Norddeutsche SchlichtungsstelleAus der Fallsammlung der Norddeutschen Schlichtungsstelle


Kasuistik

In einem Schlichtungsverfahren war die Betreuung einer Patientin mit einer Extrauteringravidität zu prüfen. Durch Versäumnisse der niedergelassenen Gynäkologin und der Klinik war es zu einer Verzögerung der Diagnose gekommen. Bei einer 29-jährigen Patientin war die letzte Regelblutung am 20. Januar erfolgt und im nächsten Monat ausgeblieben. Ein Besuch bei der betreuenden Gynäkologin am 29. Februar ergab eine Schwangerschaft der 6. Woche. Der Untersuchungsbefund einschließlich Sonographie war unauffällig, der ß-HCG-Wert betrug 730,5 U/l.

Bei der nächsten Untersuchung am 3. März, der 7. Schwangerschaftswoche, gab die Patientin Übelkeit und Bauchschmerzen an. Der ß-HCG-Wert war auf 1279,0 U/I angestiegen. Körperliche Schonung wurde empfohlen.

Fünf Tage später, am 8. März, war sonographisch keine Schwangerschaft im Uterus erkennbar. Unter der Verdachtsdiagnose Missed Abortion wurde die Patientin in die Klinik eingewiesen. Dort wurde am folgenden Tag eine Saugkürettage mit anschließender Nachkürettage vorgenommen. Die Patientin wurde anschließend entlassen. Im Kurzbrief an die Gynäkologin wurde eine Ultraschallkontrolle in 10 Tagen empfohlen. Das fragliche Abortmaterial wurde zur histopathologischen Untersuchung eingeschickt.

Der Befundbericht trägt als Ausgangsdatum den 11. März. Darin heißt es: „Deziduaanteile im Abradatmaterial. Da plazentare Gewebsstrukturen nicht nachweisbar sind, müsste klinisch auch an die Möglichkeit einer Extrauteringravidität gedacht werden.“ Der Bericht trägt den handschriftlichen Zusatz: „Bitte um ß-HCG-Kontrolle“. Er wurde am 14. März an die Praxis gefaxt. Am 16. März stellte sich die Patientin bei ihrer Frauenärztin vor. Die Untersuchung ergab eine Schmierblutung ex utero, die Adnexe waren palpatorisch frei. Sonographisch erschien das Cavum uteri nicht leer. Vermerkt ist: „Blutentnahme für ß-HCG notwendig“. Eine Blutentnahme wurde nicht durchgeführt. Die Patientin verließ ohne neuen Termin die Praxis.

Am 21. März traten starke Bauchschmerzen auf. Die Patientin stellte sich in der Klinik vor. Die Untersuchung ergab druckschmerzhafte rechte Adnexe bei sonographisch regelrechtem Befund. Auf dem Laborblatt von 12.45 Uhr waren sämtliche Werte normal, jedoch betrug der ß-HCG-Wert 13275,0 U/l. Die Patientin wurde nach Hause entlassen und kam am 23. März um 18.10 Uhr wegen seit zwei Stunden bestehender heftigster Unterbauchschmerzen erneut in die Klinik. Es bestand eine regelstarke vaginale Blutung, der rechte Adnexbereich war extrem druckdolent. Sonographisch fand sich dort eine etwa 3 x 6 cm große Raumforderung. Die Diagnose lautete: Adnexitis, DD Extrauteringravidität DD retrograde Menstruation. Der ß-HCG-Wert um 18.47 Uhr betrug 10643,0 U/l. Um 21.10 Uhr wurde zunächst eine Kürettage vorgenommen, danach eine Laparoskopie, die eine rechtsseitige rupturierte Eileiterschwangerschaft mit starker Blutung ergab. Der Eileiter wurde entfernt und die Bauchhöhle gesäubert und gespült. Der Eingriff verlief komplikationslos.

Die Kontrolle des ß-HCG am 25. März ergab 1888,9 U/l. Am 27. März wurde die Patientin nach Hause entlassen, der Hb-Wert betrug 6,5 g/dl.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Die Patientin vermutet Behandlungsfehler ihrer Frauenärztin wie auch durch die Klinik. Die Eileiterschwangerschaft sei zu spät erkannt worden, was zum Verlust des Eileiters geführt habe.


Stellungnahme der in Anspruch genommenen Gynäkologin


Die entscheidenden Behandlungen hätten in der Klinik stattgefunden. Bei der Nachuntersuchung sei der Patientin eine Blutentnahme zur ß-HCG-Kontrolle empfohlen worden, was diese jedoch abgelehnt habe. Sogar ein Kontrolltermin sei abgelehnt worden.

Stellungnahme der in Anspruch genommenen Klinik

Am 21. März sei der erhöhte ß-HCG-Wert im Zusammenhang mit dem histologischen Befund und der unauffälligen Klinik als nicht so dringlich bewertet worden. Man sei davon ausgegangen, dass die Patientin bei Zustandsverschlechterung sofort die Klinik aufsuchen würde. Für die Frage einer etwaigen Haftungsverantwortung sei die zeitlich frühzeitigere Behandlung durch die niedergelassene Frauenärztin zu berücksichtigen.


Gutachten

Am 8. März sei von der niedergelassenen Gynäkologin die Diagnose einer gestörten Schwangerschaft korrekt gestellt und die Patientin zur Therapie in die Klinik eingewiesen worden. Bei der Nachuntersuchung am 16. März nach der Abortkürettage hätten zwar keine klinischen Anzeichen einer Extrauteringravidität vorgelegen. Die Gynäkologin habe jedoch den histologischen Befund nicht beachtet. Sie hätte auf die dringende Notwendigkeit der ß-HCG-Bestimmung hinweisen und bei Beschwerden die sofortige Vorstellung in der Klinik anraten müssen. Ein derartiges Gespräch sei in den Unterlagen nicht dokumentiert. Am 21. März hätte in der Klinik der Befund zusammen mit der Histologie und dem stark erhöhten ß-HCG-Wert den dringenden Verdacht auf eine Eileiterschwangerschaft erwecken müssen. Eine Laparoskopie am 21. März, spätestens am 22. März hätte die Konsequenz sein müssen. Am 23. März hätte bereits bei der Aufnahmeuntersuchung die Diagnose gestellt werden müssen. Es sei nicht erklärlich, warum mit der Operation noch zwei Stunden abgewartet worden sei. Ob bei einer frühzeitigeren Diagnose eine tubenerhaltende Operation möglich gewesen wäre, sei nicht eindeutig festzustellen. Die Schwangerschaftsrate nach Eileiterschwangerschaft betrage sowohl bei Tubenerhalt wie nach Entfernung des Eileiters 40 bis 50 %


Stellungnahme der Klinik zum Gutachten

Der Kernvorwurf der verspäteten Behandlung sei der betreuenden Frauenärztin anzulasten. Bei der Untersuchung am 21. März habe die Akte vom 9. März einschließlich Histologie nicht vorgelegen. Am 23. März sei die Laparoskopie erst um 21.10 Uhr erfolgt, weil die zuständige Oberärztin noch mit einer anderen Operation beschäftigt gewesen sei.


Bewertung der Haftungsfrage

Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachten an. Bei der Nachuntersuchung am 16. März war der histologische Bericht mit dem Vermerk: „Bitte um HCG-Kontrolle“ in der Praxis bereits vorhanden. Aufgrund der gesamten Befundkonstellation war eine solche Kontrolle dringend notwendig. Die Praxisdokumentation enthielt keinen Hinweis darauf, dass die Patientin die Blutentnahme abgelehnt hätte. Die Unterlassung der ß-HCG-Bestimmung stellt einen Befunderhebungsmangel der betreuenden Gynäkologin dar. Hier kommt es unter folgenden Voraussetzungen zu einer Umkehr der Beweislast zugunsten der Patientenseite:

  1. Es wurden Befunde nicht erhoben, die dem Standard gemäß hätten erhoben werden müssen. Eine standardgerechte ß-HCG-Bestimmung hätte erfolgen müssen. Aufgrund der zeitnah erstellten Dokumentation kann nicht von einer Weigerung der Patientin ausgegangen werden.
  2. Bei standardgemäßer Untersuchung hätte man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen abklärungs- bzw. behandlungsbedürftigen Befund erkannt. Der Bundesgerichtshof hat den Begriff „hinreichend“ nicht weiter definiert. Die Oberlandesgerichte definieren das Maß aber, unwidersprochen vom Bundesgerichtshof, als überwiegende Wahrscheinlichkeit, also mehr als 50 %. Aufgrund des weiteren Verlaufs kann davon ausgegangen werden, dass bei Durchführung dieser Maßnahmen die Diagnose einer Extrauteringravidität gestellt wird.
  3. Das Unterlassen der Behandlung in Kenntnis der richtigen Diagnose würde eine erhebliche Standardunterschreitung und damit einen schweren Behandlungsfehler darstellen. In Anbetracht der Risiken eines Fortschreitens einer unbehandelten Extrauteringravididität würde das Unterlassen einer Operation einen schweren Behandlungsfehler darstellen.


Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befundes oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.

Als die Patientin 21. März mit Beschwerden die Klinik aufsuchte, betrug der ß-HCG-Wert 13275,0 U/I. Ein 12 Tage nach Abortkürettage derartig erhöhter Wert erforderte dringend eine weitere Abklärung mittels Laparoskopie am selben Tag. Entsprechende Untersuchungen wurden nicht veranlasst, es liegt ebenfalls ein Befunderhebungsmangel vor mit der Beweislastumkehr zugunsten der Patientin. Als die Patientin am 23. März mit einem hochakuten Krankheitsbild erneut in die Klinik kam, gab es keinen Zweifel an der Diagnose. Es bestand keine Notwendigkeit, andere Krankheitsbilder zu erwägen und die erforderliche Operation über Stunden hinauszuzögern.


Schaden

Die Beweislastumkehr bezieht sich im vorliegenden Fall auf folgenden primären und typischerweise damit verbundenen sekundären Gesundheitsschaden:

Der Verlust des betroffenen Eileiters sowie vermehrte Beschwerden für den Zeitraum von ca. 2 Wochen sind als fehlerbedingt anzusehen.

Darüber hinaus gehende Gesundheitsschäden sind nicht auf das fehlerhafte Vorgehen zurückzuführen. Insbesondere ist zur Fruchtbarkeit nach solchen Eingriffen keine sichere Aussage möglich. Die Schwangerschaftsrate liegt bei 40 bis 50 %, unabhängig davon, ob eine eileitererhaltende Operation oder eine Entfernung des Eileiters durchgeführt wurde. Für den entstandenen fehlerbedingten Gesundheitsschaden haften das Krankenhaus und die niedergelassene Frauenärztin gesamtschuldnerisch.


Fazit

Die Diagnostik der Extrauteringravidität kann erhebliche Probleme aufwerfen. Im Zweifelsfall – zum Beispiel bei fehlendem Nachweis von Schwangerschaftsmaterial bei einer Abortkürettage – ist die ß-HCG-Bestimmung die wichtigste diagnostische Maßnahme.

Aus rechtlicher Sicht ist auf die Bedeutung der zeitnah erstellten ärztlichen Dokumentation zu verweisen. Auch die Rechtsprechung legt diese in der Regel zugrunde, weil davon ausgegangen wird, dass von Arztseite kein Grund für eine Manipulation bestand. Als zeitnah wird eine Dokumentation daher u. a. dann bewertet, wenn zum Zeitpunkt der Erstellung noch keine Vorwürfe erhoben wurden oder mit ihnen noch nicht zu rechnen war. Gesamtschuldnerschaft bedeutet nicht, dass die Patientenseite sich den Schaden nur jeweils zur Hälfte ersetzen lassen kann. Vielmehr kann der gesamte Anspruch gegen einen Schädiger durchgesetzt werden. Es erfolgt dann zwischen den Schädigern ein Ausgleich im Innenverhältnis. In der Regel bestehen grundsätzliche Vereinbarungen zur Quotelung zwischen den Haftpflichtversicherern.


Verfasser:
Prof. Dr. med. Wolfgang Heidenreich
Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle


Christine Wohlers
Rechtsanwältin der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern

Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
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