eine Würdigung zu ihrem 300. Geburtstag
Am 13. November 2015 begehen wir den 300. Geburtstag der ersten deutschen Ärztin Dorothea Christiane Erxleben (1715-1762). Zu ihrem Umfeld gehörte eine Reihe bedeutsamer Vertreter der Medizin- und Geistesgeschichte. Es lohnt sich, deren Leben und Wirken auf das der Jubilarin zu beziehen, weil sich dadurch neue überraschende Sichtweisen auf die Ärztin ergeben. Zusätzliche Bedeutung gewinnt dieser Ansatz, wenn man dabei die von K. Markau im Jahre 2006 publizierte grundlegende Analyse der Dissertation der Dorothea Ch. Erxleben einbezieht.
Georg Christoph Lichtenberg – ein Verwandter des Doktorvaters der D. Ch. Erxleben
Zu den in diesem Zusammenhang wichtigen Persönlichkeiten gehört neben den Angehörigen der Ärztefamilie Juncker auch der große Physiker G. Ch. Lichtenberg (1742-1799). Ihm verdanken wir wesentliche Beiträge zur Elektrizitätslehre, vor allem jedoch geistvolle Aphorismen, die im deutschen Sprachraum nicht ihresgleichen haben. So heißt es in einem seiner Spruchweisheiten: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“
Aus seinen Werken klang es niemals hohl und sein Verstand war von so glasklarer Schärfe, dass so mancher von ihm attackierte Hohlkopf allen Anstand verlor und die kleine verkrüppelte Gestalt des großen Spötters zum Ziel seiner Angriffe machte. Die Kyphoskoliose des Physikers und Schriftstellers begann sich schon in seiner frühen Kindheit auszubilden, sodass er der Ermutigung seines Vaters, des Darmstädtischen Superintendenten Johann Konrad Lichtenberg (1689-1751) in besonderer Weise bedurft hätte. Leider starb dieser schon, als der Junge 9 Jahre alt war. Das Geld der bis dahin wohlhabenden Familie reichte nur für das Studium seiner drei älteren Brüder, die wie schon der Vater an der Universität Halle/S. Theologie und Jura studierten. Sie wohnten in dieser Zeit im Hause des Halleschen Arztes Johann Eberhard Juncker (1691-1764), der mit einer Tante G. Ch. Lichtenbergs verheiratet war. Es war der jüngere Bruder Johann Junckers (1679-1759), des Doktorvaters der D. Ch. Erxleben. Für ihren jüngsten Sohn Georg Christoph musste die Witwe des Superintendenten Konrad Lichtenberg um ein Stipendium des Landgrafen von Hessen-Darmstadt nachsuchen, wodurch ihm in Göttingen ein Studium der Mathematik in den Jahren 1763-1767 ermöglicht wurde. Dabei befreundete er sich mit seinem Kommilitonen Johann Christian Polycarp Erxleben (1744-1777), dem ältesten leiblichen Sohn der D. Ch. Erxleben geb. Leporin, der ersten promovierten Ärztin Deutschlands.Das Leben, eine frühe Schrift und die Dissertation der ersten Ärztin Deutschlands
Dorothea Christiane, die heilkundige Tochter eines Arztes, berichtete in ihrer Autobiographie, dass sie die ersten Jahre ihres Lebens „in großer Schwachheit und fast beständigen kränklichen Umständen“ zugebracht habe. Da ihr Vater bemerkte, dass sie ihre „Zustände“ weniger fühlte, wenn sie ihren Bildungshunger befriedigen konnte, erlaubte er ihr, an der von ihm betriebenen intensiven Vorbereitung ihres zwei Jahre jüngeren Bruders auf das Medizinstudium teilzunehmen. Der Direktor des Quedlinburger Gymnasiums Tobias Eckhard (1662-1737) unterrichtete sie in der lateinischen Sprache. Bald darauf studierte sie die Werke der Halleschen Mediziner Michael Alberti (1682-1757), Johann Juncker und Ernst Georg Stahl (1659-1734). Als junge Frau verfasste sie die Schrift „Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten...“. Wie heißt es doch bei G. Ch. Lichtenberg: „Sobald einer ein Gebrechen hat, so hat er seine eigene Meinung“. Dorothea Ch. Erxleben hatte eine ganz dezidierte Überzeugung und verwies in diesem Aufsatz die Gründe, die gegen das Frauenstudium vorgebracht wurden, in das Reich der Vorurteile und Mythen.
Dennoch ging sie im Jahre 1742 die Ehe mit dem verwitweten Quedlinburger Diakon J. C. Erxleben (1697-1759) ein, dessen erste Frau, eine befreundete Cousine Dorotheas, fünf „unerzogene Kinder“ zurücklassend im Jahre 1741 gestorben war. Die junge Frau verzichtete zunächst darauf, die ihr schon im Jahre 1741 von Friedrich II. (1712-1786) eingeräumte Möglichkeit zur Promotion wahrzunehmen, nahm sich der ihr anvertrauten Kinder ihres Mannes an, „daß solche den frühen Verlust ihrer leiblichen Mutter nicht fühleten“ und bekam eigene Kinder.
Die Patientenbehandlung gab sie aber nicht auf. Die ärztlichen Kollegen verklagten sie jedoch beim Stiftshauptmann wegen Kurpfuscherei und legten ihr den Tod einer am Fleckfieber gestorbenen Frau zur Last. Dabei war das Gewissen der Kläger, um es wie G. Ch. Lichtenberg auszudrücken, wohl nicht ganz „geldfest“. Büßten sie doch „manch hübsches Sümmchen“ durch die erfolgreiche Tätigkeit der ärgerlichen Konkurrentin ein.
Diese ersuchte den König erneut um die Bewilligung zur Promotion, die ihr erteilt wurde. Sie verfasste eine Dissertation, deren ins Deutsche übersetzte Titel „Abhandlung von der geschwinden und angenehmen, aber deswegen öfters unsichern Heilung der Krankheiten“ lautet.
Darin gelang ihr das Kunststück, die Anhänger des Klinikers Prof. Friedrich Hoffmann (1660-1742) ebenso zufriedenzustellen, wie die Jünger seines Rivalen Ernst Georg Stahl. Hoffmann betrachtete den Körper als Maschine, die unabhängig von der Seele den Gesetzen der Mechanik gehorcht. Dagegen hob Stahl hervor, dass eine „Anima“ als Lebensprinzip existiere, die der Materie Leben einhauche. Dorothea Ch. Erxleben vermochte dies, indem sie das Augenmerk auf die Klinik lenkte. Denn am Krankenbett nivellierten sich die Gegensätze beider Konzeptionen. Die Ärztin verlangte vor allem Sicherheit und Gründlichkeit der Therapie. Ausgehend von der These „Wer nicht warten kann, kann nicht heilen“, stellte sie den richtigen Zeitpunkt des Einsatzes der Medikamente, aber auch die richtige Dosierung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Dabei plädierte sie für den sehr vorsichtigen und differenzierten Einsatz, sowohl der schweißtreibenden, als auch der Brech- und Abführmittel. An anderer Stelle hob sie die Gefahren der Opiat-Therapie hervor.
Interessant ist ihre Einteilung der Ärzte in solche, die ihre Patienten verstehen, begleiten und zeitgerecht zu therapieren suchen und andere, die zu übereilten aggressiven medikamentösen Maßnahmen neigen, wodurch sie sehr schaden, ja sogar vorzeitigen Tod verursachen können (K. Markau 2006). Diese vor allem meinte wohl G. Ch. Lichtenberg mit seiner sarkastischen Bemerkung: „Der Pastor baut den Acker Gottes und der Arzt den Gottesacker.“ D. Ch. Erxleben merkte jedoch an, dass sich beide Gruppen in ständiger Gefahr befinden, den Wünschen der Patienten wider besseres Wissen zu folgen, um sich bei ihnen angenehm zu machen. Auch dadurch könne eine gründliche Kur zunichte gemacht werden.
Im Jahre 1754 verteidigte die sehr erfahrene Ärztin ihre Dissertation in öffentlicher Sitzung unter dem Vorsitz von Johann Juncker, der ihre Arbeit über die Maßen lobte und sie mit „Summa cum laude“ bewertete. Der berühmte Mediziner leitete seit 1717 das Klinikum im Waisenhaus und wirkte seit 1729 als ordentlicher Professor an der Medizinischen Fakultät der Halleschen Universität. Da die Studenten in der Krankenabteilung des Waisenhauses klinischen Unterricht erhielten, was zu dieser Zeit andernorts noch unüblich war, gilt diese Einrichtung als ältestes Universitätsklinikum Deutschlands. Johann Juncker heiratete 1725 wie sein jüngerer Bruder Eberhard in zweiter Ehe eine Tante G. Ch. Lichtenbergs. Das Paar wurde in der Marktkirche zu Halle/S. getraut. Die junge Frau starb jedoch schon nach einem Jahr bei der Geburt ihrer Tochter, die später den Arzt Peter Nicolai Neugart(en) von Gartenberg (1714-1786) heiratete, der zu den Vertrauten des allmächtigen sächsischen Ministers Graf Heinrich von Brühl (1700-1763) gehörte.
G. Ch. Lichtenberg und sein Freund, ein leiblicher Sohn der ersten Ärztin Deutschlands
Auf Grund seiner familiären Verbindungen zu den Gebrüdern Juncker wusste G. Ch. Lichtenberg sicher schon von der spektakulären Promotion der Frau Erxleben, als er sich mit ihrem ältesten leiblichen Sohn Johann Christian Polycarp in Göttingen befreundete. Dieser war nach dem frühen Tod der Mutter, die schon mit 47 Jahren 1762 am Brustkrebs gestorben war, ins Haus ihres geliebten Bruders, des Arztes Christian Polycarp Leporin (1717-1791) aufgenommen worden.
Er studierte in den Jahren 1763 bis 1767 in Göttingen Medizin, widmete sich jedoch im Jahre 1768 seinen naturwissenschaftlichen Neigungen und hörte zusammen mit Georg Christoph Lichtenberg bei Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800) Physik und Naturlehre.
Schon in seiner Dissertation bearbeitete J. Ch. P. Erxleben ein zoologisches Thema. Später verfasste er einige Werke, die sich mit der Tierarzneikunde beschäftigten und begründete in Göttingen das erste veterinärmedizinische Institut Deutschlands. Im Jahre 1771 wurde Erxleben zum außerordentlichen und 1775 zum ordentlichen Professor für Experimentalphysik ernannt. Bald war er ein so viel beschäftigter Mann, dass er seinen Freund G. Ch. Lichtenberg bat, den von ihm redigierten „Göttinger Taschen-Calender“ zu übernehmen, der das Periodikum erfolgreich weiterführte.
G. Ch. Lichtenberg nannte den „Calender“ aus Pietät gegenüber dem Freund „Den Erxleben“. Später übernahm er auch die Neuausgabe von J. Ch. P. Erxlebens Physikbuch „Geschichte der Naturlehre“, nachdem der junge Kollege, gerade 33 Jahre alt, im Jahre 1777 an einer Tuberkulose gestorben war. Vom kongenialen Freund und Kollegen weitergeführt, überlebte das Werk des Wissenschaftlers.
Nicht vergessen sollte man jedoch, dass dessen Mutter, die Ärztin D. Ch. Erxleben, die naturwissenschaftlichen Neigungen ihres ältesten Sohnes frühzeitig geweckt hatte. G. Ch. Lichtenberg ging der Tod des Freundes sehr nahe. In einem Brief schrieb er: „Ein großer Verlust für die Universität. Er hat eine Frau mit 3 kleinen Kindern hinterlassen, das vierte starb einige Monate vor ihm an den Präservationspocken.“ Man überimpfte damals die natürlichen Pocken, um ihren Verlauf milder zu gestalten. Johann Juncker d. J. und sein Kampf gegen die Pocken
Obwohl nur dieses riskante Verfahren bekannt war, versuchte der Arzt Johann Juncker d. J. (1761-1800), der gleichnamige Enkel des berühmten Doktorvaters der Dorothea Christiane Erxleben, die Pocken zu besiegen, indem er alle Pockenkranken in dazu eingerichteten Lazaretten zu isolieren vorschlug.
Der Gedanke, den Infektionskrankheiten durch Isolierung Einhalt zu gebieten, war nicht neu. So hatte zum Beispiel D. Ch. Erxleben den Bediensteten des Reichsstiftes Quedlinburg jegliche Reisen untersagt, als die Stiftsdechantin an den Blattern erkrankt war. Johann Juncker d. J. verfolgte sein Ziel jedoch mit eiserner Konsequenz. Er hatte nach Friedrich Schlichtegroll (1765-1822) in Halle/S. und Göttingen unter anderem auch bei G. Ch. Lichtenberg studiert und war wegen seiner schwankenden Gesundheit besonders von Johann Friedrich Stromeyer (1750-1830), dem Schwager J. Ch. P. Erxlebens betreut worden. Nach Halle zurückgekehrt, versuchte er durch Reden, Memoranden und Artikel nicht nur seine Kollegen, sondern auch die Behörden von seinen Vorstellungen zu überzeugen. Er gründete sogar einen Fonds zur Bekämpfung der Pockenkrankheit, den er mit eigenen Mitteln ausstattete. Kurz vor seinem Tode im Jahre 1800 erfuhr er von der Veröffentlichung Edward Jenners (1749-1823), der beweisen konnte, dass man durch die Überimpfung der harmlosen Kuhpocken beim Menschen Immunität gegen die gefährliche epidemische Pockenkrankheit auslösen kann und impfte seine einzige Tochter.
Dorothea Christiane Erxleben und Christoph Wilhelm Hufeland - Verwandte im Geist
Die Durchsetzung dieser Impfung in Preußen gelang jedoch erst Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), einem anderen Schüler G. Ch. Lichtenbergs, der später durch sein Buch „Makrobiotik“ berühmt wurde. Darin propagiert er eine sanfte Medizin und bekennt sich zu einer gesunden Lebensweise, die bei ihm nicht nur das körperliche, sondern auch das psychische Wohl umfasst.
Ähnliche Ansichten äußerte schon D. Ch. Erxleben, Gedanken Ernst Ludwig Stahls und Johann Junckers d. Ä. aufnehmend, in ihrer Dissertation. Sie lehnte darin die Unterdrückung der „heilsamen Bewegungen der Natur“ ab und verwarf aggressive Maßnahmen, die Ch. W. Hufeland 50 Jahre später unter den Begriff der „heroischen Medizin“ zusammenfasste. Das Leiden des verehrten Lehrers G. Ch. Lichtenberg, der von sich selbst in dritter Person sprechend formulierte: „Er hatte mehrere Krankheiten, allein seine Hauptstärke besaß er im asthmatischen Fache“, konnte freilich durch Diät allenfalls gemildert werden. Er erlitt im Oktober 1789 mehrere schwere Asthmaanfälle, denen ein zwölfwöchiges Krankenlager folgte. Die Behandlung übernahm der schon einmal erwähnte Prof. Stromeier, der jedoch den bekannten Chirurgen und Mediziner August Gottlieb Richter (1742-1812) zur Hilfe rief. Dieser wirkte in Göttingen, stammte aber aus Zörbig, einem kleinen Ort bei Halle/S. Richter behandelte den Patienten mit Hyoscyaminum album, einer Droge, die Atropin enthält und mit „Zinkblumen“.
Das letztgenannte Präparat, das gerade in die Therapie eingeführt worden war, ist heute aber längst verlassen worden. Zinkexperten billigen ihm jedoch neben der immunstimulierenden auch eine umstimmende Wirkung zu. Somit dürfte es sich um ein Medikament gehandelt haben, das D. Ch. Erxleben sicher nicht verdammt hätte. Die bei den Lungenkranken häufig benutzten Expektorantien sah sie allerdings kritisch und warnte vor ihrem Missbrauch.
Richter stand G. Ch. Lichtenberg bis zu seinem Tod im Jahre 1799 mit Rat und vor allem mit Trost bei. Trotz seines großen Ruhmes blieb er bescheiden und nannte sich einen erfahrenen Arzt, „der täglich findet, daß er sich irrt“. Das verbindet ihn mit der Haltung der nicht weniger erfahrenen Ärztin Dorothea Christiane Erxleben, die am Ende ihrer glänzenden Dissertation bekennt, dass sicher noch vieles hinzugefügt und vielleicht auch verbessert werden könnte.
MR Dr. Dietmar Seifert