Unterwegs auf einem neuen Kontinent
Carl Hanser Verlag München 2013, ISBN 978-3-446-24404-7,
geb. m. Schutzumschl. im Oktavformat, 333 S., € 21,90
Die Grenze – eines der wenigen Wörter unverhofft slawischen Ursprungs, das in der deutschen Sprache souverän seinen Platz behauptet, den Rain und die Mark alt aussehen lässt!
Karl Schlögel ist ein erfahrener Grenzgänger. Die Grenzen, die geografischen und die systemischen gleichermaßen, besser noch ihr Wandel bzw. ihre Überwinder, sind sein Thema in dem vorliegenden Sammelband von Reden, Beiträgen oder Vorlesungen des letzten anderthalb Jahrzehnts.
Nach einschlägigem Studium, bemerkenswerterweise als Süddeutscher u. a. auch in Moskau und Leningrad, reiste er als Journalist reichlich über die eurasische Landmasse. Um dann als Kenner des weiten Ostens einen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte ab 1990 in Konstanz und von 1994 bis 2013 an der Viadrina in Frankfurt am Grenzfluss Oder stehen zu haben.
Sein Thema ist der europäische Osten in seiner lebendigen Vielgestaltigkeit, seine Arbeitsmethode die Erfassung der Kriechströme des gesellschaftlichen Wandels in Bahnhöfen, an Flugplänen, Grenzstationen und anderen Indikatoren der neuen Völkerwanderung. Besonders aber haben es ihm die mobilen Märkte angetan, die Polen-, Russen- und schwarzen Märkte. Er erkennt in ihnen die Überlebensstrategien der angeblich so apathischen und passiven Osteuropäer, eine Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes in der neuen Erfahrung einer grenzenlosen Welt, mit dem Schock des Konsumismus und des unerbittlichen Wettbewerbs. Die Westeuropäer erweisen sich dagegen als weitgehend krisen-unerfahren und höchst lernbedürftig. Die Krise sei die Stunde der Wahrheit, so Schlögel. Kurzer Prozess und heroische Gesten führten zu nichts. Das Durchwursteln, das er als molekulären Vorgang der Veränderung charakterisiert, als Ausdruck des schleichenden Wandels, sei die erfolgreiche Praxis der Leute aus dem europäischen Osten. Die ameisenfleißigen Reisehändler hätten die Mauer bereits vor deren Fall unterwandert und die Stunde des Basars in Mitteleuropa eingeläutet. Nach dem Mauerfall wurden dann Endstationen an den ehemals starren Grenzen wieder zu den Zentren, die sie einmal gewesen waren. Alte Kulturzusammenhänge wurden revitalisiert. Dazu trugen u. a. auch die Billigfluglinien bei, deren Destinationen man nun ganz neuartige Wanderungsbewegungen und Ziele entnehmen konnte. Berlin wurde zur Doppelstadt mit Eingeborenen und Zugewanderten, wieder einmal. Aus der geschlossenen Frontstadt wurde ein offener urbaner Raum, aus Warschauer und Moskauer Sicht jedoch immer noch eine Art Kurort. Europa bekam einen neuen Impuls. Die vielbesungene Europamüdigkeit gab es nur noch im alten Diskurs, der sich besonders auf der Ebene von Talkshows seine Bühne suchte. Der Typus des „Ehemaligen“, den Zäsuren, Brüche und Epochenenden überrollt hatten, hat eine ganz neue Ausprägung erlangt. Er verfügt über Kenntnisse, die den Nachfolgenden nicht offen liegen, Privilegien der eigenen Art.
Die relativ lange Beobachtungsspanne und die Art der Texte zu unterschiedlichen, nicht unbedingt systematisch geordneten Themen, lassen den Zusammenhang des Buchinhaltes etwas lose erscheinen. Der Autor äußert sich dahingehend:
„Mein Bezugspunkt ist nicht der Finanzcrash von 2008, sondern 1989 oder genauer: die zwanzig Jahre zwischen der Abwicklung Ost und der Abwicklung West. Die Auflösung des alten Zustandes begann 1989 im Osten und hat jetzt auch den Westen erreicht. Es gibt „den“ Osten und „den“ Westen nicht mehr. Eine Verschiebung der Kräfte und Koordinaten hat stattgefunden und ist noch immer nicht abgeschlossen. Innerhalb dieser weltgeschichtlichen Transformation, innerhalb dieser Turbulenzen hat sich Europa gut geschlagen. Europa hat den Übergang am Ende des alten Zustandes in den neuen im Großen und Ganzen mit Anstand bewältigt... Viele haben daran einen Anteil: die Brüsseler Verwaltungen und die Spediteure, die Brückenbauer und die Erasmus-Studenten, die Firmengründer und die Arbeitsmigranten, die „polnische Putzfrau“ und das Wissenschaftskolleg zu Berlin, die Fußball-EM und der Städtetourismus, EasyJet und das Schengen-Abkommen, die EU-Subventionen und die rumänische Altenpflegerin. Dieses neue, in den letzten zwei Jahrzehnten gewachsene Geflecht und Netzwerk aus Menschenströmen, Ideen und Gütern ist stark, viel stärker als alle Absichtserklärungen und Proklamationen“. Das Buch ist in die vier Kapitel EUROPE NOW, STIMMÜBUNGEN IN D, RUSSISCHER RAUM und NEUE NARRATIVE FÜR EUROPA strukturiert. Darunter findet man Überschriften wie: Einen Karlspreis für Eurolines, oder: Um das Deutschlandlied, oder: Auf verlorenem Posten? Russlandfreunde und Russlandversteher, oder zur Vertreibung: Topographie des Verlusts, oder: Kreisau/Kryzowa.
Dem Geschichtsinteressierten emp-fiehlt der Autor „...die Illusion fallen zu lassen, wir seien Herrn des Verfahrens und könnten gleichsam über Geschichte wie über Versuchsanordnungen verfügen“. Auch für Historiker habe es Folgen, wenn sie nicht mehr vom Ende einer linearen Geschichte auf die Vergangenheit zurück- oder herab-blicken können. Sie lernten, etwas vorsichtiger und demütiger vom Privileg des Mehrwissens, das den Nachgeborenen ohne eigenes Verdienst zugefallen sei, Gebrauch zu machen und sie gewönnen eine Vorstellung von den Risiken, die eine heillose und offene Gegenwart für die jeweils Lebenden bereithalte.
Das leuchtet ein, auch wenn es etwas anspruchsvoll formuliert ist, wie das ganze Buch den wachen und politisch interessierten Leser fordert.
F.T.A. Erle, Magdeburg