
Wegweisende Urteile, eine neue Versicherungspflicht sowie die Corona-Impfung sind exponierte Arzthaftpflicht-Themen des Jahres 2021
I. Rechtsprechung
Von den Gerichtsentscheidungen zu Behandlungs- und Aufklärungsfehlern sind besonders bemerkenswert:
1. BGH, Urteil vom 27. April 2021, Az.: VI ZR 84/19
Ein Patient nimmt eine niedergelassene Fachärztin für Augenheilkunde nach der Erblindung eines Auges auf Schadenersatz in Anspruch. Wegen plötzlich aufgetretener schwarzer Flecken im linken Auge hatte er sich einen Termin geben lassen, zu welchem er wegen der vorgesehenen Pupillenerweiterung eine Fahrbegleitung mitbringen sollte. Die Untersuchung ergab eine altersbedingte Glaskörpertrübung. Drei Monate später stellte ein Optiker einen Netzhautriss fest. Trotz sofortiger Notoperation erblindete der Patient.
Im Prozess stritt man darüber, ob die Augenärztin eine Pupillenweitstellung veranlasst hatte. Die Ehefrau des Patienten gab an, dass sie ihren Mann zwar begleitet hatte, dieser jedoch ohne Einschränkungen selbst hätte heimfahren können. In der elektronischen – überschreibbaren – Dokumentation findet sich „Pup. in medikam. Mydriasis“. Zum Beweiswert der elektronischen Dokumentation stellt der BGH fest: „Eine elektronische Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar macht, genügt nicht den Anforderungen des § 630f Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB. Nach diesen Bestimmungen sind Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen. Deshalb muss im Falle einer elektronisch geführten Patientenakte die eingesetzte Softwarekonstruktion gewährleisten, dass nachträgliche Änderungen erkennbar werden. Einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar macht, kommt keine positive Indizwirkung zu. Dies gilt auch dann, wenn der Patient keine greifbaren Anhaltspunkte dafür darlegt, dass die Dokumentation nachträglich zu seinen Lasten geändert worden ist.“ Somit konnte die Augenärztin den Beweis einer ordnungsgemäßen Untersuchung nicht erbringen.
Cave: Eine elektronische Dokumentation, die den Voraussetzungen des § 630f BGB nicht entspricht, hat von vornherein keinen Beweiswert. Stellen Sie deshalb technisch sicher, dass sämtliche Eintragungen einschließlich Inskriptionsdaten stets erhalten bleiben.
2. OLG Dresden, Urteil vom 29. Juni 2021, Az. 4 U 1388/20
Die Patienteneinwilligung setzt ein beweisbares Gespräch über die schicksalhaften Risiken einer Maßnahme voraus. Eine entsprechende Dokumentation ist deshalb Standard. Im Streitfall kann es hilfreich sein, auch eine ständige Aufklärungsübung nachzuweisen. Bei dem unter Multipler Sklerose leidenden Patienten war eine Immunadsorption durchgeführt worden. Nach dem erfolglosen Versuch, einen zentralen Venenkatheter am Hals zu legen, wurde an der Leiste katheterisiert. Beim Entfernen des Katheters kam es zu einer pulsierenden Spritzblutung mit massivem Hämatom und weiteren Folgen (Aneurysma, Sensibilitätsstörungen). Der Patient behauptet, dass eine Aufklärung nicht erfolgt sei und er den Aufklärungsbogen ungelesen unterzeichnet habe. Im Prozess ging es unter anderem darum, ob sich ein Aufklärender an das konkrete Gespräch erinnern muss. Das Gericht hält dies nicht für notwendig und führt aus: „Der Aufklärungsbogen ist ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs. Ist einiger Beweis für ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch erbracht, sollte dem Arzt im Zweifel geglaubt werden. Das Gericht kann seine Überzeugungsbildung auch auf die Angaben des Arztes stützen, wenn seine Darstellung in sich schlüssig ist, die entsprechende Aufklärung seiner zum fraglichen Zeitpunkt praktizierten ständigen Übung entspricht und seine Angaben durch die ärztliche Dokumentation im Wesentlichen bestätigt wird“.
Cave: Der Nachweis einer „Immer-so-Aufklärung“ kann schwierig sein, wenn plausibilisierbare Routinen fehlen. Das Thema können Sie aber schon grundsätzlich vermeiden, indem Sie den Inhalt des Aufklärungsgesprächs in einer individualisierten Dokumentation festhalten.
3. BGH, Urteil vom 18.05.2021, Az. VI ZR 401/19
Als Bandscheibenendoprothese wurde der Typ „Ca-disc-L“ implantiert, der vollständig aus Kunststoff gefertigt war und anders als die übrigen am Markt gebräuchlichen Implantate keinen äußeren Titanmantel aufwies. Teile des Kerns dieses später zurückgerufenen Prothesentyps wanderten in den Spinalkanal und machten Revisionsoperationen nötig. Ein Behandlungsfehler wurde verneint, weil das Produkt nach dem Medizinproduktegesetz zugelassen, mit einer CE-Kennzeichnung versehen und im Zeitpunkt der Operation noch nicht zurückgerufen worden war. Ein Aufklärungsfehler dagegen wurde bejaht: „Bei der Anwendung einer nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethode sind erhöhte Anforderungen an die Aufklärung zu stellen. Dem Patienten müssen nicht nur das Für und Wider dieser Methode erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht medizinischer Standard ist. Eine Neulandmethode darf nur dann angewandt werden, wenn dem Patienten unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode unbekannte Risiken birgt.“
Cave: Kosten (noch) nicht allgemein anerkannter Behandlungen werden von Krankenversicherern möglicherweise nicht erstattet. Auch dies ist mit dem Patienten zu erörtern. (BGH, Urteil vom 28. Januar 2020 – VI ZR 92/19, „VenaSeal closure System“, die Kenntnis des Schutzes einer Privatversicherung liegt aber zunächst einmal im Bereich des Patienten).
4. OLG Köln, Urteil vom 28.04.2021, Az. 5 U 151/18
Nach Beratung durch einen medizinischen Sachverständigen stellte das Gericht fest: Bei einer Arthrose des Fingergrundgelenks kann eine Arthrodese gegenüber der Implantation einer Fingergrundgelenksprothese eine echte Behandlungsalternative darstellen, über die der Patient aufzuklären ist. Im
Arzt-Patienten-Gespräch muss geklärt werden, welche mit den verschiedenen Operationsverfahren verbundenen Vor- und Nachteile für den Patienten in seiner konkreten Situation von Bedeutung sind.
Cave: Nach § 630e Abs. 1 Satz 2 BGB ist bei der Aufklärung auf Alternativen hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.
5. Haftung wegen Verstoß gegen „Obhutspflichten“
Zwei Sachverhalte, zwei Haftungsfälle. Was sie verbindet ist die fehlende Achtsamkeit im Umgang mit dem Patienten.
LG Dortmund, Urteil vom 04.03.2021, Az. 4 O 152/19
Nach der Operation eines Kniegelenks in Allgemeinnarkose stürzte der Patient im Aufwachraum aus dem Bett und schlug so mit dem Kopf auf dem Fußboden auf, dass es zu einer Spinalkanalstenose und einer Contusio spinales ab HWK3/4-HWK5 kam. Das Gericht stellte als Unfallursache die Nachwirkung der Narkose fest und ging damit von einem sogenannten voll beherrschbaren Risiko aus. Denn der Patient habe sich in einer obhutspflichtigen Situation befunden, in welcher dieser Unfall hätte vermieden werden können und müssen.
BGH, Urteil vom 14. Januar 2021, Az. III ZR 168/19
Eine besondere Sorgfaltspflicht kann sich auch bei erkennbarer Gefahr der Selbstschädigung ergeben. Ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem durch unkontrollierte Handlungen konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung bestehen, darf nicht in einem – zumal im Obergeschoss gelegenen – Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden.
6. LG Limburg vom 28.6.2021 (1 O 45/15)
Diese Entscheidung sorgte wegen der Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes von 1 Million Euro für mediale Aufmerksamkeit. Ein noch nicht zwei Jahre alter Junge wurde wegen obstruktiver Bronchitis, drohender respiratorischer Insuffizienz, Verdacht auf Bronchopneumonie sowie fieberhaftem Infekt stationär behandelt. Als die Krankenschwester zur intravenösen antibiotischen Therapie in das Krankenzimmer kam, aß das Kind gerade Äpfel und Chips. Die Krankenschwester kam dem Wunsch der Mutter, das Kind aufessen zu lassen, nicht nach und verabreichte dem Jungen ein intravenöses Antibiotikum. Das schreiende Kind verschluckte sich am Essen und lief blau an, worauf die Krankenschwester es kopfüber schüttelte. Die Maßnahmen endeten mit Reanimation und hypoxischem Hirnschaden. Die Verurteilung erfolgte, weil zum einen mit der Infusion nicht gewartet worden war und zum anderen die Notfallmaßnahmen fehlerhaft waren.
II. Vertragsärztliche Versicherungspflicht
1. Berufshaftpflichtversicherung als Rechtspflicht
Ohne Haftpflichtversicherung dürfen Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf nicht ausüben. So heißt es in § 21 der Berufsordnung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt: „Der Arzt ist verpflichtet, sich hinreichend gegen Haftpflichtansprüche im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit zu versichern. Sofern im Einzelfall Anlass besteht, hat er auf Verlangen der Ärztekammer den Versicherungsschein oder für den Nachweis einer gleichwertigen Sicherheit geeignete Unterlagen vorzulegen.“ Und § 19 Abs. 2 Ziff. 4 Landes-Kammergesetzes schreibt – mit Ausnahme anderweitiger Deckung – vor: „Die Kammerangehörigen … haben die Pflicht … eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen, während der Berufstätigkeit aufrechtzuerhalten und auf Verlangen der Kammer nachzuweisen …“.
Eine „notleidende“ Haftpflichtversicherung hat gravierende Folgen. Nach § 6 der Bundesärzteordnung kann das Ruhen der Approbation angeordnet werden, wenn der Arzt nicht ausreichend gegen berufliche Haftpflichtgefahren versichert ist, sofern kraft Landesrechts oder kraft Standesrechts eine Pflicht zur Versicherung besteht. In diesem Sinne hat das Verwaltungsgericht München (Az. M 16 K 16.398) bestätigt, dass einem Arzt wegen fehlender Berufshaftpflichtversicherung die Approbation sogar entzogen werden kann. Die Crux: Eine konsequente Kontrolle des Versicherungsschutzes ist nicht zwingend vorgeschrieben, sodass es immer wieder Fälle gibt, in denen wegen fehlender Haftpflichtversicherung Ärztinnen und Ärzte mit ihrem Privatvermögen eintreten müssen oder, wenn dieses nicht ausreicht, Patienten trotz berechtigter Ansprüche leer ausgehen.
2. Das neue GVWG
Das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) vom 11.07.2021 hat die ausreichende Berufshaftpflichtversicherung auch zu einer vertragsärztlichen Pflicht gemacht und mit der Überprüfung des Deckungsschutzes verbunden (§ 95e SGB V, §§ 18 Abs. 2 Nr. 6, 26 und 27 Ärzte-ZV). Damit ist zumindest für Vertragsärzte sichergestellt, dass der Versicherungsschutz analog zu anderen Berufsgruppen wie die der Rechtsanwälte (§ 51 BRAO) nicht nur vorgeschrieben, sondern auch gewährleistet ist.
Der Vertragsarzt ist verpflichtet, sein individuelles Haftungsrisiko mit einer Mindestversicherungssumme von drei Millionen Euro für Personen- und Sachschäden für jeden Versicherungsfall (mindestens 2fach maximiert) zu versichern. Eine bereits bestehende Versicherung kann diese Verpflichtung erfüllen. Für Berufsausübungsgemeinschaften mit angestellten Ärzten sind die Mindestversicherungssummen erhöht: Sie betragen fünf Millionen Euro für jeden Versicherungsfall und dürfen nicht weiter als auf den dreifachen Betrag der Mindestversicherungssumme begrenzt sein.
Nachzuweisen ist der ausreichende Versicherungsschutz durch eine Versicherungsbescheinigung beim Antrag auf Zulassung, auf Ermächtigung und auf Anstellungsgenehmigung sowie auf Verlangen des Zulassungsausschusses. Zudem sind dem Zulassungsausschuss Veränderungen, die den Versicherungsschutz im Verhältnis zu Dritten beeinträchtigen können, unverzüglich anzuzeigen. Erlangt der Zulassungsausschuss Kenntnis davon, dass kein oder kein ausreichender Berufshaftpflichtversicherungsschutz besteht oder dass dieser endet, fordert er den Vertragsarzt zur Vorlage einer Versicherungsbescheinigung auf. Kommt er dieser Aufforderung nicht unverzüglich nach, hat der Zulassungsausschuss das Ruhen der Zulassung zu beschließen und den Verstoß der zuständigen Kammer zu melden.
Cave: Das Berufsrecht fordert qualitativ (Funktion/Tätigkeit) und quantitativ (Versicherungssumme) eine „hinreichende“ bzw. „ausreichende“ Haftpflichtversicherung. Die Mindestversicherungssumme des § 95e SGB V von drei Millionen Euro entspricht der quantitativen Anforderung nicht. In allen Fachgebieten zeigen schwerste Fälle, dass eine Deckungssumme von fünf Millionen Euro nicht unterschritten werden sollte. Wohl auch deshalb hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass bis zum 20. Januar 2022 durch definierte Gremien (Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Bundesärztekammer, Bundeszahnärztekammer, Bundespsychotherapeutenkammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung) eine höhere Mindestversicherungssumme vereinbart werden kann.
III. Corona-Impfung
Impfungen sind wichtige Maßnahmen, um die durch Sars-CoV-2 ausgelösten COVID-19-Erkrankungen („Corona Disease 2019“) einzudämmen. Gleichwohl: Führen sie zu einem Patientenschaden, sind etwaige Ersatzansprüche nach den allgemeinen Regeln zu beurteilen:
- Im Falle eines Impfschadens kommt unabhängig von Behandlungs- oder Aufklärungsfehlern ein Aufopferungsanspruch (§§ 60, 61 IfSG) in Betracht. Voraussetzung der staatlichen Eintrittspflicht ist eine Impfkomplikation, die über eine „normale“ Impfreaktion hinausgeht.
- Bei Herstellungs-/Entwicklungs-/Informationsfehlern ist eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers möglich (Produkt-/AMG-Haftung mit Beweiserleichterung des § 84 AMG).
- Behandlungs- und Aufklärungsfehler richten sich nach den allgemeinen Vorschriften der Arzthaftung. Behandlungsfehler sind an dem zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard zu messen. Für die Patientenaufklärung gilt: Der Patient ist so zu informieren, dass er Für und Wider abwägen und selbst über die Impfung entscheiden kann („voluntas aegroti suprema lex“). Auch wenn der BGH (BGH VI ZR 48/99) eine schriftliche Impfaufklärung über seltene, schwerwiegende Risiken mit anschließender Gesprächsmöglichkeit hat ausreichen lassen, sollte der mündlichen Aufklärung der Vorrang gegeben werden.
Fand die Impfung in einem Impfzentrum statt, handelte der impfende Arzt in der Regel als Beamter im haftungsrechtlichen Sinn, so dass Ansprüche gegen die Anstellungskörperschaft zu richten sind (Art. 34 GG, § 839 BGB). Unter bestimmten Umständen kann die Anstellungskörperschaft den Impfenden in Regress nehmen. In Impfzentren tätige Ärzte sind als Beliehene bzw. Verwaltungshelfer keine Status-Beamte (BGH, NJW 1990, 2311f.). Deshalb gilt für sie die aus der Fürsorgepflicht abgeleitete Rückgriffsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit nicht (BGH III ZR 169/04). Art. 34 S. 2 GG soll auf Private keine Anwendung finden, selbst wenn sie als Amtsträger im haftungsrechtlichen Sinne hoheitlich tätig geworden sind (BVerwG v. 26.08.10 – 3 C 35/09). Verwaltungshelfer haften daher auch für leichte Fahrlässigkeit. Es wird aber immer eine Einzelfallprüfung geboten sein: Das BVerwG lehnt zwar eine unmittelbare Anwendung von Art. 34 Satz 2 GG auf Beliehene ab, hält einen Rückgriff bei nur einfacher Fahrlässigkeit aber nur dann für möglich, wenn dieser gesetzlich festgelegt wurde (BVerwG DVBl 2010, 1434, 1436).
Autor: Rechtsanwalt Patrick Weidinger
Deutsche Ärzteversicherung
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