zu Ehren des 75. Geburtstages von Prof. Dr. med. Volker Steinbicker

Vor vielen Jahren war die Humangenetik noch auf die Erkenntnisse aus der Familien- und Zwillingsforschung angewiesen. Dank moderner technologischer Entwicklungen können heute Chromosomendefekte durch neue molekulargenetische Methoden erkannt werden; somit spielen aus medizinischer Sicht die frühe Diagnostik und eine umfassende genetische Beratung in der modernen Zeit eine tragende Rolle. Konnten früher bei vielen Erkrankungen keine eindeutigen genetischen Ursachen nachgewiesen werden, ist dies mit Hilfe neuartiger Methoden heute möglich. Damit liefert die moderne Humangenetik neue Möglichkeiten der Diagnosestellung in fast allen Bereichen der medizinischen Praxis.

Aus Anlass des 75. Geburtstages von Prof. Dr. med. Volker Steinbicker und zu Ehren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit veranstaltete das Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt am 19. Februar 2014 im Elternhaus am Universitätsklinikum Magdeburg ein Kolloquium, in dessen Fokus die beiden Fachgebiete klinische Genetik und Pädiatrie standen. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Muskelerkrankungen im Wandel der Zeit. So sollte der Kreis zwischen bewährtem klinischen Handeln und den neuesten molekulargenetischen Methoden geschlossen werden. Der Einladung zum interdisziplinären Austausch waren rund 50 Gäste aus stationären und ambulanten Einrichtungen sowie Weggefährten des Professors gefolgt. Zur Eröffnung überbrachte Dr. med. Heidemarie Willer vom Ministerium für Arbeit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt, welches das Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt seit 1995 finanziert, ein Grußwort. Die anschließende Vortragsreihe von Vertretern aus unterschiedlichen Fachgebieten eröffnete Prof. Dr. med. Martin Zenker aus dem Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Magdeburg. Ausgehend vom humanen Genom präsentierte er die neue diagnostische Optionen einschließlich „Next Generation Sequencing“. Beginnend bei der seit 3-5 Jahren zur Routinediagnostik gehörenden Technologie der DNA-Microarrays zeigte er anschließend deren Möglichkeiten und Grenzen sowie die Anwendung in der Diagnostik auf. Daran schloss sich die zunehmend an Bedeutung gewinnende Next Generation Sequencing (NGS)-Technologie an. Dabei ging er ebenfalls auf deren Möglichkeiten und Grenzen ein und stellte drei NGS-Anwendungsmöglichkeiten vor. Im weiteren Verlauf seines Vortrages griff er den „alten“ und „neuen“ diagnostischen Weg auf und wies darauf hin, dass trotz der modernen diagnostischen Optionen Fälle aufgrund von technischer Limitation und da bestimmte Mutationen nicht nachgewiesen werden können, ungelöst bleiben. In Zukunft werden Arrays zugunsten der Kopiezahlauswertung von Exom-Analysen verschwinden, ebenso wie Gen-Panels. Die klinische Expertise zur Selektion vor der Diagnostik wird weniger gefragt sein, hingegen wird die humangenetische Expertise zur Interpretation der Befunde anspruchsvoller werden und an Bedeutung gewinnen. Herrn Prof. Dr. Zenkers abschließendes Fazit war, dass für den Kinderarzt nicht alles einfacher wird, aber einiges anders.

Daran schloss sich der Vortrag von Oberärztin Dr. med. Petra Muschke aus dem Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Magdeburg an. Die Humangenetikerin konnte den Anwesenden anhand von Fallbeispielen aus der genetischen Beratung verdeutlichen, dass mit den neuen diagnostischen Optionen einige Fälle, die in der Vergangenheit nicht gelöst werden konnten, jetzt geklärt werden konnten. Sie stellte vier Familien mit unterschiedlichen Krankheitsbildern vor, deren Diagnosen erst mit Hilfe der neuen molekulargenetischen Methoden eindeutig gestellt werden konnten. Dabei sollte ihr Fallbeispiel eines Phelan-McDermid-Syndroms aufzei-gen, dass Array-Techniken und konventionelle Chromosomenanalyse derzeit eine gemeinsame Berechtigung in der Diagnostik neurokognitiver Störungen haben. Das Beispiel eines Patienten mit der Diagnose kyphoskoliotischer Typ des Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS VI) verdeutlicht, dass autosomal-rezessive Mutationen durch Mikrodeletionen „demaskiert“ werden können, da kein erhöhtes Risiko für das Wiederauftreten eines EDS VI bei weiteren Nachkommen, im Fallbeispiel der Mutter, besteht. In Familie 3 tritt eine familiäre mentale Retardierung mit der Diagnose eines 16p11.2-Mikrodeletionssyndrom auf. Dieses Fallbeispiel aus der genetischen Beratung zeigt, dass wieder auftretende Mikrodeletionssyndrome auch innerhalb einer Familie eine variable Ausprägung haben können. Mit Hilfe einer Mikroarrayanalyse konnte bei Familie 4, mit Bestehen eines familiären schweren MCA/MR-Syndroms, das Wolf-Hirschhorn-Syndrom nachgewiesen werden. Dieser Fall sollte verdeutlichen, dass in Fällen mit früher festgestellten Normalbefunden jetzt der Nachweis submikroskopischer Chromosomenstörungen möglich ist. Zusammenfassend sollte gezeigt werden, dass beim Fehlen einer klaren klinischen Verdachtsdiagnose die Mikroarrayanalyse derzeit die effektivste Technik zur Abklärung von Störungen der geistigen Entwicklung darstellt.

Unter der Überschrift „Was wir Herrn Becker außer der Becker-Kiener-Muskeldystrophie noch so verdanken…“ referierte Chefärztin Dr. med. Simone Pötzsch aus der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des HELIOS Vogtland-Klinikums in Plauen. Zunächst stellte sie zwei Patienten zur Thematik vor, sowie deren genetische Befunde des CLCN1-Gen. Daran anschließend ging sie kurz auf Professor Peter Emil Becker ein, der 1957 die Becker-Kiener-Muskeldystrophie beschrieb. Bereits vier Jahre zuvor hatte er schon die autosomal-rezessive Myotonia congenita beschrieben. Dieses Krankheitsbild erläuterte Frau Dr. med. Pötzsch den Anwesenden genauer. Zum Ausklang gab sie einen Einblick in ihre persönlichen Erinnerungen an Prof. Dr. med. Steinbicker. Neben verschiedenen Wörtern, die Frau Dr. Pötzsch mit Professor Steinbicker verbindet (Bsp.: Fehlbildungen, Jahresbericht, Kinderklinik, Folsäure, ICBDSR, Humangenetik, …), stellte sie eine Mindmap zu einem Projekt namens BIDIFE aus dem Fehlbildungsmonitoring vor, welches sie gemeinsam mit Prof. Steinbicker ins Leben rufen wollte. Jedoch entwickelte sich die Humangenetik so schnell weiter, dass die Projekt- idee verworfen werden musste.

Den Abschluss des Kolloquiums bildete ein Vortrag von Prof. Dr. rer. nat. R. Szibor ehemals aus dem Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Magdeburg. Er näherte sich dem schwierigen Thema Inzest und Konsanguinität unter genetischen und kulturhistorischen Aspekten. Ausgehend von den Begrifflichkeiten Inzest/Inzucht, Blutschande und Konsanguinität sowie den medizinisch-genetischen Risiken bei Inzest ging er auf den § 173 StGB „Beischlaf zwischen Verwandten“ ein. Er stellte Meinungen verschiedener Rechtsexperten unterschiedlicher Parteien zum Inzestparagrafen vor. Im weiteren Verlauf machte er deutlich, dass nicht nur das Auftreten von erkennbaren Erkrankungen ein Problem darstellt, sondern es auch genetisch bedingte Defizite unterhalb der Schwel-le zur Krankheit gibt. Er verwies darauf, dass die Herabsetzung der allgemeinen Heterozygotierate nachteilig ist, was durch Erfahrungen aus der Tier- und Pflanzenzüchtung gezeigt werden kann. Daran anknüpfend machte er darauf aufmerksam, dass Inzest einen häufigen Indikator für Schwangerschaftsabbrüche darstellt und häufig in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und/oder Vergewaltigung geschieht. In diesem Zusammenhang zeigte er auf, in welchen Weltreligionen das Inzestverbot von Bedeutung ist. Er griff das Inzestthema über die Ödipus-Sage bzw. den Ödipus-Komplex aus der Mythologie bzw. Psychoanalyse nach Freud auf und machte darauf aufmerksam, dass sich bereits verschiedene Filme und auch die moderne Literatur mit diesem Thema beschäftigt haben. Letztendlich lässt sich sagen, dass es Inzest schon immer gab und immer geben wird.

Mit dem Kolloquium schaute das Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt auf die hervorragende und engagierte Arbeit von Prof. Steinbicker zurück. Besondere Freude brachte die musikalische Umrahmung durch „Die 4 Grobiane“ mit Unterstützung von Marlene. Erfreulich ist zu erwähnen, dass alle Spenden, die im Rahmen des Kolloquiums erbracht wurden, der „Stiftung Elternhaus am Universitätsklinikum Magdeburg“ zu Gute kommen.

Autorin: Jenny Müller

Literatur und Kontakt:
Dr. med. Anke Rißmann
Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt
Leipziger Str. 44
39120 Magdeburg
Telefon: +49 391 67-14174
Telefax: +49 391 67-14176
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