Am Freitag, den 15. November 2019, fand auf dem Campus der Medizinischen Fakultät der dritte Ethiktag der Universitätsmedizin Magdeburg statt.

Operations- und Intensivabteilungen gehören zu den hochtechnisierten Abteilungen eines Krankenhauses. Hier sind Arbeitsabläufe straff organisiert, jede Minute wird effektiv genutzt. Von den Mitarbeitern verlangt dies ein hochspezialisiertes Können, Flexibilität und Teamwork. So werden Grenzen des medizinisch Machbaren täglich erweitert. Zugleich ist die Gefahr, den Menschen hinter all den technischen Möglichkeiten der modernen Medizin zu vergessen, in diesen Bereichen besonders groß. Nicht zuletzt geht es hier um viel Geld. Fragen zur Ethik drängen sich auf. Sollen wir alles tun, was wir können?
Manchmal hilft es den Beteiligten, das eigene Tun mit ein wenig Abstand unter die Lupe zu nehmen, laut nachzudenken und sich auszutauschen. Im Rahmen des dritten Ethiktages waren hierzu Ärztinnen, Ärzte, Pflegende, OTAs sowie alle interessierten Mitarbeiter, Studierende und Azubis eingeladen.
Dr. Florian Prätsch, ärztlicher Leiter der anästhesiologischen Intensivstation der Uniklinik Magdeburg, referierte zum Thema „Gemeinsame Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin“. Prätsch legte dar, dass der demografische Wandel der letzten zwei bis drei Jahrzehnte auch das Patientenklientel der Intensivmedizin verändert habe. Heute würden überwiegend chronische, altersassoziierte Erkrankungen intensivmedizinisch behandelt. Weiter gehe aus einer groß angelegten Studie auf 37 Intensivstationen in Europa hervor, dass bei 72 Prozent der Verstorbenen dem Tode eine Therapiebegrenzung vorausgegangen sei. (The Ethicus Study 2003). Dies bedeute, dass Therapiezieländerungen und Entscheidungen zur Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin häufig und weit verbreitet seien. Trotzdem herrsche in Teilen der Bevölkerung Angst vor einer „Übertherapie“. Diese sei oftmals Grund für das Verfassen von Vorsorgedokumenten. Auch gehe aus Umfragen zur medizinischen Indikation unter Ärzt*innen und Pflegenden hervor, dass sie intensivmedizinische Szenarien bei sich selbst tendenziell eher ablehnten als bei ihren Patient*innen. Es sei also geboten, Gründe für nicht durchgeführte Therapiebegrenzungen, obwohl diese aus professioneller Sicht sinnvoll gewesen wären, genauer zu betrachten.
Prätsch trug zusammen, dass diese Gründe neben einem möglichen ausdrücklichen Wunsch des Kranken oder der Angehörigen nach maximaler Therapie oftmals in der medizinischen Praxis selbst lägen. So würden ein geringes Alter des Betroffenen sowie eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur und fehlende Berufserfahrung des behandelnden Arztes eine „Übertherapie“ fördern. Weitere, systemimmanente Gründe für eine unterlassene Therapiebegrenzung seien lückenhafte Informationen zum Fall, ein Dissens zwischen den Vertretern verschiedener ärztlicher Disziplinen und/oder zwischen den Professionen, eine gewisse Unternehmenshaltung und finanzielle Fehlanreize. Dabei hätten Studien gezeigt, dass eine Entscheidung zur Therapiebegrenzung bei chirurgischen Patienten wesentlich später gefällt und viel seltener mit den Betroffenen/Vertretern besprochen und dokumentiert würde als bei anderen Kranken. Diese Beobachtung ließe sich teilweise durch das vorherrschende Selbstverständnis von Chirurgen als „heroische Kämpfer gegen Krankheiten, die sich in höchstem Maße verantwortlich für den Patienten fühlen“, erklären.
Der zweite Teil des Vortrages richtete den Blick auf Instrumente zur Vorsorge und antizipierten Willensbekundung von Patienten und damit einhergehende Herausforderungen. Die bisherige Praxis habe gezeigt, dass Patientenverfügungen in Akutsituationen im Intensivbereich kaum aussagekräftig seien. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer empfehle daher, Patienten beim Verfassen dieser Dokumente zu unterstützen, insbesondere, „wenn bei einer bevorstehenden Behandlung oder in einem absehbaren Zeitraum der Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten [sei]“ (ZEKO 2018).
Der zweite Referent thematisierte die Frage, wie Ethik im OP gelebt werden könne. Dr. Jörg Fabian Pokall, Oberarzt der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin im AMEOS Klinikum Anklam und Ethikberater im Gesundheitswesen, konnte dabei aus seiner langjährigen Erfahrung als freiberuflicher Honorararzt in Kliniken in Deutschland, Frankreich und Australien schöpfen. Insbesondere die Einführung des DRG-Systems hätte dazu geführt, dass technisierte, häufig ärztliche Verrichtungen aufgewertet und Beziehungsarbeit abgewertet würden. Zusammen mit dem zeitgleich einhergehenden Pflegenotstand bewirke dies, dass sich Patienten besonders im operativen Bereich wie Werkstücke behandelt fühlten. Ein „handwerklich gutes Ergebnis“ hinterlasse dabei nicht zwangsläufig einen zufriedenen Patienten. Der Referent nahm das Publikum mit auf eine gedankliche Reise, wie trotz der gegebenen Umstände eine ethische Reflexion des eigenen Handelns gelingen könne. Dazu helfe eine bewusste Exposition in die Patientenperspektive, im Konkreten: auf die Liege legen, Blick zur Decke richten, sich beatmen lassen. Postoperative Evaluationsbögen helfen, die Sicht der Patienten besser zu verstehen und bieten oft große Überraschungen.
Weiter: „Professionalität schafft Raum für Menschlichkeit.“ Humor und Nähe seien wichtig, aber nur wenn sie nicht unreflektiert verbreitet würden. Standard Operating Procedures und Algorithmen erhöhten nicht nur die Patientensicherheit, sondern auch die eigene (Selbst-)Sicherheit im Umgang mit Kollegen und Patienten. Dies ermögliche, individuelle Bedürfnisse zu erkennen und auf sie einzugehen. Pokall zitierte dabei die Ergebnisse einer 2012 veröffentlichten Studie, welche die „Surgical Safety Checklist“ der WHO und deren Auswirkungen auf die Komplikationsrate und die interdisziplinäre Kommunikation untersuchte. Demnach konnte durch die Anwendung der Checkliste die perioperative Letalität um 47 bis 62 Prozent gesenkt werden. Voraussetzung: vorbildliche Umsetzung durch Führungskräfte! Ein gemeinsames Team Time Out vor dem Hautschnitt könne jedoch auch als Plattform für eine Kommunikation auf Augenhöhe dienen, vor allem aus einer hierarchisch übergeordneten Position. Regelmäßige interdisziplinäre und multiprofessionelle Teamsitzungen mit gleichberechtigten Wortmeldungen helfen dabei, eine sich gegenseitig wertschätzende Haltung zu entwickeln. Nicht zuletzt stehe jeder Einzelne in der Verantwortung, dort, wo die eigenen oder allgemein anerkannten moralischen Überzeugungen nicht mit der Arbeitsrealität zusammenpassen, dies zu artikulieren.
Am Nachmittag wurden die Vortragsthemen in Workshops vertieft. Hierbei diskutierten die Teilnehmer Fallbeispiele aus der Praxis von Dr. Uwe Lodes (geschäftsführender Oberarzt der Intensivmedizin am Uniklinikum Magdeburg) und Tamari Koghuashvili (OPA der Pfeifferschen Stiftungen). Die Vortragsfolien des dritten Ethiktages können auf der Webseite der Universitätsmedizin Magdeburg abgerufen werden (www.med.uni-magdeburg.de > Zentrale Einrichtungen > Service > Klinisches Ethikkomitee). Der nächste Ethiktag findet am 19. Juni 2020 zum Thema „Vorausschauende Behandlungsplanung“ statt.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Eva Brinkschulte,
Anna Urbach
Klinisches Ethikkomitee (KEK)
c/o Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Medizinische Fakultät
Leipziger Straße 44
39120 Magdeburg
Tel.: 0391/6724340
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Foto: Susanne Doetz