Als höchstes deutsches Zivilgericht prägt der Bundesgerichtshof (BGH) seit Jahrzehnten die Arzt- und Krankenhaushaftung. Dazu ermittelt er keine Sachverhalte (das ist Aufgabe der Untergerichte) und er stellt auch keine Behandlungsfehler fest (das ist Aufgabe der medizinischen Sachverständigen). Der BGH verantwortet die rechtlichen Rahmenbedingungen, also die „eigentliche“ Juristerei. Seine Regeln finden sich nicht nur in dem seit 2013 geltenden Patientenrechtegesetz („Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“), sondern sie sind auch immer wieder die Grundlage für die Entscheidung von Einzelfällen.

I. Befunderhebungsfehler
Hat der Behandelnde es unterlassen, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, und hätte der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, so wird vermutet, dass dieser Fehler für die Verletzung ursächlich war. Der Grund für diese Beweisregel liegt darin, dass noch nicht einmal eine Grundlage für eine Diagnose geschaffen wurde.

BGH URTEIL VI ZR 146/14 verkündet am 26. Januar 2016
Der Kläger wirft einem niedergelassenen Frauenarzt und Belegarzt vor, in der Spätphase der Schwangerschaft der Mutter des Klägers ein HELLP-Syndrom nicht erkannt zu haben, was beim Kläger zu einer Sauerstoffunterversorgung und in der Folge zu schwersten Gesundheitsschäden geführt habe. Die Revision rügt mit Recht, dass es das Berufungsgericht versäumt hat, die Kausalität des Behandlungsfehlers durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu klären. Das Berufungsgericht ist zwar der ständigen Rechtsprechung gefolgt, wonach auch ein einfacher Befunderhebungsfehler zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich dessen Kausalität für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen kann, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und dieser Fehler generell geeignet ist, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen. Es ist auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beklagte weitere Befunde hätte erheben müssen. Das danach zu fordernde Blutbild hätte mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 50 % Hinweise auf ein HELLP-Syndrom ergeben, wonach es grob fehlerhaft gewesen wäre, die Schwangerschaft nicht sofort zu beenden. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts hätte sich der Beklagte wegen der Umstände erhöhter Blutdruck, massives Nasenbluten und erhöhte Eiweißausscheidung im Urin der Mutter nicht mit der Diagnose "leichte Blutdruckerhöhung" zufrieden geben dürfen, sondern hätte dem aufgrund der konkreten Symptome naheliegenden Verdacht auf eine Gestose mit den üblichen, dem Standard entsprechenden Befunderhebungen nachgehen müssen. Erfolgreich rügt jedoch die Revision, dass das Berufungsgericht trotz eines entsprechenden Beweisantrags des Beklagten die Kausalität des Behandlungsfehlers nicht durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens weiter aufgeklärt hat. Dabei stand als alternative Ursache der Hirnschädigung eine Infektion im Blick, die der Kläger während seines stationären Aufenthalts in der Kinderklinik erlitten hatte, welche antibiotisch behandelt werden musste und die ebenfalls zu den Gesundheitsschäden des Klägers hätte führen können.

II. Aufklärung
Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können. Die Aufklärung muss mündlich und rechtzeitig erfolgen und für den Patienten verständlich sein.

BGH URTEIL VI ZR 467/14 verkündet am 22. März 2016
Hat eine mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig ausgeführte Tumorentfernung zu einer Gesundheitsbeschädigung des Patienten geführt, so ist es Sache der Behandlungsseite zu beweisen, dass der Patient ohne den rechtswidrig ausgeführten Eingriff dieselben Beschwerden (apallisches Syndrom u. a.) haben würde, weil sich das Grundleiden in mindestens ähnlicher Weise ausgewirkt haben würde.

BGH URTEIL VI ZR 75/15 verkündet am 19. Juli 2016
Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche wegen einer Morbus-Dupuytren-Operation geltend. Von jeher leitet die Rechtsprechung das Erfordernis der Einwilligung des Patienten in die Heilbehandlung zur Rechtfertigung des Eingriffs in die körperliche Integrität aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und seinem Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss des Rechts auf Menschenwürde (Art. 1 GG) her. Geschützt wird die Entscheidungsfreiheit des Patienten über seine körperliche Integrität, über die sich der Arzt nicht selbstherrlich hinwegsetzen darf. Ist ein Eingriff durch einen bestimmten Arzt, regelmäßig den Chefarzt, vereinbart oder konkret zugesagt, muss der Patient rechtzeitig aufgeklärt werden, wenn ein anderer Arzt an seine Stelle treten soll. Fehlt die wirksame Einwilligung in die Vornahme des Eingriffs, ist der in der ärztlichen Heilbehandlung liegende Eingriff in die körperliche Integrität rechtswidrig.

III. Rahmenbedingungen für die Gerichte
1. Der BGH weist die Unterinstanzen darauf hin, dass sie sich nicht über das den streitenden Parteien zu gewährende sogenannte „rechtliche Gehör“ hinwegsetzen dürfen.

BGH, BESCHLUSS VI ZR 512/15 vom 8. November 2016
Der Klägerin wurden Krampfadern im linken Bein entfernt, postoperativ zeigte sich infolge einer Schädigung des Nervus Peroneus eine Fußheberschwäche und eine Gefühlsstörung. Nachdem der Vorwurf einer kompletten Nervdurchtrennung durch den Sachverständigen angesichts beginnender Reinnervierung entkräftet worden war, kam es auf den Vorwurf einer vorwerfbaren teilweisen Durchtrennung des Nervs an. Diesen hat das Untergericht fehlerhaft nicht berücksichtigt, indem es unterstellt hat, nach Ausschluss Durchtrennung des Nervs komme nur eine Druckschädigung in Betracht.

BGH, BESCHLUSS VI ZR 565/15 vom 27. September 2016
Der Kläger stellte sich wegen starker Bauchschmerzen und Übelkeit in der Praxis der Beklagten, seiner Hausärztin, vor. Ob der Kläger dabei auch über Durchfall geklagt hat, ist zwischen den Parteien streitig. Die Beklagte diagnostizierte eine Magen-Darm-Infektion (Gastroenteritis). Sie verordnete dem Kläger Magentropfen und schrieb ihn für eine Woche krank. Zwei Tage später wurde der Kläger wegen akuten Abdomens in die Klinik eingeliefert, wo er noch am selben Tag operiert wurde. Bei der Operation mussten Teile des Darms entfernt werden. Ursächlich für die Beschwerden war eine Bauchfellentzündung (Peritonitis), ausgelöst durch eine Entzündung des Dickdarms mit Wanddurchbruch (Divertikulitis mit Perforation). Der Kläger wirft der Beklagten vor, fehlerhaft eine Gastroenteritis diagnostiziert und weitere Untersuchungen unterlassen zu haben. Nach Klageabweisungen der Instanzgerichte rügt die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht, dass dem angebotenen Zeugenbeweis auf Vernehmung der behandelnden Klinikärzte zu dem Inhalt des dortigen Anamnesegesprächs nicht nachgegangen worden war.

BGH BESCHLUSS VI ZR 432/15 vom 20. September 2016
Die Klägerin wurde an der Schulter operiert. Sie trägt vor, dass sich aufgrund der Operation in der Folge eine vollständige Einsteifung des linken Schultergelenks entwickelt habe. Das Berufungsgericht hatte fehlerhaft festgestellt, dass ein eventueller Aufklärungsfehler nicht entscheidungserheblich sei, weil die Beschwerden der Klägerin wohl nicht Folge des operativen Eingriffs seien. Nach der Rechtsprechung des BGH liegt nämlich die Primärschädigung bei fehlerhafter Aufklärung bereits in dem mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrigen Eingriff als solchem. Deshalb hätte der Ehemann der Klägerin zur Frage vernommen werden müssen, ob eine Aufklärungspflichtverletzung vorgelegen hat.

BGH BESCHLUSS VI ZR 239/16 vom 13. September 2016
Der Kläger, der nach 31 + 1 Schwangerschaftswochen geboren wurde und infolge einer Hirnschädigung unter schweren Behinderungen leidet, nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung über die Möglichkeit der Sectio in Anspruch. Die Mutter des Klägers wurde nach 29 + 2 Schwangerschaftswochen wegen vorzeitiger Wehen in dem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus stationär aufgenommen. Während der Schwangerschaft waren bei ihr wiederholt Nierenbeckenentzündungen aufgetreten. Außerdem litt sie unter Schwangerschaftsdiabetes. Am Tag ihrer stationären Aufnahme wurden Entzündungsparameter nachgewiesen. Die Leukozyten und der CRP-Wert waren deutlich erhöht. Bei einer Sonographie der Nieren wurde ein Harnstau auf beiden Seiten festgestellt. Der Mutter des Klägers wurden Wehen hemmende Mittel und Antibiotika verabreicht. Darüber hinaus erfolgte eine medikamentöse Induktion der fetalen Lungenreife durch zweimalige Verabreichung von Celestan. Die Mutter des Klägers wurde außerdem über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts aufgeklärt. Sie entschied sich für eine vaginale Entbindung. Nach einem vorzeitigen Blasensprung wurden die Wehen hemmenden Mittel abgesetzt und die Mutter des Klägers unter fortlaufender CTG-Registrierung an einen Wehentropf angeschlossen. Ab 15.50 Uhr verzeichnete das CTG einen zunehmend auffälligen Verlauf der fetalen Herzfrequenz. Ab etwa 16.25 Uhr zeigte das CTG ein pathologisches Muster. Um 16.42 Uhr fassten die behandelnden Ärzte den Entschluss zur Notsectio. Der Kläger wurde um 16.59 Uhr geboren und musste reanimiert werden. Wegen verschiedener subarachnoidaler und epikranieller Blutungen, akuten Nierenversagens, Leberinfarkts, Cholestase bei Leberinfarkt und Hämolyse sowie akuter Blutungsanämie und cerebralen Krampfanfällen ist er schwerstbehindert. Eine histologische Untersuchung der Plazenta nach der Geburt des Klägers ergab das Vorliegen einer akuten eitrigen Chorioamnionitis bei der Mutter des Klägers. Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, weil das Berufungsgericht, wesentliche, dem Kläger günstige Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung unberücksichtigt gelassen hat. Prof. Dr. St. hatte angegeben, nach dem Blasensprung sei eine Änderung der Risikosituation eingetreten. Bei dem Aufklärungsgespräch habe zwar die Möglichkeit einer Frühgeburt bestanden. Diese sei aber noch nicht konkret gewesen. Bei dem Aufklärungsgespräch habe die Situation auf eine Harnwegsinfektion hingedeutet. Ein Harnwegsinfekt führe aber in der Regel nicht zu einem Blasensprung. Auf die Frage, ob sich die mechanische Belastung durch den Blasensprung verändert habe, gab der Sachverständige an, dass bei einer vaginalen Frühgeburt die Prämisse bestehe, die Blase nach Möglichkeit stehen zu lassen. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, ist den Angaben des Sachverständigen zu entnehmen, dass mit dem Blasensprung die abfedernde Wirkung des Fruchtwasserkissens verloren gegangen war und der Kläger den von einer vaginalen Geburt ausgehenden mechanischen Belastungen ungeschützt ausgesetzt war. Mit diesen Angaben des Sachverständigen ist die Beurteilung des Berufungsgerichts nicht vereinbar, nach den Einschätzungen des Sachverständigen habe sich an den Gefahren des vaginalen Geburtswegs durch den Blasensprung „nichts wesentlich verändert“.

2. Auch zur notwendigen Sachverhaltsermittlung äußert sich der BGH:

BGH BESCHLUSS VI ZR 49/15 vom 1. März 2016
Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerin, ein Debridement der tiefen Wundhöhle sei nicht erfolgt, nicht zugelassen hat. Soweit das Berufungsgericht annimmt, die Klägerin habe den nun gebrachten Vortrag über eine mögliche Entstehungsursache der bei ihr eingetretenen tiefen Infektion bei sorgfältiger, auf umfassende Sachverhaltsaufklärung ausgerichteter Prozessführung schon im ersten Rechtszug erheben können, hat es die Anforderungen an die die Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess überspannt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats dürfen an die Informations- und Substantiierungspflichten der Partei im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen gestellt werden. Vom Patienten kann regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden.

3. Wichtig ist dem BGH, dass die Kosten für Privatgutachten auch dann erstattungsfähig sind, wenn nicht der Patient, sondern der Haftpflichtversicherer ein solches Gutachten veranlasst hat (BESCHLUSS VI ZB 8/16 vom 25. Oktober 2016).

4. Arzthaftpflichtansprüche verjähren nach § 195 BGB regelmäßig in drei Jahren, die Frist beginnt nach § 199 BGB mit Kenntnis des Patienten von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners. Diese Verjährung kann unter bestimmten Voraussetzungen gehemmt werden.

BGH URTEIL VI ZR 239/15 verkündet am 17. Januar 2017
Macht ein Patient gegen den ihn behandelnden Arzt Schadenersatzansprüche bei einer von den Ärztekammern eingerichteten Schlichtungsstelle geltend, so setzt der Eintritt der Verjährungshemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB aF nicht voraus, dass sich der Arzt oder der hinter diesem stehende Haftpflichtversicherer auf das Schlichtungsverfahren einlässt. Dies gilt auch dann, wenn ein Schlichtungsverfahren nach der Verfahrensordnung der jeweiligen Schlichtungsstelle nur dann durchgeführt wird, wenn Arzt und Haftpflichtversicherer der Durchführung des Verfahrens zustimmen.



Rechtsanwalt Patrick WeidingerRechtsanwalt
Patrick Weidinger
Abteilungsdirektor der Deutschen Ärzteversicherung
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