Verkleinerter, auszugsweiser Reprint der Prachtausgabe v. 1904. Hrsg. v. Joachim Heinzle, illustr. v. Joseph Sattler, reprint Verlag Leipzig 2013, ISBN 978-3-8262-3036-3,
geb. im Großoktav-Format, 176 S., zahlr. Abb., € 49,90
Die Märchen aus uralten Zeiten gehen nicht aus dem Sinn, schon gar nicht aus dem der Buchgewerbe. Der auf Wiedergabe alter Werke spezialisierte reprint Verlag Leipzig legte 2012 das Nibelungenlied in einem Gewand vor, das der Prachtausgabe von 1904 nahe kommt. Letztere war als Beleg der Leistungsfähigkeit der deutschen Buchkunst ein Exponat auf der Weltausstellung in St. Louis im Auftrag der Reichsdruckerei. Die graphische Ausstattung durch den renommierten Künstler des Jugendstils Kaspar Joseph Sattler hatte Jahre in Anspruch genommen. Dieser Reprint gibt mit seinem handlichen Format (29x22 cm) nicht die Urform des Prachtexemplars von 1904 wieder (54x38 cm). Es vermittelt jedoch in Textauswahl, Gestaltung und Materialbeschaffenheit den Eindruck seines repräsentativen Vorbildes.
Auf griffigem, pergamentfarbenem Papier sind links die mittelhochdeutschen (mhd.), geschmückten Strophen und auf der rechten Gegenseite deren moderne Übersetzung (J. Heinzle) aufzuschlagen. Dabei handelt es sich jeweils um den Anfang der insgesamt 39 Aventüren. Der Text ist für den mhd. Teil in einem vom Illustrator eigens kreierten, dem Jugendstil verpflichteten Schrifttyp geschrieben. Er ist mit vielen Schmuckelementen und bildreichen Initialen verziert. Auf den nachfolgenden, lichtblau gehaltenen Seiten wird in schlichter Prosa der Inhalt der Handlung zusammengefasst. Die beeindruckenden 14 Vollbilder befinden sich ebenfalls dort an passender Stelle. Ihre Farbgebung ist größtenteils düster, ihr Eindruck flächig.
Den Inhalt des Liedes darf man (noch) als bekannt voraussetzen. Er verblüfft aber auch den späten Wiederleser durch seine Härten und Grausamkeiten. Bildlich 1:1 umgesetzt würde er die Filmselbstkon-trolle nicht schadlos passieren. Mit der in Stücke gehauenen Kriemhild endet das Drama, nachdem ihr der Todfeind Hagen den abgeschlagenen Kopf ihres Kindes in den Schoß geworfen hatte nach einer beispiellosen Abfolge von Geschlachte und Heldentod auf Etzels Burg im Ungarland und anderenorts.Nichtsdestotrotz bietet die Lektüre des sehr alten Stoffes so manche Identifizierung zeitlosen gesellschaftlichen Verhaltens. Die Macht des Goldes wird unverhohlen bekannt, der Nibelungenschatz spielt dabei seine unheilvolle Rolle. Dem Reichtum an Kleidung, Schmuck und Waffen wird große Anerkennung gezollt. Auch eine handfeste Vergewaltigung zweier Könige an einer ranggleichen Frau als Maßnahme der Machtpolitik mit anschließender Vertuschung kommt vor. Ansonsten spielt Erotik in den Texten eher eine untergeordnete Rolle. Sie wird ersetzt durch Kampflust, Eifersucht, Neid, Intrigen, Lügen, Rache, Meineid, Misstrauen und gewaltsamen Tod. Selten wird es lyrisch. Gelage, Empfänge, Turniere und Festreden sind die Höhepunkte der fürstlichen Zusammenkünfte. Stärke und Ehre sind höchste Tugenden. Der Raub ist gesellschaftsfähig. Unbemittelte haben auf dieser Bühne keine Bedeutung. Die Illustrationen Sattlers unterstreichen das.
Die Nibelungen, niedergeschrieben im hohen Mittelalter, wurden erst im frühen 19. Jahrhundert von den Deutschen wiederentdeckt, avancierten dann aber zu ihrem Nationalepos. Hagens Meuchelmord an Siegfried findet man nach dem 1. Weltkrieg in der Dolchstoßlegende wieder. Insbesondere die Treue war es, die sprichwörtlich als Nibelungentreue zur soldatischen Tugend und fixen Idee mit der bekannten fatalen Wirkung um den Endsieg wurde. Die heutige Generation Ü70 hat in großer Zahl die Heldennamen abbekommen, die Siegfried, Volker, Giselher, Günther, Sigurd, Rüdiger, Dietrich, Gernot, Brunhilde, Sieglinde, Ute etc.. Nur der hunnische Blödelin hat sich nicht durchgesetzt. Der Wagnersche Kult in Bayreuth blühte nach einer Schwächelphase im Rahmen der nationalen Selbstfindung und schließlich im Nationalsozialismus zu religiöser Dimension auf.
Es war Zeit, diese alte Dichtung in angemessener Form der nüchternen Perspektive unserer Tage anzubieten. Das Buch fällt durch seine dezent gediegene Gestalt auf. Der Herausgeber Joachim Heinzle schließt es mit einem kenntnisreichen Aufsatz zu Inhalt und Form dieses Heldengedichts ab. Es wird zu Recht sowohl im Buch- als auch im Kunsthandel zu einem moderaten Preis angeboten. Dem Bibliophilen mag es Freude bereiten und im Kanon des gebildeten Bücherschranks eine Lücke schließen. Man sollte es sich schenken lassen!
F.T.A. Erle, Magdeburg