Erkundungen einer urbanen Sozialfigur

Verlag: Hamburger Edition.  ISBN 978-3-86854-276-9,
Broschüre im Kleinoktavformat, 270 S., € 22,-

"Das Geld liegt auf der Straße!" Nur selten mag es die bare Münze sein, die den Anlass für diese platte Behauptung bildet. Man muss es wohl schon eher aus seiner gebundenen Form, hier dem Getränkegebinde, befreien, das Pfand einlösen.

Sebastian J. Moser legt in diesem Buch die engagierte Niederschrift der Ergebnisse seiner soziologischen Feldforschung vor, die ihre Substanz aus einer Dissertation von 2013 an der Universität Freiburg schöpft. Der Stoff ist von allgemeinem und aktuellem Interesse. Schließlich erfolgt der Erwerb der häufigsten und beliebtesten Getränke nur in  den pfandbehafteten Getränkeflaschen oder -dosen, eben den Getränkegebinden. Deren Rückgabe mag in den Abläufen eines geordneten Haushalts kein ernst zu nehmendes Problem darstellen. Im öffentlichen Raum sieht das aber ganz anders aus. Da wird das leere Behältnis zur Last.
Es landet bestenfalls in Abfallbehältern oder daneben oder wird achtlos weggeworfen. Es sind die scheinbar kleinen Einzelbeträge des Pfandes, die die Schwelle zum Liegenlassen niedrig halten. Das ruft dann den Personenkreis der sog. Pfandsammler auf den Plan, der aus solchem verbreiteten Verhalten für sich Wert schöpft. Nur einen geringen Anteil unter ihnen machen die existentiell bedrohten Obdachlosen bzw. Stadtstreicher aus, an Habitus und Pflegezustand relativ leicht erkennbar.

Wesentlich häufiger sind es nach Moser die sehr viel unauffälligeren sonstigen Sammler, die sich planmäßig und systematisch auf die Suche nach Pfandgebinden an erfolgversprechenden „Stellen“ begeben, an Haltestellen im öffentlichen Nahverkehr, vor Diskos und Fußballstadien, an touristischen Sammelpunkten etc. Man erkennt sie erst sicher an ihrem suchenden Blick, im Augenblick des Zufassens, an der typischen Handbewegung des Flaschenkippens zu deren vollständiger Entleerung oder an den gefüllten Sammeltaschen. Sie bilden jedoch bei Weitem keine homogene Gruppe. Sie weisen nur gemeinsam auf eine Verschlechterung im sozialen Status von immer mehr Menschen unserer Gesellschaft hin. Es handelt sich um Mitglieder unserer Gesellschaft, die das Pfandsammeln zur Strategie gegen ihre Lebens-krisen gemacht haben. Sie sammeln für den bescheidenen ökonomischen Zugewinn für ihre ansonsten leidlich abgesicherte Existenz, etwa für den kleinen Luxus einer Kinokarte oder einer Bratwurst. Zudem strukturieren sie auf diese Art der regelmäßigen und selbstbestimmten Arbeit ihren Tag bzw. die Freizeit. Weiterhin wird, und das scheint ein wesentlicher Antrieb zu sein, die Einsamkeit bekämpft, unter der sie leiden. Man kommt unter Leute, muss auf sie reagieren, sucht das Gewühl der Besucher von Fußgängerzonen, Bahnhöfen, Konzerthallen, Schulen, Orten, an denen Passanten ihre Pfandgebinde entsorgen. Man muss ja nicht miteinander reden, auch nicht mit Mitbewerbern. Eine aggressive Konkurrenz mit Letzteren besteht nicht. Man trifft sich wortlos aneinander vorbei, geht sich aus dem Wege.
Pfandsammler sind keine Müllsammler. Ihr Prestige ist aber trotz ehrenwerter Beschäftigung nicht hoch. Sie werden pauschal zu den Verrichtern von „Drecksarbeit“ gerechnet. Sie sam-meln, lagern zwischen und geben ihren Sammelgut dort ab, wo ihnen das gesetzlich erzeugte Pfandgeld ausgezahlt werden muss entspr. Pfandgesetz von 2006. An den Abgabestellen sind sie durchaus nicht gern gesehen. Lebensmittelmärkte ab 200 m² Verkaufsfläche müssen die Sammlungen der entsprechend gekennzeichneten Gefäße gegen Zahlung zurück nehmen. Dass sie an den Automaten für Mitwartende und für das Personal zum Ärgernis werden können, versteht sich. Dabei sind sie bis zu 10 km pro Sammeltour an den „Stellen“ bzw. Abfallbehältern entlang gelaufen und kommen bei günstigen Voraussetzungen und entsprechendem Fleiß auf lediglich etwa 100 bis 150 Euro im Monat.  Fußballweltmeisterschaften sind die Highlights im Geschäft. Positive Nebeneffekte sind aus Sicht der Polizei die Beseitigung von möglichen Wurfgeschossen aus dem Umfeld von Großveranstaltungen und für Betreiber das Freihalten von Parkhäusern von abgestellten Flaschen. Es wird ihnen so das Gefühl eines helfenden und sinnvollen Tuns für die Gesellschaft vermittelt. Überhaupt sollte nicht übersehen werden, dass diese Art der Arbeit nicht nur Mittel zum Zweck (Einsammeln gegen Entgelt) ist, sondern mit ihrem Suchen-Hoffen-Finden auch Merkmale von Sport und Spiel aufweist, Kennzeichen des Selbstzwecks. Wesentlich ist auch die Funktion der Arbeit für die soziale Anerkennung und das Gefühl der individuellen Vollwertigkeit, die Möglichkeit des Scheiterns inbegriffen. Es scheint mehr zu sein, als dass Überflüssiges von Überflüssigen in die Hand genommen wird.

Die wissenschaftliche Fragestellung des Autors geht von der Hypothese aus, dass die Tätigkeit des Sammelns eine Form von Krisenlösung sei. Methodisch arbeitet er anhand von aufgenommenen Interviews mit zugänglichen Sammlern, die bis zu 2 Stunden dauern und die nach Transkription ausgewertet werden. Ausgewählte Beispiele befin-den sich im Text.
Das handliche grüne Buch hat eine Facette der modernen urbanen Gesellschaft im Blick. Es bezieht sich insbesondere auf ein differenziertes Erscheinungsbild der Armut und der damit verbundenen Einsamkeit. Es weist einen offensichtlich gründlichen, beim Lesen nicht störenden Umgang mit der Fachliteratur auf. Dass es trotzdem in einigen Passagen schwierig wird, mag der wissenschaftlichen Verpflichtung des Autors geschuldet sein. Es ist ein lesenswertes Buch für den am sozialen Miteinander Interessierten.

F.T.A. Erle, Magdeburg