Bestandsaufnahme, Ausblick und kritische Betrachtung*

Die Telemedizin ist schon lange in Behandlungs- und Kooperationskonzepten etabliert (Telemonitoring, Telenotarzt, Teleradiologie nach RöV, TIM/Telematik Intensivmedizin, Tele-Stroke-Unit, Telekonsil u. a.).

Der 121. Deutsche Ärztetag hat durch Änderung der MBO die Grundlagen geschaffen, neben dem Gold-Standard des unmittelbaren, physischen Arzt-Patienten-Kontaktes, Patienten unter bestimmten Umständen ausschließlich aus der Ferne zu behandeln und zu beraten. Ebenfalls beschlossen wurde, die Fernbehandlung im vertragsärztlichen Sektor nur durch Vertragsärzte im Rahmen des Sicherstellungsauftrages durchführen zu lassen, damit keine profitorientierten Gesellschaften in Konkurrenz zu Vertragsärzten treten. Die Ausstellung einer Fernkrankschreibung bei unbekannten Patienten lehnte der Ärztetag ab.


Warum wurde die Musterberufsordnung geändert?

Die Delegierten des 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt entsprachen mit der Änderung der ärztlichen Muster-Berufsordnung (MBO-Ä 1997) Forderungen des 120. Deutschen Ärztetages.
Sie reagierten damit auf

  • die mit der Digitalisierung der Medizin einhergehenden ausländischen Fernbehandlungsmöglichkeiten wie durch das im Londoner Internetportal DrEd (das wohl schon über 400 000 Deutsche beraten hat) und das telemedizinische Zentrum Medgate in Basel (das rund zwölf Millionen Anrufe jährlich verbuchen soll).
  • Entwicklungen in Deutschland („Docdirekt“ als bundesweit erstes Modellprojekt telemedizinischer vertragsärztlicher Behandlung gesetzlich Versicherter der Regionen Stuttgart und Tuttlingen nach Änderung der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg; Fernbehandlung im Rahmen der geänderten Berufsordnung der Ärztekammer Schleswig-Holstein, welche Fernbehandlung ohne Einschränkung auf den Einzelfall erlaubt)

Im Vorfeld der MBO-Änderung hatte es aus Medizin und Politik sowohl Zustimmung (aktive Gestaltung der Digitalisierung; Wegfall von Wege- und Wartezeiten der Patienten, gute Erfahrungen unter anderem in Kanada, Australien, Skandinavien) als auch Ablehnung (keine deutsche Evaluation; Gefahr einer Callcenter-Medizin mit abgesenktem Behandlungsstandard) gegeben.


Welche Bindung hat die MBO-Ä?

Das Berufsrecht der Ärzte unterscheidet Berufszulassungs- und Berufsausübungsrecht. Das Zulassungsrecht unterfällt der Bundeskompetenz (Art. 74 Nr. 19 GG), das Ausübungsrecht dem Landesrecht. Die Berufsordnungen der Landesärztekammern bestimmen, was bei der Ausübung des Arztberufs zu beachten ist. Die Musterberufsordnung der Ärzte (MBO-Ä) ist ein „Muster“ und bindet erst, wenn sie durch die Kammerversammlungen der Landesärztekammern als Satzung beschlossen und von den Aufsichtsbehörden genehmigt ist.


Wie wurde die novellierten MBO-Ä umgesetzt?

In § 7 der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 – in der Fassung der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt (geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.12.2018) wird die ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien im Einzelfall unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Textes hat die Landesärztekammer Brandenburg eine Lockerung des Verbots der ausschließlichen Fernbehandlung abgelehnt, während die Landesärztekammern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und Westfalen-Lippe diese grundsätzlich umsetzen.

In der Berufsordnung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt (beschlossen durch die Kammerversammlung am 08.11.1997; … zuletzt geändert durch Beschluss der Kammerversammlung am 13.04.2019) heißt es nunmehr wie in der MBO-Ä:

„§ 7 Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln
(4) Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine Beratung oder Behandlung ausschließlich über Kommunikationsmedien ist erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt gewahrt wird und die Patientin oder der Patient über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“


Wer trägt die rechtlichen Risiken der ausschließlichen Fernbehandlung?

Die rechtlichen Risiken trägt der Behandelnde. Er hat die „ärztliche Vertretbarkeit“ der Fernbehandlung „im Einzelfall“ zu prüfen. Zudem gelten für die Fernbehandlung dieselben juristischen Rahmenbedingungen wie für die Behandlung im unmittelbaren Arzt-/Patientenkontakt.

Insbesondere gelten die §§ 630a ff BGB („Patientenrechtegesetz“). Es gibt weder einen reduzierten „Fernbehandlungsstandard“ noch eine Einschränkung des Patientenschutzes durch Nutzung technischer Medien. Deshalb wiederholt die Berufsordnung die bisherigen rechtlichen Regeln im Ergebnis nur deklaratorisch („erforderliche ärztliche Sorgfalt“, „Befunderhebung“, „Beratung“, „Behandlung“, „Dokumentation“, wobei auch die Vertretbarkeit der Fernbehandlung im konkreten Einzelfall zu dokumentieren ist).

Auch die Aufklärungspflichten sind im Rahmen einer Fernbehandlung nicht reduziert, sondern im Gegenteil sogar verschärft. Insbesondere hat eine mündliche Aufklärung vor Beratungs-/Behandlungsbeginn über die Besonderheiten der ausschließlichen Fernbehandlung im Unterschied zum persönlichen Kontakt, einschließlich der Risiken und Alternativen, zu erfolgen. Erst nachdem das Verständnis des Patienten gesichert ist (nachfragen, wiederholen lassen), kann die Aufklärung mit der Einwilligung des Patienten abgeschlossen werden. Die Einwilligung des Patienten wird stets an dessen schutzwürdigen Belangen gemessen („hat er das wirklich verstanden?“, vgl. OLG Düsseldorf, Urt. V. 04.05.2013).


Fernverschreibung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit

Da die MBO keine bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen ändern kann, gab es zum Zeitpunkt des Ärztetagbeschlusses Ausnahmetatbestände, nämlich § 48 Abs. 1 Satz 2 Arzneimittelgesetz mit einem Abgabeverbot bei Fernverschreibungen und § 31 Bundesmantelvertrag Ärzte i. V. m. der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses mit dem Erfordernis einer ärztlichen Untersuchung vor Ausstellung einer AU-Bescheinigung.

Am 16.08.2019 ist das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) in Kraft getreten. Es gestattet Apotheken, verschreibungspflichtige Arzneimittel auch nach einer offensichtlichen, ausschließlichen Fernbehandlung abzugeben. Zudem wurde die Selbstverwaltung verpflichtet, die notwendigen Regelungen für die Verwendung des elektronischen Rezeptes zu schaffen (Frist: 7 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes).

Die nach §§ 7 Abs. 4, 25 S. 1 MBO-Ä denkbare Feststellung der Arbeitsunfähigkeit einschließlich Ausstellen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird dagegen durch die rechtlichen Rahmenbedingungen zurzeit verhindert. Immerhin hat aber der Bundestag in 10/2019 das Aus für den „gelben Schein“ beschlossen (Zustimmung des Bundesrats erforderlich).


Risikomanagement

Die ausschließliche Fernbehandlung nutzt moderne Techniken und unterstützt die Versorgungssicherheit. Auf der anderen Seite stellt sie an den Behandelnden Anforderungen, die im Arzt-Patientenkontakt präsent sein sollten. Maßnahmen des Risikomanagements könnten insbesondere sein:

  • Feststellung der Patientenidentität
  • Geeignetheit des Patienten feststellen (Sprache, Beeinträchtigungen – als Test den Patienten Informationen wiederholen lassen)!
  • Vollständige Anamnese!
  • Patienteninformationen validieren! „Es gehört zu den Aufgaben des Arztes, Angaben nicht ungeprüft zu übernehmen und sich ein eigenes Bild zu machen“, BGH NJW 1979, 1248 zur Telefondiagnose
  • In Diagnostik und Behandlung „den sicheren Weg gehen“ (Standard wahren)!
  • Patientenaufklärung – auch über Fernbehandlung (§ 8 MBO-Ä)
  • Fernaufklärung kritisch sehen! („Handelt es sich um komplizierte Eingriffe mit erheblichen Risiken, wird eine telefonische Aufklärung regelmäßig unzureichend sein“, BGH NJW 2010, 2430 ff)!
  • Bei Zweifeln an sicherer Kommunikation, sicherer Behandlung, sicherer Aufklärung: Behandlungsabbruch! Behandlungsabbruch immer mit der Bitte verbinden, persönlich vorbeizukommen.
  • Angebot persönlich vorbeizukommen kann immer Gegenstand des Arzt-Patientengespräches sein!
  • Vollständige, zeitnahe Dokumentation aller vorstehenden Punkte! Zum einen besteht hierzu eine Pflicht aus dem Behandlungsvertrag, zum anderen kann die Dokumentation bei Behandlungsfehlervorwürfen entscheidend sein (insbesondere wenn der Patient Zeugen angibt, die bei der Kommunikation zugegen gewesen sein sollen).
  • Zeitgemäße (auch daten-)sichere Technik vorhalten. Der fehlerhafte Einsatz medizintechnischer Geräte zum Beispiel durch Verzicht auf Sicherheits- und Kontrollvorkehrungen kann zu einer Haftung wegen der Verwirklichung eines voll beherrschbaren Risikos führen.
  • Und bitte prüfen Sie, ob eine (ausschließliche) Fernbehandlung Ihnen als Ärztin/Arzt entspricht. Ein Konsiliararzt hat dem Autor gesagt, er könne das nicht: „Bei einem neuen Patienten stelle ich mich vor die Tür des Behandlungszimmers, um zu sehen wie er aus dem Wartezimmer kommt, geht, wie seine Körperspannung ist, wie er mir die Hand gibt. Ich will ihn sehen, fühlen und ja, auch riechen.“


Datenschutz

Zu beachten sind die ärztliche Schweigepflicht, die Regeln der Heilberufegesetze, die Vorschriften des Standesrechts, das SGB V, die Datenschutzgrundverordnung und spezielle Fragen der Cybersicherheit (das Thema „Datenschutz“ wird in einem Folgebeitrag behandelt).


Versicherungsschutz

Der individuelle Versicherungsschutz sollte mit dem jeweiligen Haftpflichtversicherer geklärt werden. In sehr alten Versicherungsverträgen kann es zum Beispiel heißen: „Versichert ist die Behandlung in der eigenen Praxis“.

Insbesondere sollte man den Versicherungsschutz vor grenzüberschreitender Telemedizin klären. Sie kann zu grenzüberschreitenden Anspruchsanmeldungen führen. Kommt im Haftungsfall ausländisches Recht zur Anwendung bzw. ist eine Gerichtsbarkeit im Ausland zuständig, sind die Schadenaufwendungen und Verfah­rens­kosten unkalkulierbar.


Ausblick

  1. Die Telemedizin wird sich weiter etablieren.
  2. Hierzu gehören mittel- und langfristig auch die im Ausland etablierten Möglichkeiten der Fernbehandlung.
  3. Eine berufspolitische Begleitung ist notwendig, um die Ärzteschaft vor profitorientierten Unternehmen (Plattformen, Mitwerber, Krankenversicherungen) zu schützen und eine technische Zweiklassenmedizin aufzuhalten.
  4. Die Fernbehandlung erfordert eine besondere Sorgfalt im Arzt-Patientenkontakt und in der Dokumentation
  5. Rechtliche und tatsächliche Rahmenbedingungen sind weiter zu klären bzw. anzupassen, wie aktuell die Honorierung des Patientenkontaktes am Bildschirm nach Streichung der erst 2017 implementierten GOP 01439.
  6. Das „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ – DVG (Digitale Versorgung Gesetz), welches am 27. September 2019 in der 1. Lesung im Bundestag beraten wurde, will weitere Weichen stellen im Hinblick auf Apps auf Rezept, Online-Sprechstunden und ein sicheres Datennetz im Gesundheitswesen (www.bundesgesundheitsministerium.de > digitale-versorgung)

 

Autor:
Rechtsanwalt Patrick Weidinger
Deutsche Ärzteversicherung
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Literaturhinweise:
(1) Katzenmeier, Haftungsrechtliche Grenzen ärztlicher Fernbehandlung, NJW 2019, 1769ff., (2) Spickhoff, Zu Rechtsfragen grenzüberschreitender Fernbehandlung,  MedR 2018, 535, (3) BÄK, https://www.bundesaerztekammer.de/recht/aktuelle-rechtliche-themen/fernbehandlung/#

* Leitsätze des gleichnamigen Vortrages auf dem 28. Fortbildungstag der Ärztekammer Sachsen- Anhalt am 28. September 2019 in der Leopoldina, Halle.