Im Rechtsprechungsjahr 2019 haben der Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte die rechtlichen Rahmenbedingungen der Arzthaftung erneut konkretisiert. Eine dieser Entscheidungen ist hoch umstritten; in ihr hat sich der Bundesgerichtshof mit dem Stellenwert des menschlichen Lebens auseinandergesetzt.


1. Behandlungsfehler

In Gerichtsverfahren steht die Beurteilung von Behandlungsfehlern nur Medizinern zu. Juristen dürfen sich ausschließlich mit rechtlichen Bewertungen befassen.

Die Gerichte stellen immer wieder klar, dass einem Vortrag medizinischer Laien nachgegangen werden muss, wenn er nicht von vorneherein unschlüssig ist. So auch in diesem Fall: Die Klägerin ist Alleinerbin ihres verstorbenen Ehegatten. Nachdem eine hausärztlich durchgeführte Injektionsbehandlung der beim Patienten bestehenden Lumboischialgien zu keiner Besserung der Symptomatik geführt hatte, wurde in der Folge eine explorative Laparotomie durchgeführt, ohne dass sich eine Ursache für die Beschwerden fand. In der Folgezeit kam der Patient auf die Intensivstation und wurde mit einem Reserve-Antibiotikum behandelt.

Es bestand der Verdacht auf eine Lungenentzündung und einen Harnwegsinfekt. In Blutkulturen zeigte sich an diesem Tag ein Befall mit Staphylococcus aureus. Behandelte Folgediagnosen waren abszessverdächtige Herde im Bereich der Rückenmuskulatur, Feststellung von Bakterien und Pilzen, Aspirationspneumonie, Kammerflimmern, septische Einschwemmungen, Taubheit des linken Arms, Verdacht auf einen bösartigen Tumor im Bereich des vierten Brustwirbels, Verdacht einer pseudomembranösen Colitis und ausgeprägte systemische Entzündung. Schließlich verstarb der Patient. Nach der Klägerin liegt die Vermutung sehr nahe, dass in der Klinik Hygienemängel bestanden. Der BGH unterstützt die Klägerin: Es obliege den beklagten Ärzten, konkret zu den von ihnen ergriffenen Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygiene und zum Infektionsschutz bei der Behandlung vorzutragen, etwa durch Vorlage von Desinfektions- und Reinigungsplänen. Dies hätte das Untergericht berücksichtigen müssen. (BGH, Beschluss vom 25.06.2019 - VI ZR 12/17)

Grundsätzlich kritisch sind Situationen, in denen ein Arzt nicht den sicheren Weg geht.  So in dem Fall, dass ein Patient über wiederkehrende starke Blutungen aus dem Anus klagte und der behandelnde Internist lediglich Hämorrhoiden und eine Analfissur diagnostizierte, ohne eine Darmspiegelung zu veranlassen. Dieses Unterlassen sah das Gericht als groben, nicht mehr verständlichen Fehler an (OLG Braunschweig, Urteil vom 28.02.2019, Az. 9 U 129/15).

Eine unterlassene Basisdiagnostik wurde auch im folgenden Fall als grober Behandlungsfehler gesehen: Eine extrem von Kopfschmerzen geplagte Patientin (Gynäkologin) suchte einen Internisten auf, welcher der Patientin auf ein im Ergebnis unauffälliges CT Ibuprofen verordnete und sie nach Hause entließ. Die abends manifestierte Sinusvenenthrombose blieb infolge des Unterlassen weiterer diagnostischer Maßnahmen unerkannt. Das Gericht stellte in seinem Urteil ausdrücklich fest, dass das Diagnose- und Behandlungsregime beim Internisten lag und die Patientin insoweit nicht in der Pflicht war, ihre Krankengeschichte selbstständig zu schildern (OLG Celle, Urteil vom 09.04.2019, Az. 1 U 66/18).


2. Aufklärungsfehler

Ohne Aufklärung des Patienten über die schicksalhaft möglichen Risiken einer medizinischen Maßnahme und ohne Einwilligung des Patienten können insbesondere Eingriffe eine rechtswidrige Körperverletzung sein.

Eine Patientin macht Schadenersatzansprüche wegen der Entfernung ihrer Gebärmutter geltend, weil sie die Entfernung ausdrücklich abgelehnt hatte. Zunächst war eine Hysteroskopie mit suprazervikale Hysterektomie (Verbleib des Gebärmutterhalses) geplant. Da am Operationstag wegen einer Stenose keine Gebärmutterspiegelung durchgeführt werden konnte, wurde eine komplette vaginale Hysterektomie mit Entfernung sowohl Gebärmutterkörper als auch Gebärmutterhalses durchgeführt. Hierbei kam es zur Verletzung des Harnleiters. Die behandelnden Ärzte behaupten, dass die Patientin bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die mögliche Planänderung dieser zugestimmt hätte. Der BGH sagt dazu: Einen Arzt trifft für seine Behauptung, der Patient hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt, die Beweislast erst, wenn der Patient plausibel macht, dass er – wären ihm rechtzeitig die Risiken des Eingriffs verdeutlicht worden – vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Zu Unrecht hat das Untergericht zu Lasten der Klägerin nur die Risiken berücksichtigt, die es nur bei der ursprünglich geplanten, tatsächlich nicht durchgeführten, laparoskopischen suprazervikalen Hysterektomie gab. Dies genügt für eine hypothetische Einwilligung nicht (BGH, Urteil vom 21.05.2019 - VI ZR 119/18).

Eines der wichtigsten Themen der Risikoaufklärung ist das der Grundaufklärung. Ein Patient muss unabhängig von der Aufklärung über bestimmte Risiken wissen, worauf er sich einlässt. Einer Klägerin wurden wegen schmerzhaftem Nervenwurzelsyndrom S 1 präsakral 40 ml Meierin (ein Lokalanästhetikum) und 20 mg Triamcinolon (ein synthetisches Glukokortikoid) injiziert. Seit diesem Zeitpunkt leidet sie unter starken Myoklonien (unwillkürliche Kontraktionen von Muskeln). Haben sich – wie sachverständigerseits festgestellt untypische – Risiken verwirklicht, über die nicht aufzuklären war, kommt ein Wegfall der Haftung des Arztes für Aufklärungsversäumnisse lediglich dann in Betracht, wenn der Patient wenigstens eine Grundaufklärung erhalten hat. Die Grundaufklärung ist nur dann erteilt, wenn dem Patienten ein zutreffender Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt wird, die für seine körperliche Integrität und Lebensführung auf ihn zukommen können. Fehlt es an der Grundaufklärung, dann hat der Arzt dem Patienten die Möglichkeit genommen, sich auch gegen den Eingriff zu entscheiden und dessen Folgen zu vermeiden. Eine Grundaufklärung hatte die Patientin nicht erhalten, so dass die Injektionsbehandlung rechtswidrig war (BGH, Urteil vom 28.05.2019 - VI ZR 27/17)

Nach dem Patientenrechtegesetz (§ 630e Abs. 2 Ziff. 2 BGB) muss die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann. Ist die Versorgung einer Oberschenkelhalsfraktur dringlich aber nicht sofort durchzuführen, muss dem Patienten zwischen Aufklärung und Einwilligung eine den Umständen nach angemessene Bedenkzeit gelassen werden. Wird ein Patient unmittelbar im Anschluss an die Aufklärung zur Unterschrift unter die Einwilligungserklärung gedrängt, ist die Entscheidungsfreiheit des Patienten unzulässig verkürzt. Die den Eingriff durchführenden Ärzte haben zumindest dann die Pflicht, sich vor dem Eingriff davon zu überzeugen, dass die Einwilligungserklärung nach wie vor dem freien Willen des Patienten entspricht. (OLG Köln, Urteil vom 16.01.2019, 5 U 29/17)

Nach § 630h Abs. 2 BGB hat der Behandelnde zu beweisen, dass er für Maßnahmen, insbesondere Eingriffe, nach der Aufklärung eine Einwilligung eingeholt hat. Ist die Aufklärung mangelhaft, kann der Behandelnde sich darauf berufen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte. In einem Prozess muss sich der Behandelnde ausdrücklich auf die hypothetische Einwilligung berufen und Tatsachen vortragen, die diese Hypothese rechtfertigen. Es ist dann zu prüfen, ob der Patient bei richtiger Aufklärung ebenfalls zugestimmt hätte oder ob er zumindest in einen „ernsthaften Entscheidungskonflikt“ gekommen wäre. Um die ärztliche Hypothese zu Fall zu bringen, genügt es, wenn der Patient schlüssig vorträgt, dass ihn die vollständige Aufklärung ernsthaft vor die Frage gestellt hätte, ob er dem Eingriff zustimmt oder nicht. Eine hypothetische Einwilligung hat der BGH in zwei Fällen von Organspenden abgelehnt. Eine unzureichende Aufklärung der Spender von Lebendorganen könne nicht dadurch geheilt werden, dass man unterstellt, bei Organspenden an nächste Angehörige hätten die Spender auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Organspende eingewilligt (BGH, Urteile vom 29.01.2019, Az.: VI ZR 495/16 und VI ZR 318/17).


3. Sachverständigengutachten/rechtliches Gehör

Gerichte haben die Pflicht, Hinweisen der Parteien innerhalb prozessrechtlicher Rahmenbedingungen nachzugehen. Bei einer Nukleotomie L4/L5 brach von einer Bandscheibenfasszange eine flexible Branche ab. Der Kläger beruft sich neben Aufklärungsversäumnissen auf Behandlungsfehler. Der Kläger hatte im Berufungsverfahren vorgetragen, dass nach Mitteilung der Herstellerfirma der Bandscheibenfasszange ausschließlich zum Entfernen von Weichgewebe verwendet werden dürfe und das Sachverständigengutachten zu diesem Punkt unzureichend sei. Der BGH stellt dazu fest, dass es für die Pflicht zur Ladung des Sachverständigen genügt, wenn der Kläger wie hier allgemein angibt, in welcher Richtung durch entscheidungserhebliche Fragen eine weitere Aufklärung gewünscht wird. Es komme nicht darauf an, dass das Gericht Erläuterungsbedarf sieht oder ob ein solcher von einer Partei nachvollziehbar dargelegt worden ist. (BGH, Beschluss vom 07.05.2019 - VI ZR 257/17)

Analog verhält es sich in folgendem Fall: Die Kläger hatten gegen die beklagten Ärzte Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit der Behandlung ihres verstorbenen Vaters geltend gemacht. Beim Vater der Kläger, dem Allgemeinarzt Dr. K., war wegen Herzrhythmusstörungen und drohendem Herzkranzgefäßverschluss eine Herzkatheteruntersuchung mit PTCA (perkutane transluminale Koronarangioplastie) vorgenommen worden. Danach war wegen zunehmender Schwellung der Unterschenkel eine antibiotische und antidiuretische Behandlung eingeleitet worden. Nach Feststellung unter anderem zunehmender Ödeme verstarb der Patient drei Monate später. Die Kläger behaupten, es sei bereits am Tag der PTCA zu einer Schwellung und Überwärmung des rechten Unterschenkels mit späterer feuchter Gangrän gekommen. Der BGH beurteilt es als eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), auf das entsprechenden Angebot eines Zeugenbeweises die mündliche Verhandlung nicht wieder eröffnet zu haben und auf das vorgelegte Gedächtnisprotokoll nicht eingegangen zu sein (BGH, Beschluss vom 21.05.2019 - VI ZR 54/18).


4. Verlängerung eines leidvollen Lebens

Am 02.04.2019 hat der 6. Zivilsenat des BGH – anders als die Vorinstanz – entschieden, dass Ärzte für eine nach dem Facharztstandard nicht indizierte künstliche Verlängerung des Leidens keinen Schadensersatz zahlen müssen. Gegen dieses Urteil ist Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der 1929 geborene Vater des Klägers (Patient) litt an fortgeschrittener Demenz, er konnte sich nicht mehr bewegen und nicht mehr kommunizieren und hatte offensichtlich Schmerzen. Er wurde bis zu seinem Tod mittels einer PEG-Magensonde ernährt. Im Klageverfahren wurde Krankenhausärzten der Vorwurf gemacht, bei Übernahme des Patienten aus einem anderen Krankenhaus nicht mit dem Sohn, Betreuer des Patienten, die Fortführung der PEG-Ernährung kritisch diskutiert und dadurch das Leiden des Patienten verlängert zu haben. Der Bundesgerichtshof verwies darauf, dass das menschliche Leben ein höchstrangiges Rechtsgut sei. Daher verbiete es sich, das Leben – auch ein leidvolles Weiterleben – überhaupt als Schaden anzusehen (BGH, Urteil vom 02.04.2019, Az. VI ZR 13/18)

Immaterielle Schadenersatzansprüche – werden sie bald deutlich steigen?

Immaterielle Schäden sind keine Vermögensschäden wie Verdienstausfall oder Kosten der Heilbehandlung, sondern finanziell bewertete unmittelbare Körper- oder Gesundheitsschäden. Immaterielle Schäden sind nur zu ersetzen, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. Neue Tendenzen in der Rechtsprechung und gesetzliche Änderungen könnten entsprechende Schadenaufwendungen merklich in die Höhe treiben.

1. Hinterbliebenengeld:
Seit Juli 2017 gibt es in Deutschland ein „Hinterbliebenengeld“ (§ 844 Abs. 3 BGB). Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zu dem Getöteten in einem besonderen Näheverhältnis stand, für das seelische Leid eine Entschädigung zu leisten. Hierbei geht es vor allem um Ansprüche von Ehegatten, Lebenspartnern, Eltern, Kindern und Geschwistern (LG Tübingen, Urt. v. 17.05.2019). Ein „besonderer Schock“ des Hinterbliebenen ist nicht erforderlich.

2. Schockschaden:

Ersatzpflichtig kann auch ein Schockschaden sein, das heißt die psychische Beeinträchtigung infolge eines Unfalltodes oder einer schweren Gesundheitsverletzung von Angehörigen. Der BGH hat nun in einem Urteil vom 21.05.2019 (Az. VI ZR 299/17) klargestellt, dass als haftungsbegründendes Ereignis nicht nur ein Unfallereignis im eigentlichen Sinne ist, sondern auch eine fehlerhafte ärztliche Behandlung.

3. Schmerzensgeld:
Die aktuelle Schmerzensgeldberechnung im Sinne des § 253 Abs. 2 BGB bemüht sich auf der Grundlage vorhandener Urteile um Genugtuung und vor allem Wiedergutmachung für den Geschädigten. So hat am 13.11.2019 das OLG Oldenburg (Az. 5 U 108/18) einem heute 8-jährigen Mädchen 500.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen für einen 45 Minuten vor der Geburt erlittenen schweren Hirnschaden (während einer Bradykardie des Kindes zeichnete das CTG weder Herzfrequenzen der Mutter noch des Kindes auf; der danach wieder erfasste Herzschlag der Mutter war dann fälschlicherweise für den des Kindes gehalten worden).
In der juristischen Literatur wird derzeit diskutiert, ob die bisherige Schmerzensgeldberechnung noch zeitgemäß ist. Grundlage für diese Diskussion sind Gerichtsentscheidungen aus 2018 und 2019 (OLG Frankfurt Az. 22 U 97/16, LG Aurich Az. 2 O 165/12, LG Magdeburg (10 O 503/18), welche die Dauer der Lebensbeeinträchtigung viel stärker als bisher berücksichtigen wollen. So hat das LG Aurich für einen 8-jährigen Jungen mit verletzungsbedingter Amputation beider Unterschenkel 800.000 Euro Schmerzensgeld errechnet. Berechnungsgrundlage waren 10.000 Euro für jedes Jahr der prognostizierten Lebenserwartung von 8o Jahren. Man darf gespannt sein, ob sich diese Intentionen auch in zukünftigen Entscheidungen finden werden. Zunächst einmal hat sie das OLG Düsseldorf in seinem Urteil vom 28.03.2019 (Az. 1 U 66/18) ausdrücklich nicht übernommen.

Rechtsanwalt Patrick Weidinger, Foto: privat
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Autor:
Rechtsanwalt Patrick Weidinger
Deutsche Ärzteversicherung
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