Aus der Fallsammlung der Norddeutschen Schlichtungsstelle
Kasuistik
Da die Dokumentation wenig aussagekräftig ist, werden in diesem Fall jeweils die Darstellung des Patienten und die des Arztes zitiert.
Darstellung des Patienten
Ein 30-jähriger Patient stellte sich erstmalig Ende Oktober in der Sprechstunde bei seinem Hausarzt, Facharzt für Allgemeinmedizin, vor. Er hatte frisches Blut beim Stuhlgang bemerkt und bereits seit längerer Zeit über eine wechselnde Stuhlfrequenz mit Verstopfung und Durchfall geklagt.
Der Hausarzt führte in linker Seitenlage eine Rektoskopie durch, welche äußerst schmerzhaft war. Er habe gesagt, dass die Beschwerden eindeutig von Hämorrhoiden verursacht seien und der Patient ballaststoffreiche Kost zu sich nehmen solle. Der Arzt habe kein Blut abgenommen und auch keine weitere körperliche Untersuchung durchgeführt. Nach der Konsultation habe der Patient weiterhin Beschwerden gehabt. Er habe den Rat des Arztes befolgt und ballaststoffreich gegessen. Dadurch sei aber keine Besserung eingetreten. Im Zeitraum bis Ende Dezember sei vielmehr ein Gewichtsverlust von zwölf Kilogramm aufgetreten – begleitet von stärksten Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich.
Der Patient habe sich daraufhin bei einem anderen Allgemeinmediziner vorgestellt. Dieser habe eine Überweisung zum Proktologen ausgestellt. Dort sei dann ein stenosierendes Rektumkarzinom mit Metastasen festgestellt worden. Die weitere Behandlung sei dann stationär erfolgt.
Darstellung des Arztes
Der Patient sei Ende Oktober in seine Praxis gekommen und habe über frischen analen Blutabgang geklagt. Daraufhin habe er sofort eine Proktoskopie unter Anwendung von Lokalanästhesie des Analringes durchgeführt. Es hätten sich ausgedehnte drittgradige Hämorrhoiden sowie kleinere Analpapillen bei der Vorspiegelung gefunden. Bei der Untersuchung bis zu einer Höhe von 15 Zentimetern mit dem Rektoskop hätten sich keine weiteren Blutungen auf der Darmschleimhaut sowie keine Fissuren am Analring befunden.
Er habe mitgeteilt, dass Hämorrhoiden vorliegen würden und dass gegebenenfalls bei weiteren Blutungen auch eine Koloskopie notwendig sei, wie er das üblicherweise bei Analblutungen handhabe. Er habe dem Patienten außerdem mitgeteilt, dass eine anale Blutung durch eine Koloskopie abgeklärt werden sollte.
Zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung Ende Oktober habe sich für ihn kein Hinweis und kein schwerwiegender Verdacht auf ein Kolonkarzinom ergeben, weil diese in der Regel erst nach dem
40. Lebensjahr auftreten würden. Es sei „schicksalhaft“ und dramatisch, dass bei einem so jungen Menschen ein so massiver Befund gefunden worden sei.
Weiterer Behandlungsverlauf durch die nachbehandelnde Klinik
Mitte Januar des darauffolgenden Jahres wurde der Patient wegen seit Oktober bestehender peranaler Blutabgänge, wechselnder Stühle sowie ungewolltem Gewichtsverlust von zwölf Kilogramm in den vorangegangenen zwei Monaten stationär für eine Woche aufgenommen.
Zunächst erfolgte die Sicherung der Diagnose eines vier mal vier Zentimeter großen, stenosierend wachsenden Tumors mit Umgebungsinfiltration am rektosigmoidalen Übergang und zahlreichen Lebermetastasen. Daran schloss sich die operative Behandlung mit Anlage eines doppelläufigen Transversostomas in den linken Mittelbauch und Probeentnahmen vom Peritoneum sowie aus der Leber an. Es wurde eine Chemotherapie in palliativer Hinsicht begonnen. An den Folgen des Tumors ist der Patient anderthalb Jahre später verstorben.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Es wird beanstandet, dass der Hausarzt nach der Enddarmuntersuchung bei dem Patienten keine Überweisung zu einem Proktologen beziehungsweise zu einer Koloskopie veranlasst habe. Blut im Stuhl sei immer ein Alarmzeichen und sollte bei einem 30-jährigen Patienten nicht mit zwei Hämorrhoiden abgetan werden.
Stellungnahme des Arztes
Seine Stellungnahme entspricht seiner Darstellung zum medizinischen Sachverhalt – wie oben aufgeführt. Zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung habe sich für ihn kein Hinweis und kein schwerwiegender Verdacht auf ein Kolonkarzinom ergeben, weil diese in der Regel erst nach dem 40. Lebensjahr aufträten. Ein irgendwie geartetes Verschulden oder eine Diagnostikverzögerung könne er in seinem Verhalten nicht erkennen, da die sofort durchgeführte Rektoskopie keinen Hinweis auf tumoröse Veränderungen ergeben habe, sondern eine Hämorrhoidalblutung wahrscheinlich erscheinen ließ.
Er habe dem Patienten auch mitgeteilt, dass eine anale Blutung durch eine Koloskopie abgeklärt werden sollte. Zum Zeitpunkt der einmaligen Untersuchung Ende Oktober sei ihm der sich im Januar ergebende Befund eines in 13 bis 15 Zentimeter Tiefe befindlichen, zirkulär wachsenden Tumors natürlich weder bewusst noch klar erkennbar gewesen.
Bewertung der Haftungsfrage
Bei dem Patienten wurde durch den Hausarzt Ende Oktober aufgrund einer frischen analen Blutung und bei wechselnder Stuhlfrequenz mit Verstopfung und Durchfall seit einem längeren Zeitraum eine Enddarmuntersuchung durchgeführt. Zu bemängeln ist die fehlende Dokumentation. Es liegen keine Angaben vor:
- über den äußeren Inspektionsbefund: Haut? Perianale Venen? Prolabierende Hämorrhoiden?
- über den analen Tastbefund
- wie hoch die Rektoskopie durchgeführt wurde
- ob das ganze Rektum eingesehen werden konnte
- ob zur Vorbereitung einer erfolgreichen Rektoskopie eine Enddarmentleerung durch ein Abführzäpfchen erfolgte
Ein normales Rektoskop hat eine Länge von 20 Zentimetern und ist dafür vorgesehen, das gesamte Rektum bis 15 Zentimeter Höhe einzusehen. Der knapp drei Monate nach der Untersuchung erhobene Befund eines stenosierend wachsenden Tumors mit Umgebungsinfiltration im oberen Rektumdrittel hätte bei standardgerechter Rektoskopie bereits Ende Oktober erkannt werden müssen.
Neben diesem Befunderhebungsmangel und der fehlenden Dokumentation ist von der Schlichtungsstelle zu bemängeln, dass der Arzt auf der einen Seite dem Patienten mitgeteilt haben will, dass eine anale Blutung durch eine Koloskopie abgeklärt werden sollte, er diese andererseits aber nicht veranlasst habe. Die Schlichtungsstelle kam zu dem Ergebnis, dass bei korrekter Vorbereitung für eine Rektoskopie der später in 13 Zentimetern Höhe, also im oberen Rektumdrittel gefundene Tumor auch Ende Oktober hätte festgestellt werden müssen.
Gesundheitsschaden
Auch wenn bei dem ungewöhnlich jungen Patienten von einem aggressiven Tumorwachstum – zum Beispiel im Rahmen eines Lynch-Syndroms oder auch Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer (HNPCC) – ausgegangen werden kann, so ist doch davon auszugehen, dass bei dem massiven Befund Mitte Januar auch schon Ende Oktober ein größerer Tumor vorhanden gewesen sein müsste.
Aus Sicht der Schlichtungsstelle sind fehlerbedingte, gesundheitliche Beeinträchtigungen in Form von persistierenden Blutabgängen beim Stuhlgang, Schmerzen sowie Zunahme der körperlichen Schwäche und Gewichtsverlust zu nennen in der Zeit zwischen Ende Oktober und Mitte Januar des darauffolgenden Jahres.
Fazit
Dieser Fall ist ein Beispiel für den sogenannten Anscheinsbeweis. Es handelt sich um einen typischen Geschehensablauf. Steht ein bestimmter Tatbestand fest – hier Umfang des Karzinoms Mitte Januar, der nach den Erkenntnissen der Medizin schon im Oktober typischerweise in einer vergleichbaren Größe vorhanden war – so ist hier im Rahmen des Beweises des ersten Anscheins davon auszugehen, dass das Karzinom fehlerhaft übersehen wurde. Der Arzt kann sich in dem Fall nur rechtfertigen, indem er beweist, dass ernsthaft die Möglichkeit bestand, dass das Karzinom noch nicht erkennbar war. Auch aufgrund der unzureichenden Dokumentation war ihm das nicht möglich.
Literatur zum Wachstumsverhalten bei Rektumkarzinomen:
1) Bolin S, Nilsson E, Sjödahl R. Carcinoma of the Colon and Rectum – Growth Rate. Ann Surg 1983; 198 (2): 151-158
2) Brú A, Albertos S et al. The Universal Dynamics of Tumor Growth. Biophys Journ 2003; 85: 2948-2961
3) Lynch HT, Lynch PM, Lanspa SJ, Snyder CL, Lynch JF, Boland CR: Review of the Lynch syndrome: history, molecular genetics, screening, differential diagnosis, and medicolegal ramifications. Clin Genet 2009; 76: 1–18. CrossRef MEDLINE PubMed Central
Autoren:
Dr. med. Manfred Giensch
Chirurgie, Unfallchirurgie, Proktologie
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Christine Wohlers
Rechtsanwältin der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Professor Dr. med. Walter Schaffartzik
Vorsitzender der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover
Tel.: 0511/353939-10 oder -12
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