Mara ist 12 Jahre alt. Seit ihrem 5. Lebensjahr leidet sie an einem malignen Hirntumor. Trotz langer multimodaler Therapieansätze ist die Erkrankung immer wieder rezidiviert. Nach kurzer Zeit einer Remission ist nun leider eine multiple Metastasierung diagnostiziert worden, kurative Therapiemöglichkeiten stehen nicht mehr zur Verfügung. Trotzdem benötigt Mara eine regelhafte ärztliche und pflegerische Betreuung. Ist es möglich, ihren Wunsch zu erfüllen?
Seit vielen Jahren werden Kinder in Sachsen-Anhalt palliativmedizinisch betreut. Meist ging diese Betreuung von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten aus, die das Kind während der Behandlung einer schweren Erkrankung versorgt haben. In erster Linie waren das kinderonkologisch tätige Kolleginnen und Kollegen, fast immer aber in hervorragender Zusammenarbeit mit niedergelassenen Kinderärztinnen und Kinderärzten, die insbesondere die regelhafte Betreuung der kleinen Patientinnen und Patienten vor Ort realisiert haben. Offizieller Teil der Tätigkeit in der Klinik oder im Praxisalltag war diese Betreuung in der Regel nicht, sie erfolgte häufig nach der Dienstzeit und am Wochenende. Ein breites Angebot an alle bedürftigen Kinder und Jugendlichen in Sachsen-Anhalt war so nicht möglich.
Seit 2007 gibt es einen Rechtsanspruch auf eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung, auch für Kinder (Sozialgesetzbuch V, §37b [1] [2007], Gemeinsamer Bundesausschuss [GBA], Richtlinie zur Verordnung von Spezialisierter Ambulanter Palliativversorgung [2007]), die Finanzierung obliegt den Krankenkassen. Der Anspruch auf eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung ergibt sich aus einer nicht heilbaren, fortschreitenden und bereits weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung (SGB V, §37b).
Sachsen-Anhalt als Flächenland stellt eine besondere Herausforderung für die flächendeckende Bereitstellung von SAPV für Kinder dar. Anhand statistischer Daten aus dem gesamten Bundesgebiet gibt es ca. 20 Kinder und Jugendliche pro 1 Million Einwohner, die aufgrund ihrer Krankheit und deren Verlauf einen gesetzlichen Anspruch auf eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung haben, wenn gewünscht. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl von Sachsen-Anhalt sind das ca. 45 Patientinnen und Patienten pro Jahr. In der SAPV für Erwachsene ist die Anzahl der Bedürftigen viel größer, mittlerweile ist der größte Teil von Sachsen-Anhalt von lokalen und regionalen SAPV-Teams abgedeckt. Eine ähnliche Struktur (lokale SAPV-Teams wie in anderen Bundesländern mit Ballungszentren oder höherer Bevölkerungsdichte) für die pädiatrischen Patienten ist in Sachsen-Anhalt anhand der Vorgaben für ein SAPV-Team (Empfehlungen GKV-Spitzenverband [2013]) nicht denkbar: 24h Rufbereitschaft für Ärzte (ca. 1,5-2 volle Arztstellen), Koordination mit 24h telefonischem Dienst, Pflegepersonal (ca. 3-4 volle Stellen), psychosoziale Mitarbeiter etc. Eine komplette Mitversorgung der Kinder und Jugendlichen durch die bestehenden SAPV-Teams der Erwachsenenbetreuung ist nicht sinnvoll: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!
Das Erkrankungsspektrum von pädiatrischen Patienten ist im Vergleich zu Erwachsenen ein anderes. Der größte Teil der erwachsenen Palliativpatienten leidet an einer (metastasierten) Krebserkrankung, der Anteil der pädiatrischen Palliativpatienten mit onkologischer Grunderkrankung ist dagegen deutlich geringer. Man unterscheidet in der pädiatrischen Palliativmedizin vier Patientengruppen. Eine Gruppe sind Patienten mit einer akuten Erkrankung, bei denen die kurative Therapie versagt hat (z. B. Krebserkrankungen). Eine zweite Gruppe von Erkrankten leidet an einer chronischen, stetig progredienten Erkrankung, in der zeitlebens eine intensive Supportivtherapie notwendig ist, aufgrund der Progredienz aber eine palliative Situation entstehen kann (z. B. Muskeldystrophien, zystische Fibrose). Eine weitere Gruppe von Erkrankungen sind Stoffwechselerkrankungen und neurodegenerative Erkrankungen; die Patienten erleben teilweise eine Progression ihrer Erkrankung über Jahre, haben aber zeitlebens einen palliativen Therapieansatz. Eine vierte Gruppe von Erkrankten sind kleine Patientinnen und Patienten, welche stark beeinträchtigende Störungen von Körperfunktionen haben, die keiner stetigen Progression unterliegen, jedoch eine deutlich erhöhte Anfälligkeit von krisenhaften Verläufen über Jahre haben (z. B. nach Frühgeburt oder Asphyxie).
Die Betreuung der pädiatrischen Patienten kann über Jahre (auch intermittierend) erfolgen; häufig haben sie Erkrankungen, die in der Erwachsenenmedizin aufgrund der eingeschränkten Lebenserwartung der Grunderkrankung nur in seltenen Fällen auftreten. Aufgrund dieses Spektrums an Erkrankungen sind die Schnittstellen mit der SAPV für Erwachsene eher gering, eine Betreuung unserer Kinder sollte einvernehmlich durch auf die Betreuung von Kindern spezialisiertes Personal erfolgen. Zusätzlich beinhaltet die pädiatrische Palliativmedizin auch die Mitbetreuung von Familien (insbesondere von Geschwistern) und Entlastungsangebote an Familien zur vorübergehenden Betreuung von kleinen palliativen Patientinnen und Patienten.
Um auch in Sachsen-Anhalt von einer lokalen bis regionalen Betreuung von einzelnen Patientinnen und Patienten zu einem landesweiten Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche mit Anspruch und Wunsch auf SAPV zu kommen, waren neue Ideen und eine Bündelung der Kompetenzen notwendig. Seit Oktober 2014 gibt es das Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt, durch welches eine flächendeckende palliative Betreuung von Kindern in Sachsen-Anhalt gemäß SAPV-Richtlinien angeboten werden kann. Das Kinderpalliativnetz setzt sich zusammen aus Fachärzt(inn)en für Kinder- und Jugendmedizin mit Zusatzbezeichnung Palliativmedizin, Pflegediensten (SAPV), ambulanten (Kinder-)Hospizdiensten, (Kinder-)Hospizen und vielen anderen. Gründungsmitglieder waren das SAPV-Team der Pfeifferschen Stiftungen Magdeburg, das Universitätsklinikum Halle/Saale (Kinderpalliativteam Clara), die Anhaltische Hospiz- und Palliativgesellschaft Dessau, der Malteser Hilfsdienst Magdeburg und der Ambulante Kinderhospizdienst Halle. Die Koordination (Case-Management) erfolgt über das SAPV-Team der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg. Eine Finanzierung der SAPV-Betreuung für Kinder anhand bestehender Verträge mit Krankenkassen ist aktuell nicht in dem Rahmen, wie vom Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt angeboten und allgemein von SAPV gefordert, denkbar und nur durch die Unterstützung der Pfeifferschen Stiftungen realisierbar. Trotz der schon gebündelten Kompetenzen ist das Netz auf Kooperationen mit anderen Spezialisten und Fachbereichen landesweit angewiesen (niedergelassene Kinderärztinnen und Kinderärzte, Apotheken, Sanitätshäuser, Pflegedienste, ambulante Hospizdienste, Leitstellen etc.); diese Kooperationen sind ausdrücklich erwünscht! Die SAPV durch das Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt ersetzt auf keinen Fall bestehende Strukturen, sondern soll unterstützend und beratend für die betroffenen Familien und das bestehende Betreuerteam fungieren.
Das Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt schafft die Voraussetzungen für eine SAPV für Kinder in Sachsen-Anhalt, nur durch die Zusammenarbeit mit allen Kooperationspartnern und die Bündelung der Kompetenzen in Sachsen-Anhalt können wir gemeinsam unsere kleinen Patientinnen und Patienten landesweit betreuen. Aktuell wird der ärztliche 24h-Bereitschaftsdienst von vier aktiven Kolleginnen und Kollegen gewährleistet (teilweise als zusätzliche Nebenbeschäftigung, teilweise als zusätzliche Dienste im Rahmen ihrer Anstellung). Eine Erweiterung auch der ärztlichen Kompetenz ist sehr wünschenswert. Das Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt bietet die vollständige Struktur einer Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) von Kindern und Jugendlichen, die an Erkrankungen des gesamten geschilderten Spektrums leiden. Sehr gern stehen wir auch beratend bei Fragen rund um die Betreuung von schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen zur Verfügung.
Die kleine Mara musste nicht mehr ins Krankenhaus. Die Betreuung der kleinen Patientin zu Hause wurde durch das Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt sichergestellt. Sie konnte die ihr verbleibende Zeit zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung mit ihrer Familie verbringen, anstrengende Fahrten und Übernachtungen in Krankenhäuser blieben ihr erspart. Diesen einen kleinen Wunsch konnten wir ihr und ihrer Familie erfüllen.
Dr. KühnölKorrespondenzanschrift:
Dr. med. Caspar D. Kühnöl
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Palliativmedizin
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Halle, Medizinische Fakultät
Kinderonkologie
Kinderpalliativteam „Clara”
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ernst-Grube-Straße 40, 06120 Halle
Tel.: 0345-557-3206/2388
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