Deutsche Verlagsanstalt München 2013, ISBN 978-3-421-04544-7,
gebunden im Kleinoktav mit Schutzumschlag, 350 Seiten, € 22,99
Sie sind mit geschätzten 12 Millionen die größte Minderheit in Europa, die Sintes, Romas, Manouches, Gitanos, Tsigani, Kalé, Gipsies etc. Der Autor nennt sie im Titel etwas provokant einfach Zigeuner. Ihre Wurzeln liegen im fernen Osten, in Indiens Punjab wahrscheinlich. Sie lieben die Legenden und leben den Aberglauben, bauen ihre Häuser nicht fertig, um dem Kaiser kein Zins resp. dem Staat keine Steuern zahlen zu müssen. Ihr Leben ist alles andere als lustig.
Ralf Bauerdick ist viele Male zu ihnen gefahren, vorwiegend in den Osten Europas. Er hat bei ihnen gelebt, mit ihnen gesprochen als Gast, nicht als Ethnologe. Er hat sie an den Orten ihrer elenden Existenz aufgesucht, nicht ihre geförderten Vertreter auf Kongressen oder in wissenschaftlichen Foren. Er, der Gadsche (Nichtzigeuner), legt hier packende Erlebnisberichte vor, anhand deren er den Problemen dieser aus der Zeit gefallenen Menschen auf den Grund zu kommen hofft. Er tut das in 14 Kapiteln mit Überschriften von Der Preis der Freiheit bis Das verlorene Paradies.
Darf man überhaupt noch Zigeuner sagen? Zu den schon lange in Deutschland lebenden Sinti und Roma besser nicht, will man als political correct gelten. In anderen Ländern kann das wieder ganz umgekehrt sein. Der Streit darüber, in dem u. a. die Zigeunersoße hochkocht, lebt von Elementen sprachlicher und antirassistischer Beharrlichkeit. Die Betroffenen wehren sich hier gegen die eine Benennung, die sie anderenorts fordern. Dass unter dem Überbegriff Zigeuner die nationalsozialistische Vernichtung, der Porajmos (das Verschlingen) wütete, ändert nichts daran. Sie galten als schwarze Pest und sollten wie Mäuse, Ratten, Krähen, Vagabunden und Juden ausgerottet werden. Eine halbe Million wurde liquidiert. Das berechtigt jedoch nach Ansicht des Autors heute nicht dazu, ihnen ihre selbstbestimmte Namenswahl aus pseudoväterlicher Umsicht streitig zu machen. Der Verfasser geht da ganz auf Distanz zu den „Berufszigeunern“, d.h. Standesfunktionären und Ethno-Forschern, die den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hätten. Er empfiehlt ihnen, die Müllgebirge in einigen Städten des Balkans aufzusuchen, wo die Verelendung dieses Volkes wie nirgends sonst offensichtlich wird, wo der Kampf um Aasfleisch als Nahrung stattfindet, wo alle gängigen Definitionen von Armut korrigiert werden müssen, in solch lebenslänglichen Höllen.
Die wahren Verlierer der politischen Wende sind die Zigeuner. Sie fielen als erste und fast alle aus den sozialen Systemen, aus der Armut ins Elend. Nicht alle natürlich. Es gibt die Neureichen mit dem Maybach oder den Mercedes und Porsche im Hof, bezahlt mit den Bettelmünzen ihrer Sklavenheere von den Trottoiren unserer Breiten, wo sie mit gekonnter Mine das Mitleid zum Gelderwerb einsetzen, an der langen oder kurzen Leine von Mafiabossen. Das sind ebenfalls Zigeuner, die diese Bettelfalle rücksichtslos pflegen mit Zinswucher, Sippenhaft und Prostitution. Letztere ist das einzig einbringliche Gewerbe der ehemals geschickten Handwerker, Musiker und Darsteller geblieben. In Deutschland sind die Straßenprostitution und der Drogenhandel zu großen Teilen in ziganen Händen. Zuhälter sind die eigenen Verwandten und Freunde der zumeist analphabetischen jungen Frauen. Bauerdick räumt vor allem auf mit dem Klischee, dass die Zigeuner allein die Opfer seien und die Dominanzgesellschaften nur die Täter stellten. Die ansteigende Kriminalität unter den Roma ist nicht zu ignorieren. Sie macht das gemischte Zusammenwohnen in Kommunen Südosteuropas unmöglich. Lynchjustiz, Pogrome und Polizeigewalt sind die Folgen bis zum Mord auf Gegenseitigkeit. Das wird nicht gern öffentlich gemacht, da es bezeichnend für den Zustand eines Staates wäre. Der Rechtsruck in Ungarn ist nicht nur Ursache sondern auch Reaktion auf diese Zustände, von Nationalisten gern ausgenutzt und angeheizt.
Das Buch über diese ältesten und vielleicht auch letzten europäischen Nonkonformisten, diese „Rotationseuropäer“, lebt vom Leben in Schicksalsergebenheit, von einer ausdruckstarken Sprache und seiner menschlichen Herzlichkeit, eine empfehlenswerte Lektüre! Man liest es Seite für Seite mit beklemmender Spannung und kann gar nicht glauben, dass sie, nach Nikolaus Lenau, auch mal zu dritt an einer Weide in der sandigen Heide gelegen haben sollen. Wo mögen sie geblieben sein, sie und der Zigeunerjunge aus dem kitschig- romantischen Lied der 50er Jahre? In diesen Reportagen des Rolf Bauerdick sind sie zu finden, bis zur Unkenntlichkeit heruntergekommen und verelendet.
F.T.A. Erle, Magdeburg