Diakoniekrankenhaus Halle (Saale)Die Geriatrie in Sachsen-Anhalt, eine Standortbestimmung – insbesondere unter Berücksichtigung des bundesweiten Geriatriekonzeptes

Geriatrie führt akutmedizinische, fachübergreifend frührehabilitationsmedizinische und rehabilitationsmedizinische Behandlungen durch, zumeist über die reine Organmedizin hinaus und erbringt zusätzliche Leistungen vor allem im Bereich der multidisziplinär orientierten Diagnostik und funktionellen Therapie, sowie im Bereich der Prävention und der Palliation. Geriatrische Medizin muss sich häufig mit dem Problem gestörter Willensbildung und dem besonderen rechtlichen Schutzbedürfnis der Kranken befassen.

Im Rahmen der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes Geriatrie im November 2018 in Potsdam haben die Vertreter der Mitgliedseinrichtungen erstmalig ein bundesweites Geriatriekonzept verabschiedet. Der Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie, wie er in den Bundesländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Berlin etabliert werden konnte, war auch ein Diskussionspunkt. Durch Einwirkung des Vorstandes des Landesverbandes Sachsen-Anhalt fand diese Gebietsbezeichnung auch ihren Niederschlag im bundesweiten Geriatriekonzept. Es ist als große Errungenschaft zu bezeichnen, dass diese drei Bundesländer es geschafft haben, eine Gebietsbezeichnung Geriatrie zu etablieren (in der Inneren Medizin). Die Empfehlungen dafür kamen von verschiedenen Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Geriatrie – DDG, Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie – DGGG, Berufsverband Deutscher Internisten e. V. – BDI, Bundesverband Geriatrie – BVG). Bzgl. der Geriatrie als Teil der Inneren Medizin gibt es auch eine Sektion im BDI.

Das Instrument für die funktionelle Einschätzung des Älteren ist das Geriatrische Assessment Die Versorgung betagter und hochbetagter Patienten wird in den kommenden Jahren noch stärker in den Fokus des deutschen Gesundheitssystems rücken als dies in den letzten Jahren der Fall war. Die demografische Entwicklung und die damit verbundenen Herausforderungen – unter anderem zum gesundheitspolitischen Grundsatz „Rehabilitation vor und bei Pflege“ erfordern eine konsequente Weiterentwicklung und den kontinuierlichen Ausbau geriatriespezifischer Versorgungsstrukturen.

Die Geriatrie ist eine medizinische Spezialdisziplin, die sich aus dem besonderen Behandlungs- und Versorgungsbedarf betagter und hochbetagter Menschen entwickelt hat. Sie nutzt Instrumente zur Identifikation individueller Ressourcen, leitet daraus umfassende Behandlungsziele ab und bringt die Kompetenz des geriatrischen Teams im individualisierten Therapieplan zum Einsatz.

Der geriatrische Patient definiert sich durch: Multimorbidität und höheres Lebensalter (überwiegend 70 Jahre oder älter); die Multimorbidität ist hierbei vorrangig vor dem kalendarischen Alter zu sehen; oder durch Alter 80+ aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, zum Beispiel wegen des Auftretens von Komplikationen und Folgeerkrankungen, der Gefahr der Chronifizierung sowie des erhöhten Risikos eines Verlustes der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus (2).

Die geriatrische Versorgung sieht ein abgestuftes Versorgungssystem vor, welches vollstationäre sowie teilstationäre Angebote beinhaltet.

Geriatrische Patienten bedürfen im Krankenhaus einer individualisierten, spezifischen, altersmedizinischen Behand­lung, welche auf die individuellen Bedarfe abgestimmt ist. Die Defizite und Ressourcen werden mittels geriatrischem Assessment ermittelt. Die geriatrische Komplexbehandlung wird von einem multidisziplinär zusammengesetzten Behandlungsteam durchgeführt, zu dem Ärzte, spezialisierte Pflegekräfte, Physio- und Ergotherapeuten, Neuropsychologen und Logopäden sowie Sozialarbeiter gehören.

Das Vorhandensein neuropsychologischer Kompetenz stellt ein Qualitätsmerkmal hinsichtlich kognitiver Bewertungsmöglichkeiten dar. Dies ist im Diakoniekrankenhaus Halle seit Jahren der Fall, auch eine Angehörigenschulung für Demenzpatienten wird seit Jahren regelmäßig angeboten. Charakteristisch für eine qualitätsgerechte geriatrische Versorgung ist das Vorhandensein einer personellen, räumlichen und apparativen Mindestausstattung, die sicher stellt, dass die bei der Behandlung älterer Patienten auftretenden komplexen Anforderungen sowohl in akutmedizinischer wie rehabilitativer Hinsicht erfüllt werden können.

Die Behandlung der vulnerablen geriatrischen Patienten umfasst regelhaft sowohl akutmedizinische als auch frührehabilitative Elemente. Die geriatrische Frührehabilitation ist integraler Bestandteil der Versorgung geriatrischer Patienten und sollte frühestmöglich einsetzen. Auf Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über eine Richtlinie zur Versorgung der hüftgelenknahen Femurfraktur wurde die Zusammenarbeit von Geriatrischen Abteilungen sowie Abteilungen der Unfallchirurgie, welche bereits erfolgreich vielerorts etabliert wurde, festgeschrieben. Am 22. November 2019 hat der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Sitzung die Richtlinie über Maßnahmen zur Qualitätssicherung zur Versorgung von Patienten mit einer hüftgelenknahen Femurfraktur gemäß § 136 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Richtlinie zur Versorgung der hüftgelenknahen Femurfraktur/QSFFx-RL) beschlossen (8). Die Ziele dieser Richtlinie umfassen u. a. die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen und frühestmöglichen operativen Versorgung von Patienten mit einer hüftgelenknahen Femurfraktur, in der Regel innerhalb von 24 Stunden, sofern der Allgemeinzustand der Betroffenen dies zulässt. Das Krankenhaus muss, bezogen auf den die Patientinnen und Patienten mit hüftgelenknaher Femurfraktur versorgenden Standort, Mindestanforderungen jederzeit erfüllen (8). In dem Lehrbuch „Geriatrisches Assessment und Testverfahren“ wird der Pfad „hüftgelenknahe Fraktur“ dargestellt. Die Geriatrische Klinik und Tagesklink des Diakoniekrankenhauses Halle betreibt bereits mehrjährig gemeinsam mit der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ein Alterstraumatologisches Zentrum, welches im Dezember 2019 erfolgreich zertifiziert werden konnte. Eine gute Zusammenarbeit hat sich aber auch im Laufe vieler Jahre mit den anderen Kliniken der Stadt Halle eta­bliert, nicht nur im Rahmen der Alterstraumatologie – einem Teilbereich der Altersmedizin – sondern vor allem auch mit den Kliniken für Innere Medizin und Neurologie der Stadt etc. sowie Einrichtungen der Umgebung. Damit wird eine wohnortnahe Versorgung realisiert, wie dies das Landesgeriatriekonzept von Sachsen-Anhalt vorsieht und was im Sinne der betagten vulnerablen Patienten der Regelfall sein sollte.

Durch diese fachspezifische Behandlung im Krankenhaus kann teilweise erst die Rehabilitationsfähigkeit erreicht werden (z. B. Alterstraumatologie). Die Durchführung einer geriatrisch-frührehabilitativen Komplexbehandlung im Krankenhaus und deren Abrechnung schließen eine anschließende geriatrische Rehabilitation nicht aus; sondern die Durchführung macht diese zum Teil erst möglich. Schwerpunkte der Betreuung in der Akutphase und geriatrischen Frührehabilitation sind eine aktivierend therapeutische Pflege (ATP-G) (3).

Wichtig ist auch die Umsetzung eines ernährungsmedizinischen Konzeptes. Im Diakoniekrankenhaus Halle wird schmackhafte, gesunde und ernährungsphysiologisch ausgewogene Kost angeboten. Dies wird täglich in unserer hauseigenen Küche frisch zubereitet.Das tägliche Erfassen der aufgenommenen Kalorienzahl (pro Mahlzeit wird die Kalorienzahl angegeben) der Betroffenen (Erkennen von drohender Mangelernährung – ca. 50 %, auch ca. 50 % haben einen zu niedrigen Vi­tamin-D-Spiegel, viele auch Folsäure- und Vitamin-B-12-Mangel) ist ein Standard – nicht nur in der Geriatrischen Klinik. Die Diagnostik dessen und der Beginn der Substitution sollten bereits stationär erfolgen. Postoperativ ist ein rascher Kostaufbau anzubahnen. Der Flüssigkeitshaushalt muss überwacht und dokumentiert werden. Das Durstgefühl der älteren vulnerablen Patienten ist erniedrigt, eine entsprechende – am besten orale Zufuhr – ist zu realisieren, dies ist personalintensiv. Diesbzüglich sind alle Teammitglieder gefordert, auch die Ergotherapeuten, Logopäden und Physiotherapeuten etc. Die Schmerzsituation wird ebenfalls täglich erfasst, hierbei wird abhängig von der kognitiven Situation die jeweilige geeignete Schmerzskala verwendet. Bei kognitiv eingeschränkten Patienten (ca.1/3) wird eine Fremdbewertungsskala eingesetzt – in der Regel die BESD-Skala (10). Geriatrische Patienten sind oft kognitiv eingeschränkt – vor allem auch postoperativ (teils reversibel). Im Rahmen der kognitiven Beurteilung (Geriatrisches Assessment) wird dies überprüft und gegebenenfalls neuropsychologisch weiterführend getestet, weswegen neuropsychologische Kompetenz im Team vorhanden sein sollte (4). Eine Demenzabklärung wird angestrebt sowie eine medikamentöse Therapie in der Regel eingeleitet. Durch die fremdanamnestische Erhebung des Sozialstaus im Rahmen des geriatrischen Assessments wird auch die Zeitspanne eruiert, ab wann Einschränkungen der Alltagskompetenz aufgetreten sind (für die Diagnose Demenz müssen die Defizite mindestens 6 Monate vorbestehend sein). Auch rechtliche Verfügungen werden erfragt. Der teamintegrierte Sozialdienst ist eine wichtige Säule im geriatrischen Team. Im Rahmen der Betreuung in einer geriatrischen Klinik sollten alle Patienten hinsichtlich einer Patientenverfügung befragt werden – bei ausreichender kognitiver Kompetenz sollte die Erstellung einer PV während des stationären Aufenthaltes angeboten werden – eine beginnende demenzielle Entwicklung wird hierbei (u. U. im Verlauf) berücksichtigt.

Die Überprüfung einer inadäquaten Medikation ist ebenfalls sehr bedeutsam. In den geriatrischen Kliniken wird stets versucht, eine Multimedikation abzubauen. Dies geschieht vor allem auch im Rahmen der tagesklinischen Betreuung. Geriatrische Kliniken sollten Tageskliniken betreiben, so ist es im Landesgeriatriekonzept hinterlegt.

Die Geriatrischen Zentren (Schwerpunkte) des Landes Sachsen-Anhalt verfügen über größere Bettenkapazitäten, vor allem die geriatrischen Leiteinrichtungen. In der Regel werden die Geriatrischen Zentren durch Fachärzte für Innere Medizin und Geriatrie als CA (Chefärztin) geleitet, wie dies das Bundesgeriatriekonzept vorsieht. Die Tagesklinik ist ein elementarer Bestandteil einer abgestuften geriatriespezifischen Versorgung. Sie kann innerhalb der beiden Versorgungsbereiche (§§ 39/40 SGB V) etabliert sein und dient weiterführenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen für jene Patienten, die nicht einer 24-Stunden-Pflege beziehungsweise Arztpräsenz bedürfen. Bei der flächendeckenden Planung und Umsetzung von Tageskliniken ist die Wohnortnähe von zentraler Bedeutung. Es werden akut erkrankte ältere Patienten behandelt, die zwar einer stationären, jedoch nicht einer ganztägigen Versorgung bedürfen. Die geriatrische Tagesklinik umfasst jeweils ca. 8-10 Behandlungsplätze. Grundsätzlich werden dieselben spezifischen Angebote erbracht wie im vollstationären Bereich. Ziele der teilstationären Behandlung sind Wiederherstellung der krankheitsbedingt eingeschränkten Selbstständigkeit, Vermeidung von Folgeschäden, Vermeidung und Verkürzung vollstationärer Behandlung, Erhaltung sozialer Kompetenz, Anleitung und Hilfe zur Selbsthilfe etc.

In Sachsen-Anhalt wurden zertifizierte Fort- und Weiterbildungsprogramme u. a. „ZERCUR GERIATRIE®-Basis­lehrgang“ seit Jahren erfolgreich durchgeführt. Der ZERCUR-GERIATRIE®-Ba­sis­lehrgang ist eine zertifizierte Fortbildung für alle Mitglieder des therapeutischen Teams. Diese Veranstaltungsreihe wurde in unserem Bundesland Sachsen-Anhalt angeboten und bereits mehr als 10 Mal durchgeführt. Im Rahmen von ZERCUR werden von Praktikern die wichtigsten Themen aus dem Bereich der Geriatrie und ihre Zusammenhänge bzw. Umsetzung im therapeutischen Team in kompakter Form vermittelt, eine Tagesveranstaltung behandelt auch das Thema Palliativmedizin (Palliative Geriatrie), denn geriatrische Medizin findet auch bis zum bzw. angesichts des Todes statt, wie eine Expertengruppe im Rahmen der 17 formulierten Dimensionen der Altersmedizin bereits 1991 charakteristisch ausführte (6). Insofern sollten geriatrische Einrichtungen auch mindestens über eine Palliativeinheit verfügen und die Teams auch hinsichtlich Palliativmedizin fortgebildet sein. Viele Fachärzte für Innere Medizin und Geriatrie haben im Land Sachsen-Anhalt auch bereits die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin erworben und entsprechende Strukturen in den geriatrischen Kliniken etablieren können.

Dr. med. Henning FreundMit der Etablierung der Gebietsbezeichnung „Innere Medizin und Geriatrie“ hat Sachsen-Anhalt bereits eine Vorreiterrolle inne. Die im Qualitätssiegel Geriatrie definierten Strukturstandards sollten als Standard überall im Bundesland etabliert werden.

Korrespondenzanschrift:
Dr. med. Henning Freund
Chefarzt im Kollegialsystem der Klinik für Geriatrie und Geriatrische Tagesklinik
FA für Innere Medizin
FA für Innere Medizin und Geriatrie, Palliativmedizin,
Physikalische Therapie und Balneologie, Ernährungsmedizin

Diakoniekrankenhaus Halle gGmbH
Mühlweg 7, 06114 Halle

Fotos: Diakoniekrankenhaus Halle

Quellenverzeichnis:

  1. Rahmenhandbuch zum „Qualitätssiegel Geriatrie“: Bundesverband Geriatrie (Hrsg.) Schüling Verlag Münster 2016
  2. Definition Geriatrischer Patient der Dt. Gesellschaft für Geriatrie, Dt. Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie: Weißbuch Geriatrie. Band I: Die Versorgung geriatrischer Patienten – Geriatrischer Patient: Seite 13 – Bundesverband Geriatrie (Hrsg.), Kohlhammerverlag Stuttgart 2016
  3. Freund, H.: Von der Theorie der aktivierend-therapeutischen Pflege in die Praxis. Z GerontolGeriat 52, 810–811 (2019).
  4. Freund, H.: Geriatrische Assessment und Testverfahren. 3. erweiterte und aktualisierte Auflage, Kohlhammerverlag Stuttgart 2017
  5. Weißbuch Geriatrie. Band I: Die Versorgung geriatrischer Patienten – Strukturen und Bedarf: Seite 18 – 20. Bundesverband Geriatrie (Hrsg.) 2016
  6. J. Bruder, C. Lucke, A. Schramm, H. P. Tews, H. Werner: Was ist Geriatrie. Expertenkommission der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie und der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Rügheim 1991
  7. https://www.kohlhammer.de/wms/instances/KOB/appDE/Pflege/Altenpflege/Aktivierend-therapeutische-Pflege-in-der-Geriatrie-978-3-17-029112-6
    15.10.2020
  8. https://www.g-ba.de/downloads/39-261-4069/2019-11-22_QSFFx-RL_Erstfassung.pdf
  9. https://link.springer.com/article/10.1007/s00391-020-01725-2
  10. https://www.springermedizin.de/beurteilung-von-schmerz-bei-demenz-besd/8561078