Logo der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen ÄrztekammernAus der Fallsammlung der Norddeutschen Schlichtungsstelle

Kasuistik

Der 79-jährige Patient, bei dem ein dementielles Syndrom vorlag, wurde am Abend des 6. April 2009 mit Verdacht auf das Vorliegen transitorisch-ischämischer Attacken (TIA) mittels Rettungswagen aus seiner Pflegeeinrichtung in ein Krankenhaus gebracht und dort in der Abteilung für Innere Medizin / Gastroenterologie aufgenommen. Vorausgegangen war am Nachmittag eine kurzzeitige (zwei bis drei Minuten) Nichtansprechbarkeit und das Auftreten einer verwaschenen Sprache.

Nachdem sich nach Durchführung diverser Untersuchungen kein Hinweis auf einen frisch abgelaufenen Insult ergeben hatte, erschien eine kardiale Dekompensation als zentraler Behandlungsanlass. Es wurde eine Herzinsuffizienz mit mittelgradig eingeschränkter linksventrikulärer Funktionsstörung bei hochgradigem Aortenklappenvitium mit führender Stenose und Mitralinsuffizienz sowie eine Hypokaliämie, Hypochrome Anämie und eine Demenz diagnostiziert. Zu den therapeutischen Maßnahmen gehörte unter anderem eine entlastende und diagnostische Pleurapunktion links (1.350 Milliliter). Bei Aufnahme wurde als auffällig dokumentiert: „Multiple Hämatome am Oberkörper, die auf zurückliegende, rezidivierende Stürze bereits in der Pflegeeinrichtung schließen lassen.“
In den folgenden Tagen kam es vor, dass der Patient wiederholt die Tabletten (Seroquel und Tavor) seines Bettnachbarn einnahm. Am 13. April 2009 stürzte der Patient und zog sich eine dislozierte subtrochantäre Femurfraktur zu, die am selben Tag offen reponiert und durch Implantation einer IHMS-Cerclage versorgt wurde.

Unter den Zeichen einer plötzlichen kardiopulmonalen Dekompensation mit Kammerflimmern verstarb der Patient am Morgen des 14. April 2009 um 8.45 Uhr. Als unmittelbare Todesursache wurde Kammerflimmern bei Rechtsherzversagen als Folge einer Lungenarterienembolie mit Zustand nach operativer Versorgung bei subtrochantärer Femurfraktur vermerkt.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Der Sohn des Patienten bemängelt die Behandlung seines Vaters und ist der Ansicht, dass einem erkennbar erhöhten Sturzrisiko nicht durch regelmäßige Aufsicht und Überwachung durch das Pflegepersonal Rechnung getragen worden sei. Mit der langen Wartezeit vor der Operation und nicht ausreichender Flüssigkeitszufuhr sei es zur Dehydrierung gekommen, die in Verbindung mit der erzwungenen, lang anhaltenden Bewegungslosigkeit am Operationstag eine vermeidbare Embolie zur Folge gehabt hätte, zumindest mitursächlich für das Versterben des Patienten wäre.

Die Klinik argumentiert, dass sich die Pflege intensiv um die Begleitung des Patienten zur Toilette und zurück bemüht habe. Es sei ein flexibler Umgang mit Bettgittern gepflegt worden. Sie seien eingesetzt worden, um ein unbeaufsichtigtes Aufstehen zu vermeiden. Soweit der Patient durch wirksame Analgesie ruhiger erschien, sei hierauf verzichtet worden. Prä- und perioperativ sei eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr beachtet worden. Zudem sei eine Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin erfolgt. Die Todesursache sei nicht bewiesen.

Gutachten

Es habe aus medizinischer Sicht eine erkennbare Sturzgefährdung vorgelegen. Der erhöhten Sturzgefährdung wäre durch angemessene Schutzmaßnahmen nicht ausreichend Rechnung getragen worden. Angesichts der individuellen Risikokonstellation hätten Hüftprotektoren, rutschfeste Socken und eine häufige Überwachung erfolgen müssen. Derartige Maßnahmen seien nicht ergriffen worden. Auch sei nicht verhindert worden, dass der Patient zum wiederholten Male die Medikamente des Bettnachbarn einnahm, die beide geeignet seien, eine gesteigerte Sturzgefährdung herbeizuführen. Dies hätte vermieden werden können, indem der Bettnachbar entweder aus dem Zimmer entfernt oder die Medikamente unter Aufsicht eingenommen worden wären. In der Nacht vom 12. April zum 13. April 2009 habe von daher erkennbar eine besondere Gefahrensituation vorgelegen, die eine besondere Obhut und Unterstützung erfordert hätte, der nicht durch entsprechende Schutzmaßnahmen nachgekommen worden sei. Nach Ansicht des Gutachters hätten eventuell der Sturz, die Fraktur, die nachfolgende Operation und auch der Tod des Patienten vermieden werden können.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die kardiale und cerebrale Morbidität des Patienten spiegelte sich auch in einer durch Stürze und Synkopen gekennzeichneten Krankheitsvorgeschichte wider. Der erkennbar erhöhten Sturzgefährdung hätte zur Vermeidung des traumatischen Sturzes durch weitergehende Schutzmaßnahmen begegnet werden müssen, gegebenenfalls hätten freiheitseinschränkende Maßnahmen im Sinne einer Fixierung ergriffen werden müssen.

Gesundheitsschaden

Bei fachgerechtem Vorgehen wäre es nicht zu dem Sturzgeschehen gekommen. Fehlerbedingt ist es zu dem Sturz, der pertrochantären Femurfraktur, der erforderlichen operativen Versorgung nebst damit einhergehenden vermehrten Beschwerden gekommen. Weitere fehlerbedingte Schäden waren nicht beweisbar. Ein Kammerflimmern ist in deutlich zeitlichem Abstand zur Narkose und Operation vermerkt. Nach Lage der Akten wäre angesichts der kardiogenen Vorerkrankungen, des aktuellen Gesundheitszustandes und des fortgeschrittenen Alters jederzeit mit einem Herzversagen bei dem Patienten zu rechnen gewesen.

Fazit:

Aus dem bloßen Umstand, dass ein Sturz im Krankenhaus geschieht, kann nicht gefolgert werden, dass eine Verletzung der Obhutspflichten vorliegt. Wenn Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, der Patient sei einem besonderen Sturzrisiko ausgesetzt, muss – aus der Dokumentation erkennbar – hierauf angemessen durch prophylaktische Maßnahmen reagiert werden. Ist dies nicht der Fall, wird der Sturz zum Haftungsrisiko des Krankenhauses.

Autor: Rechtsanwalt Johann Neu, Geschäftsführer
Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3; 30173 Hannover