfassend können moderne Lehr- und Prüfungsmethoden wie beispielsweise der VR-Leichenfund verwendet werden, um die Lehre und dadurch die Qualität der praktischen Leichenschau zu verbessern, da der Bedarf hinsichtlich der kontinuierlichen Fortbildung im Fach Rechtsmedizin auch über das Studium hinaus besteht.
Ausblick
Geplant ist die Etablierung einer tutorengeführten Fortbildungsveranstaltung für Ärztinnen und Ärzte, bei der die korrekte, vollständige Durchführung einer Leichenschau virtuell sowie praktisch an einem Simulator anhand von Fallbeispielen gelehrt werden soll. Weiterhin soll das korrekte Ausfüllen eines Totenscheins wiederholt und notwendiges Hintergrundwissen wie beispielsweise Meldepflichten oder das Vorgehen bei ungeklärten bzw. nicht-natürlichen Todesfällen interaktiv aufgefrischt werden.
Das Repertoire an Fällen wird in Zusammenarbeit mit dem Institut für Rechtsmedizin der medizinischen Fakultät der MLU kontinuierlich erweitert. Die Anwendung wird zudem stetig grafisch sowie technisch weiterentwickelt. Perspektivisch soll der VR-Leichenfund eigenständig ohne tutorielle Begleitung möglich sein. Der Einstieg erfolgt dabei über einen Startbildschirm, auf welchem eine Erklärung der Steuerung möglich ist. Über das Fall-Menü erhält man nötige Hintergrundinformationen und kann anschließend das Szenario auswählen und starten. Nachdem der Fall bearbeitet wurde, müssen beispielsweise Todesart und -ursache bestimmt werden. Ein entsprechendes Feedback mit der Auflösung des Falles wird abschließend mittels eines virtuellen Avatars im Programm gegeben.
Fazit
In Bezug auf den Einsatz moderner Lehr- und Prüfungsmethoden wie beispielsweise dem VR-Leichenfund im DELH wird die Kombination virtueller und praktischer Inhalte von der überwiegenden Anzahl der Befragten als geeignetes didaktisches Konzept empfunden.
Im Rahmen der voranschreitenden Digitalisierung in der Medizin ist das virtuelle Leichenfundprojekt ein sinnvolles Tool zur Aus- und Fortbildung von Medizinstudierenden und Ärzten und kann dadurch zur Qualitätssteigerung bei der Durchführung der Leichenschau beitragen.
Vor dem Hintergrund festzustellender Mängel bei der praktischen Leichenschau in Deutschland besteht der Bedarf nach einer kontinuierlichen Fortbildung auch über das Studium hinaus. Das DELH wird diesbezüglich zur Qualitätsverbesserung eine tutorengeführte Schulung zum Thema Leichenschau für alle Ärztinnen und Ärzte in Sachsen-Anhalt anbieten.
Korrespondenzanschrift:
Dietrich Stoevesandt
Dorothea Erxleben Lernzentrum
Magdeburger Straße 12, 06112 Halle
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Fotos: DELH/Medizinische Fakultät der MLU Halle-Wittenberg
AAK = Assistenzarztkurs
DELH = Dorothea Erxleben Lernzentrum Halle (Saale)
MLU = Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg
OSCE = Objective Structured Clinical Examination
PJ = Praktisches Jahr
VR = Virtuelle Realität
Literaturverzeichnis
- Anders S, Fischer-Bruegge D, Fabian M, Raupach T, Petersen-Ewert C, Harendza S. Teaching post-mortem external examination in undergraduate medical education--the formal and the informal curriculum. Forensic Sci Int. 2011;210(1-3):87-90.
- Brinkmann BDD-C, Tutsch-Bauer E, Risse M, Drese G, Duchesne A, Lang C, et al., editors. Fehlleistungen bei der Leichenschau in der Bundesrepublik Deutschland : Ergebnisse einer multizentrischen Studie (I + II)1997.
- Zack F, Kaden A, Riepenhausen S, Rentsch D, Kegler R, Büttner A. Fehler bei der Ausstellung der Todesbescheinigung. Rechtsmedizin. 2017;27(6):516-27.
- Richter C, Hoyer S, Lessig R, Stoevesandt D, Schwarz K, Biolik A, et al. Aktuelle Trends im Leichenschautraining bei Medizinstudierenden. Rechtsmedizin. 2020.
- Heide S, Lessig R, Diers V, Rönsch M, Stoevesandt D. Etablierung der Station „Leichenschau“ in SkillsLab und E-Learning. Rechtsmedizin. 2016;26(2):90-6.
- Heide S, Lessig R, Hachmann V, Stiller D, Ronsch M, Stoevesandt D, et al. Establishment of two forensic medicine OSCE stations on the subject of external post-mortem examination. Int J Legal Med. 2018;132(1):311-9.
- Biolik A, Heide S, Lessig R, Hachmann V, Stoevesandt D, Kellner J, et al. Objective structured clinical examination "Death Certificate" station - Computer-based versus conventional exam format. J Forensic Leg Med. 2018;55:33-8.