Der Bundesgerichtshof hat im vergangenen Jahr für eine Stabilisierung des Arzthaftpflichtrechts gesorgt. Die Zukunft birgt allerdings Unsicherheiten, die sowohl das rechtliche Umfeld der Arzthaftung als auch deren strafrechtliche Folgen betreffen.
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs
Die Entscheidungen des BGH als höchstes deutsches Zivilgericht sind regelmäßig richtungsweisende Leitplanken ärztlichen Handelns. Erinnert sei an drei exponierten Entscheidungen unserer letzten Jahresrückblicke, dass nämlich
- eine elektronische Dokumentation keinen Beweiswert hat, wenn sie nicht technisch sicherstellt, dass der ursprüngliche Eintrag bei Änderungen erhalten bleibt (BGH VI ZR 84/19)
- ohne Kenntnis des Patienten von einem Behandlungsfehler die dreijährige Verjährung nicht zu laufen beginnt, weil die dokumentierte “vaginal-operative Entbindung“, „Schulterdystokie“, „Parese des Plexus brachialis“, „Claviculafraktur“ dem Patienten keine Veranlassung geben, wegen eines Fehlerverdachtes zu recherchieren (BGH VI ZR 186/17)
- ein Eingriff – hier eine Injektionsbehandlung mit 40 ml Meierin und 20 mg Triamcinolon – nur dann rechtmäßig ist, wenn dem Patienten unabhängig von einer Detailaufklärung ein grundsätzlicher Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt wurde (BGH VI ZR 27/17).
Im Jahr 2022 befasste sich der BGH vor allem mit den Parteirechten im Arzthaftungsprozess, mit dem sogenannten groben Fehler, mit der Patientenaufklärung und mit dem Schmerzensgeld.
Parteirechte im Arzthaftungsprozess
Wenn es um Kläger- und Beklagtenrechte im Prozess geht, sind regelmäßig die beteiligten Juristen, vor allem die Richter der Vorinstanzen, in der Kritik. Sie dürfen die Darlegungen von Parteien nicht ignorieren und vor allem dürfen sie sich auch nicht an die Stelle des medizinischen Sachverständigen setzen. In gleich vier Entscheidungen musste sich der BGH mit entsprechenden Juristenfehlern, welche allesamt die Klägerseite, also die Patienten betrafen, auseinandersetzen.
In einem Beschluss vom 16.08.2022 (Az. VI ZR 342/21) ging es um eine sogenannte Gehörsverletzung durch das Ignorieren eines zentralen Parteivortrages. Bei der Klägerin war durch CT und MRT ein Keilbeinflügelmeningeom festgestellt worden.
Bei der osteoplastischen Kraniotomie wurde ein Mediagefäß durchtrennt mit der Folge einer persistierenden Hemiparese. Der BGH beanstandete das vorinstanzliche Urteil, weil der Vortrag der Klägerin übergangen und nicht validiert worden war. Sie hatte gerügt, dass die Angaben im Aufklärungsformular zu Unrecht als „selten“ verharmlost seien und dass der aufklärende Arzt das konkrete Risiko heruntergespielt habe, indem er etwaige Beeinträchtigungen als reversibel darstellte.
Ganz ähnlich entschied der BGH in einem weiteren Fall (BGH, Beschluss vom 16.08.2022, Az. VI ZR 1151/20). Das Grundgesetz verpflichte in Art. 103 Abs. 1 GG alle Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten in Erwägung zu ziehen. Deshalb hätte das unterinstanzliche Gericht den nachbehandelnden Arzt als Zeugen vernehmen und sich nicht ausschließlich auf dessen Dokumentation berufen dürfen. Die Klägerin hatte nämlich ihre Behauptung eines Behandlungsfehlers darauf gestützt, dass der nachbehandelnde Arzt zwar dokumentiert habe, „ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich“, dass dieser aber im Gespräch und in einem Arztbrief Behandlungsfehler stützende Umstände angesprochen habe. Dies einfach zu übergehen, stellt eine unzulässige gerichtliche Beweisantizipation dar.
Analog auch ein weiterer Sachverhalt (BGH, Beschluss vom 21.06.2022, Az. VI ZR 1067/20). Im Urteil heißt es: „Die Klägerin hat bereits in erster Instanz Auszüge vorgelegt, aus denen sich unter anderem ergibt, dass als ‚Pflegeintervention‘ eine ‚Schmerzerfassung mittels VAS‘ jedenfalls vorgesehen war. Dass sich das Berufungsgericht mit diesem Vortrag, nicht auseinandergesetzt hat, lässt den Schluss zu, dass es ihn bei seiner Entscheidung aus den Augen verloren hat.“
Die Kritik des BGH betraf Vorinstanzen auch hinsichtlich der Validierung der Patientenaufklärung (BGH, Beschluss vom 21.06.2022, Az. VI ZR 310/21). Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, darf der Tatrichter grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. Der Kläger führte Sehbeschwerden auf einen refraktiven Eingriff bei Kurzsichtigkeit zurück. Der Augenarzt hatte wegen Dezentrierung des Laserschnitts nach Augenkneifen die begonnene LASIK-Behandlung auf eine photoreaktive EXCIMER-Laserbehandlung umgestellt, über deren Risiken nicht aufgeklärt worden war. Um zu klären, wie sich der Patient bei einer entsprechenden Risikoaufklärung entschieden hätte, hätte der Kläger persönlich angehört werden müssen; Darlegungen seiner Anwälte reichen nicht aus, um dem Gericht einen entsprechenden Eindruck vom Patienten zu verschaffen.
Schon ein Jahr vorher hatte der BGH die Notwendigkeit der persönlichen Patientenanhörung betont: Um bei einer Neulandmethode einen Entscheidungskonflikt zu plausibilisieren, muss der Patient über den Inhalt einer ordnungsgemäßen Aufklärung informiert und dann befragt werden (BGH, Urteil vom 18.05.2021, Az. VI ZR 401/19).
Patientenaufklärung
In dem bereits erwähnten BGH-Beschluss vom 16.08.2022 (Az. VI ZR 342/21) ging es um das Thema der Patientenaufklärung. Der Beschluss zeigt, dass gut gemeinte Formulierungen in Aufklärungsformularen Risiken bergen können. Dies trifft insbesondere zu auf Formulierungen wie „Ich bin ausreichend informiert worden, habe alles verstanden und ich hatte genügend Bedenkzeit.“
Denn ein späteres Bestreiten durch Patientinnen und Patienten kann dazu führen, dass die verwendeten unbestimmten Begriffe überprüft werden. Zum Beispiel wäre die Angabe, alles verstanden zu haben, anhand des Inhaltes der ärztlichen Information und der Validierung des Patientenverständnisses zu überprüfen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 09.12.2015, Az. 5 U 184/14, OLG Köln, Urteil vom 23.01.2019, 5 U 69/16). Besonders kritisch wird es, wenn unbestimmte Begriffe den Patienten hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken in die Irre leiten. Der Bundesgerichtshof verlangt zwar keine prozentualen Risikoangaben, im konkreten Fall stellte er aber fest: „Die Klägerin hat … ausdrücklich die Passage im Aufklärungsbogen als fehlerhaft beanstandet, wonach es nur „selten“ zu schweren bleibenden Störungen kommt, obwohl in ihrem konkreten Fall der Gerichtssachverständige ausgeführt hatte, dass diese Operationen per se mit einer sehr hohen Morbidität … vergesellschaftet seien und in einer Studie 20 % der operierten Patienten schwere und 30 % der Patienten moderate neurologische Defizite zeigten. … Mit der Bewertung des Risikos schwerer bleibender Störungen als „selten“ und (aller) Komplikationsmöglichkeiten als „Ausnahme“ in dem Aufklärungsbogen … hat sich das Berufungsgericht nicht befasst“.
Ein rechtssicheres Agieren erfordert also sowohl möglichst konkrete als auch inhaltlich richtige Informationen. In der Pflicht ist hier der Aufklärende. Er kann sich nicht darauf berufen, dass ein sich verwirklicht habendes Risiko in dem verwendeten Bogen eines Fachverlages nicht erwähnt ist. Denn die Aufklärung muss gegebenenfalls über die Schilderung der in dem Vordruck befindlichen Risiken hinausgehen (LG Köln Urteil vom 25.04.2007, Az. 5 U 180/05).
Der grobe Fehler
Der sogenannte „grobe Fehler“ bezeichnet ein nicht mehr verständliches Fehlverhalten, das einem Mediziner „einfach nicht unterlaufen darf“. Der grobe Fehler – der etwas anderes ist als die grobe Fahrlässigkeit (BGH, Urteil vom 22.05.2022, Az. VI ZR 16/21) – hat für Patienten eine Beweiserleichterung zur Folge. Er braucht bei einem ärztlichen Fehler (wie dem Zurücklassen eines Bauchtuchs), der eine bestimmte Folge möglich erscheinen lässt (Eierstockkonglomerattumor), den Kausalzusammenhang nicht mehr zu beweisen. § 630h BGB formuliert das so: „Liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war.“
Genau dies wurde bei einem Geburtsschaden mit schweren bleibenden Schäden des Kindes relevant. Der BGH (Urteil vom 24.05.2022, Az. VI ZR 206/21) wertete wie die Vorinstanz einen Informationsfehler als grob. Nach den Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen sei eine Schwangere in der Situation der Mutter darüber aufzuklären, dass sie sich frühzeitig – nicht nur bei Wehen und Ziehen, sondern auch bei einem Druck nach unten – beim zuständigen Krankenhauspersonal zu melden habe, um eine Geburt des Kindes auf der Station zu vermeiden und damit dessen bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Dieser grobe Informationsfehler löse nicht nur eine Kausalität zur Asphyxie aus, sondern auch zur stattgehabten Bradykardie.
Schmerzensgeld
Bei einem wegen Nahrungsaspiration in ein Krankenhaus eingelieferten Patienten wurde ein EKG ausgewertet mit „möglicher Posteriorinfarkt“ und „Vorderwandischämie“. Nach Verlegung auf die Normalstation kam es zu einer kardialen Dekompression und zum Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand. Der Patient verstarb trotz anschließender Intervention. Seitens des Sachverständigen wurde ein unangemessenes Reagieren auf das EKG und seitens des Gerichts ein grober Fehler festgestellt. Hinsichtlich des Schmerzensgeldes stellte der BGH fest: „Es kann keine Rede davon sein, dass der Tod … derart im Vordergrund steht, dass eine immaterielle Beeinträchtigung durch die gesundheitliche Befindlichkeit nicht fassbar wäre. … Das Schmerzensgeld … soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion)“ und „es soll dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion)“. Die Genugtuungsfunktion falle im Arzt-Patientenverhältnis nicht deshalb weg, weil das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen.
Weitere Entscheidungen
Schließlich hatte sich der BGH im Jahr 2022 auch mit der Herausgabe von Patientenunterlagen und mit einer fehlerhaften Klageschrift zu befassen. Die Frage, ob Patienten nach EU-Recht einen Anspruch auf kostenfreie Zurverfügungstellung ihrer Patientenunterlagen haben, legte der BGH zur Klärung dem Gerichtshof der Europäischen Union vor (BGH, Beschluss vom 29.03.2022, Az. VI ZR 1352/20). Und in einem weiteren Verfahren (BGH, Beschluss vom 15.03.2022, Az. VI ZB 20/20) rügte er einen Anwaltsfehler, weil in der Berufungsschrift als Partei nur der beklagte Klinikträger genannt und der ebenfalls beklagte behandelnde Arzt vergessen worden war.
Neuer strafrechtlicher Aspekt
Das Oberlandesgericht Karlsruhe könnte unter dem 16.03.2022 (Az. 1 Ws 47/22) für eine Verschärfung des Arztstrafrechts gesorgt haben, indem es ein medizinisches Instrument unter den Begriff einer gefährlichen Waffe subsumiert und so vom einfachen Körperverletzungsdelikt zur höher bestraften gefährlichen Körperverletzung gelangt. Die Begründung, weshalb ein zahnärztliches Extraktionsinstrument als gefährliche Waffe angesehen wurde, lässt sich auf Skalpelle und andere Hilfsmittel ausdehnen: Die Einordnung eines gefährlichen Werkzeugs als Mittel der Tatbegehung ergibt sich aus § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB, nach dem eine Waffe als Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs zu verstehen ist (und nicht umgekehrt). Es kommt also nicht auf Angriffs- oder Verteidigungszwecke an.
Politische Planung im Koalitionsvertragi
Im Koalitionsvertrag der regierenden Parteien aus 11/2021 heißt es: „Bei Behandlungsfehlern stärken wir die Stellung von Patientinnen und Patienten im bestehenden Haftungssystem. Ein Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen wird eingeführt“.
Stärkung der Patientinnen und Patienten im Haftungssystem
Seit Jahrzehnten wird immer wieder eine Verschärfung der ärztlichen Haftung diskutiert, obwohl doch die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs höchst qualifiziert und ausgewogen ist. Seit dem Deutschen Juristentag 1978 gab es über 20 Initiativen und Arbeitsgruppen von der AG Patientenrechte bis zu Diskussionen auf EU-Ebene. Selbst das Patientenrechtegesetz von 2013 wurde schon nach zwei Jahren mit der verräterischen Begründung, die Zahl der Gerichtsverfahren wegen Behandlungsfehlern habe trotz Patientenrechtegesetz nicht zugenommenii, in Frage gestellt, was auch im Hinblick auf die Spätschadenthematik der Arzthaftung eine absurde Argumentation ist.
Die aktuellen Überlegungen zur Haftungsverschärfung erscheinen wenig durchdachtiii. So wäre eine Änderung des § 630h Abs. 6 BGB mit Einführung einer Haftung bei „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ der Kausalität zwischen ärztlichem Fehler und Patientenschaden nicht vereinbar mit § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO und zudem im Hinblick auf eine dann notwendige mathematischen Wahrscheinlichkeitsberechnung kaum umsetzbar.
Härtefallfonds
Auch Überlegungen zu einem Härtefallfonds gibt es schon seit Jahren, weil das rechtliche Alles-Oder-Nichts-Prinzip (der Patient hat Schadenersatzansprüche oder eben nicht) in bestimmten Konstellationen als ungerecht gesehen wird. Beispiel: Es liegt ein ärztlicher Fehler vor, dessen Kausalität für eine Gesundheitsverschlechterung des Patienten nicht nachweisbar ist. Als Muster dient verschiedentlich das österreichische System für Spitalpatienten iv. Die spannende Frage, wer einen Fonds, bei dem es nicht um Haftpflichtansprüche geht, finanzieren soll, ist derzeit noch offen. In 2017 hatte die 88. Justizministerkonferenz noch ausdrücklich vom Vorschlag eines Härtefallfonds abgesehen.
Autor:
Rechtsanwalt Patrick Weidinger
Deutsche Ärzteversicherung
Literatur
i Vom Autor diskutiert in Fortbildungsvorträgen für die Rechtsanwaltskammer München am 26.04.2022 und für den Kölner Anwaltverein am 02.06.2022
ii https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/behandlungsfehler-gruene-fordern-mehr-patientenrechte-a-1023731.html
(Internet-Aufruf am 03.01.2022)
iii Zur Diskussion siehe: https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Aerztliche-Behandlungsfehler-Wer-soll-waswie-beweisen-434875.html
iv Zu den Grundlagen siehe: https://www.bundestag.de/resource/blob/568208/5711f5ff63dbd090f67b33b32c7dc585/WD-9-047-18-pddata.pdf
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