Paragraphen-ZeichenPatientenanwälte machen es sich bisweilen einfach: Sie „googeln“ Leitlinien und begründen Schadenersatzansprüche mit einem Leitlinienverstoß. Damit geraten Leitlinien in ein weiteres Spannungsfeld neben den Antipoden gute Versorgungsqualität auf der einen und ökonomisch motivierte Minimalversorgung auf der anderen Seite. Aber so einfach kann man es sich mit der Begründung von Haftungsansprüchen nicht machen.

Was sind Leitlinen?

Leitlinien sind systematisch entwickelte Entscheidungshilfen auf der Grundlage eines Expertenkonsens und dienen als Entscheidungshilfen bei der Durchführung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen und sind daher in der Gesundheitsversorgung ein Instrument der Qualitätssicherung (Begründung zu § 136 SGB V der GKV in der Gesundheitsreform 2000). Zu allgemeinen Definitionen siehe folgenden Infokasten.

Die "Leitlinien" der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen in der Regel auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und sollen für mehr Sicherheit in der Medizin sorgen (siehe hierzu: http://www.awmf.org/leitlinien.html).
Sie lassen dem Arzt einen Entscheidungsspielraum und "Handlungskorridore", von denen in begründeten Einzelfällen auch abgewichen werden kann. (http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7)

Leitlinien geben idealerweise den Stand des Wissens  über effektive und angemessene Krankenversorgung zum (anzugebenden) Zeitpunkt ihrer Publikation wieder. In Anbetracht des progredienten medizinischen Fortschrittes kann der aktuelle medizinische Standard ein anderer sein als derjenige zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Leitlinie. Leitlinien sind kein medizinischer Waschzettel. Sie sollen zwar  die Fragen nach Notwendigkeit, Nützlichkeit im Einzelfall, Überflüssigkeit und stationärer oder ambulanter Behandlung beantworten, gleichzeitig ist aber die individuelle Therapie vom Arzt immer als Einzelfallentscheidung festzulegen. Leitlinien sind also Empfehlungen (Guidelines) und keine verbindlichen Richtlinien.

Qualitativ sollen Leitlinien den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse wiedergeben. In diesem Sinne ist das AWMF-Regelwerk ein hochwertiger Anforderungsstandard zur Erstellung und Publikation aktueller und hochwertiger Leitlinien (siehe http://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk.html). Nur von Leitlinien dieser hohen Qualitätsstufe soll hier die Rede sein.

Wie wirken sich Leitlinien auf die Arzthaftung aus?

Arzthaftung bedeutet Einstandspflicht für die Folgen schuldhaft fehlerhafter Behandlung. Der Arzt schuldet dem Patienten vertraglich und deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt.  Der entsprechende Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebietes zum Behandlungszeitpunkt (bspw.: BGH VersR 1995, 659 ff). Ob der Arzt den notwendigen Standard eingehalten hat, beurteilt im Streitfall der medizinische Sachverständige. Er hat sich dann auch mit Leitlinien unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur und des eigenen Erfahrungswissens auseinander zu setzen (zu einem Streitfall siehe folgenden Infokasten).

Einer Patientin mit Hyperthyreose und endokriner Orbitopathie wird eine Radioiodtherapie empfohlen.
Entsprechend der „Leitlinie zur Radioiodtherapie bei benignen Schilddrüsenerkrankungen“ wird sie über das Risiko der Verschlechterung der endokrinen Orbitopathie aufgeklärt. Auf eine Cortisonabdeckung wird verzichtet (Leitlinie: Kontraindikation Ulcus ventriculi). Nach der Therapie kommt es zu einer drastischen Visus-Verschlechterung (Doppelbildersehen, Orientierungslosigkeit).

Außergerichtlich werden drei Gutachten eingeholt. Der Erstgutachter sieht in dem konkreten Befund eine Kontraindikation für eine Radioiodtherapie, er hält ausschließlich eine Operation für indiziert.  Der Zweitgutachter geht von einer relativen Indikation aus; die Leitlinie verbiete im Falle einer kontraindizierten Cortisonabdeckung eine Radioiodtherapie nicht, er hätte aber mit der Patientin die Alternative einer Operation besprochen. Der Drittgutachter stellt schließlich fest, dass die Therapie dem medizinischen Standard entsprach, auch wenn sich die Thematik möglicherweise in einem Veränderungsprozess im Sinne des Erstgutachters befinde (Hinweis auf Heufelder, MMV, 98, 371). Der Fall wurde durch Vergleich befriedet.

Eine Leitlinie kann, muss aber nicht diesen einen Standard repräsentieren. Zu entscheiden hat dies der Sachverständige. So wie es sich zum Beispiel aus einem Urteil des OLG Düsseldorf (8 U 99/99, VersR 2000, 1019 ff) ergibt: „Kommt es im Verlauf einer Kniepunktion bei liegender Kanüle zu einem Spritzenwechsel, hat der Arzt nach den einschlägigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie sterile Handschuhe zu tragen. Ein Verstoß gegen die Hygienebestimmungen ist als grobes Versäumnis zu werten. Der Sachverständige hat deutlich gemacht, dass eine solche Vorkehrung in den bereits seit dem Jahr 1985 verbindlichen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft  für Orthopädie und Traumatologie vorgeschrieben war. Der gerichtlich beauftrage Sachverständige hat zudem überzeugend begründet, weshalb die Maßnahme dringend geboten war. ...
Gerade wegen der naheliegenden Komplikationsmöglichkeiten hat sich der ärztliche Berufsverband veranlasst gesehen, bei einem Spritzenwechsel das Tragen steriler Handschuhe vorzuschreiben. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Beklagte unstreitig von dem geschuldeten Hygienestandard abgewichen ist. ...
Unter diesen Umständen ist sein Verhalten als grobes Fehlverhalten zu werten, das es rechtfertigt, die Klägerin von der grundsätzlich ihr obliegenden Verpflichtung, den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem ärztlichen Versäumnis und einer konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigung nachzuweisen, zu befreien.“ Analog steht in einem Urteil des OLG Hamm (3 U 131/98-, NJW-RR 2000, 401 f): „Ein zu einem Notfallpatienten gerufener Arzt verstößt gegen die Leitlinien der Wiederbelebung und Notfallversorgung, wenn er nicht für eine Wiederaufnahme der Basisreanimation sorgt und sich an ihr nicht bis zum Eintreffen der Notärztin beteiligt, sie vielmehr dadurch verhindert, dass er den Patienten als tot bezeichnet. …
Mögen die Leitlinien im konkreten Fall auch nicht verbindlich gewesen sein, so zeigen sie doch die überwiegende Überzeugung maßgeblicher ärztlicher Kreise ... Beweiserleichterungen für die Ursächlichkeit des Fehlers kommen den Klägern nicht zugute. Der Senat bewertet den Fehler des Beklagten nicht als grob. Über die Reanimationsgrundsätze gibt es, wie nach den Ausführungen des sachverständigen Dr. B. die Herabstufung von Richtlinien zu Leitlinien zeigt, eine gewisse Diskussion und es ist bekannt, dass ... auch bei erfolgreicher Wiederherstellung von Herzfunktion und Kreislauf nach einer gewissen Zeit schwerste Schädigungen des Gehirns mit Funktionseinbußen jedenfalls häufig sind.“

Leitlinien werden von Sachverständigen auch herangezogen, um einen Fehler zu negieren. Beispiele: Hinsichtlich eines Patienten, bei dem nach Appendixentfernung eine Sepsis aufgetreten war, stellte der Sachverständige fest, dass nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in der konkreten Situation keine Antibiotika-Gabe geboten war (OLG München 1 U 5314/09). Sachverständige lassen aber auch ein Abweichen exkulpieren: Eine Patientin hatte bei einer Chemotherapie-Behandlung am Handrücken ein Paravasat erlitten. Der Sachverständige führte aus, dass es abweichend von den allgemeinen Empfehlungen in den Leitlinien hier aus medizinischer Sicht sinnvoll gewesen ist, primär den Zugang über den Handrücken zu versuchen (OLG Köln 5 U 103/09). Auch wenn Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden nicht per se mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen Standard gleichgesetzt werden und kein Sachverständigengutachten ersetzen können, so kann ein Gericht anhand der Leitlinie immerhin eine gewisse Kontrolle der Plausibilität der Aussagen des Sachverständigen vornehmen (Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 280).

Was sollte der Behandelnde berücksichtigen?

Richtigerweise stellt das OLG Naumburg (1 U 46/01, MedR 2002, 471 ff) fest, dass die Leitlinien der AWMF lediglich Informationscharakter haben und für eine Beurteilung kein auf die individuelle Behandlung gerichtetes Sachverständigengutachten ersetzen. Es gibt aber auch Stimmen, die wesentlich strenger sind: „Wer von einer Leitlinie abweicht, begibt sich in ein Behandlungsfehlerrisiko und ist begründungspflichtig.“ (Hart, Ärztliche Leitlinien, 1./2000, S. 157 f). Und: „Ein Versagen, das einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf, kann nahe liegen, wenn der Leitlinien-Standard verlassen wird (Dressler in Hart, Ärztliche Leitlinien, 1./2000, S. 169). Um auf der sicheren Seite zu sein, empfiehlt sich eine Orientierung am Schema Abb. 3.

Rechtsanwalt Patrick WeidingerRechtsanwalt Patrick Weidinger
Abteilungsdirektor der Deutschen Ärzteversicherung
E-Mail: Patrick.Weidinger@Aerzteversicherung.de