Eine Würdigung des Wittenberger Arztes und Forschers zu seinem 400. Geburtstag
Konrad Victor Schneider gehört zu den medizinhistorisch wichtigsten Gelehrten der ehrwürdigen Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität, die nicht nur auf das großartige Erbe der Halleschen, sondern auch auf das ebenso bedeutende der Wittenberger Hochschule verweisen kann.
Dennoch ist der herausragende Forscher den meisten Ärzten heute kaum noch bekannt. Schon im 19. Jahrhundert schrieb Karl Friedrich Heinrich Marx (1796-1877), der erste Biograph des großen Arztes, über den hervorragenden Mediziner: „Die Schneider´sche Haut (Membrana Schneideriana, mucosa s. pituitosa narium) kennt jeder Mediciner, nicht aber den Mann und sein Werk...“. Inzwischen ist auch dieser Eigenname kaum noch als Fachbegriff zur Benennung der Nasenschleimhäute in Gebrauch, und nur wenige wissen, dass es Schneider war, der erstmalig überzeugend nachgewiesen hat, dass der Nasenschleim eine Absonderung dieser Häute und nicht etwa des Gehirns darstellt. Dies war aber, wie es die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden, eine epochale Entdeckung.
Konrad Viktor Schneider wurde am 18. September 1614 in Bitterfeld als Sohn des Amtsschössers Michael Schneider geboren, der mit der Tochter des Bürgermeisters Reuter (1554-1626) verheiratet war. Schon 1621 immatrikulierte er sich zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder an der Universität Wittenberg, wobei der Vater die Söhne dem Theologen Nicolaus Zapf (1600-1672) anvertraute.
Schneider studierte Philosophie und danach unter dem berühmten in Wittenberg lehrenden Arzt Daniel Sennert (1572-1637) Medizin, promovierte und erlangte schon mit 22 Jahren eine Professur in Jena. Dort gewann er in dem Anatomen Werner Rolfinck (1599-1673) einen väterlichen Freund, der ihn damals und auch später zu seinen Forschungen ermutigte. Rolfinck war ein früher Anhänger und eifriger Propagandist der von William Harvey (1578-1657) im Jahre 1628 veröffentlichten zutreffenden Beschreibung des großen Blutkreislaufs, wozu sich der Jenaer Anatom schon im zweiten Jahre nach Harveys Publikation öffentlich bekannte. Schneider, sein junger Freund und Schüler, wird diese Meinung geteilt haben.
In Jena freilich wurde Rolfinck insbesondere von den zum Tode Verurteilten gefürchtet, die inständig darum baten, nicht „gerolfinckt“, das hieß, nicht in der Anatomie zergliedert zu werden.
Schneider erhielt von der Jenenser Fakultät ein ausgezeichnetes Zeugnis und begab sich von dort auf eine Studienreise, die ihn zunächst über Hamburg nach Kopenhagen führte. Von dort reiste er nach Leiden, Paris und Bourges, wo er einen weiteren Doktortitel erwarb. Nach einem zusätzlichen Aufenthalt in England, kehrte er 1639 nach Wittenberg zurück, um eine Professur für Anatomie, Botanik und Pathologie zu übernehmen. Im Jahre 1646 heiratete er Anna Barbara Strauch (1627-1673), die ihm sechs Kinder gebar. Der Vater seiner Frau war der Dresdener Superintendent Aegidius Strauch (1583-1657). Dadurch verband sich Schneider mit einer der berühmtesten in Dresden und Wittenberg wirkenden Gelehrtenfamilien. Mit seinem älteren in Jena tätigen Kollegen Rolfinck blieb Schneider dennoch in Kontakt.
Schon dort hatte er vermutlich durch Werner Rolfinck von der Existenz des von Gaspare Aselli (1581-1626) und Johannes Wesling (1598-1649) in Pavia entdeckten aber noch falsch gedeuteten Lymphgefäßsystems erfahren. Schneider vermutete zutreffend, dass es sich dabei um ein „Saugadersystem“ handelt, begann es zu untersuchen und gab später an, den Ductus thoracicus schon im Jahre 1638 gesehen zu haben, wobei seine Publikation nach dem Urteil des Halleschen Botanikers und Medizinhistorikers Kurt Sprengel (1766-1833) jedoch Widersprüche enthielt. Entscheidend ist jedoch, dass ihn seine Experimente am Lymphgefäßsystem zur Beschäftigung mit den Schleimhäuten allgemein und speziell mit den Nasenschleimhäuten anregten. Nach langen Vorarbeiten ging er daran, die tradierten Vorstellungen über die Schleimflüsse zu revidieren, getreu seinem Grundsatz, dass man die „Alten“ immer noch hören solle, nicht aber sie anbeten und bewundern. Die Wissenschaft habe sich nicht aus Geschriebenen, sondern aus umsichtiger Beobachtung und Betrachtung aufzubauen.
Zu dieser Verfahrensweise gehörte Mut. Musste er doch ein zentrales Element eines bisher für unumstößlich gehaltenen, auch theologisch gestützten, medizinischen Dogmas stürzen. Denn nach der seit über 1400 Jahren geltenden auf Galen (129-199?) zurückgehenden Lehrmeinung, galt die Lamina cribrosa als offene siebartige Knochenplatte, die mit den Hirnventrikeln verbunden sei. Bei der Einatmung gelange Luft sowohl in die Lunge, als auch in die vorderen Hirnventrikel, wodurch sich die Lunge, aber auch das Gehirn ausdehne. Der in die Lunge eingeatmete „Luftige Geist“ trete zunächst in die rechte, dann in die linke Herzkammer ein, werde dort erwärmt und als „Spiritus vitalis“ in den Körper verteilt. Dagegen werde die direkt in die vorderen Hirnventrikel aufgenommene Luft und die darin enthaltene Denk- und Bewegungskraft mit Schleim vermischt, wodurch der „Spiritus animalis“ entstehe, der in die hinteren Ventrikel gelange. Von dort werde er durch die Nerven den Muskeln zugeleitet. Beim Nasenschleim handele es sich um ein Abfallprodukt dieses Prozesses, welches über die Siebplatte in die Nase entleert werde. Andreas Vesalius (1514-1564), der große Anatom des 16. Jahrhunderts, konnte die von dem antiken Arzt Galen angenommene Verbindung zwischen Siebplatte und Hirnventrikel nicht finden, stellte jedoch die grundsätzlichen Überlegungen des als unfehlbare Autorität geltenden Galen nicht infrage, sondern behauptete wie dieser, dass die Luft als Spiritus vitalis zusammen mit dem in der Leber produzierten venösen Blut zunächst in die rechte Herzkammer, dann über angenommene Poren in der Herzscheidewand in die linke Herzkammer und von dort in die Hirnventrikel gelange. Der dort gebildete Schleim werde, so stellte es Vesalius dar, über das Infundibulum der Hirnanhangsdrüse in diese selbst entleert und von dort durch Poren zu den Schleimhäuten der Nase und des Gaumens geleitet. Die Hypophyse nannte er deshalb Glandula pituitaria, die Schleimdrüse. Schneider bestätigte durch eifrige anatomische Sektionen sowohl menschlicher, als auch tierischer Körper den Befund des Vesalius, wonach zwischen den Ventrikeln und dem Siebbein keine Verbindung besteht und das Siebbein nur im getrockneten Zustand Löcher habe, während es beim Lebenden von Schleimhaut überzogen ist. Dabei entdeckte er auch die Riechnerven und feinen Arterien, die die Lamina cribrosa durchziehen sowie den Riechkolben und den Riechstrang. Früher, so erklärte Schneider, habe man weichteillose Schädel vom Kirchhof untersucht, wodurch die irrige Vorstellung entstanden sei, dass durch die scheinbaren Löcher nicht nur Luft ins Gehirn gelange, sondern auch Schleim austrete. In einem zweiten Schritt schloss er die von Vesalius angenommenen Poren durch genaue anatomische Untersuchungen aus und folgerte daraus, dass der Schleim in den Nasenschleimhäuten entstehen müsse.
Die entscheidenden Argumente für diese Annahme gewann Schneider durch die Sektion der Gehirne von Pferden, die an Rotz erkrankt waren. Er fand hierbei keinerlei Spur des Schleims im Hirn, woraus er schloss, dass nur die Nasenschleimhaut der „affizierte Teil“ ist. Die Quelle aller Absonderungen, so auch die der Nasenschleimhaut, sah Schneider im Blut, welches die elementaren Kräfte übertreffe und Unglaubliches vermöge. Seine Bildungsstätte befände sich weder in der Leber, noch im Herzen, noch in der Milz, sondern in ihm selbst. Obwohl er damit dem Blut, wie von Harvey behauptet, die Eigenschaft eines lebensspendenden Vitalprinzips zuschrieb, kam er der Wahrheit näher, als viele seiner Zeitgenossen, die noch den humoralpathologischen Vorstellungen anhingen.
Zusätzliche Bestandteile des Schleims entdeckte der Arzt und Theologe Niels Stensen (1638-1686), der die Tränendrüse und die Speicheldrüse untersuchte und die Schleimdrüsen von den Lymphknoten zu unterscheiden lehrte.
Die Forschungen Schneiders trugen dazu bei, dass die Wissenschaft die wichtigen Funktionen des Zentralnervensystems nicht mehr den Ventrikeln, sondern der Hirnsubstanz zuordnete. Diese Erkenntnis deutete sich schon im Werk des Vesalius an, der die graue und die weiße Hirnsubstanz zu unterscheiden lehrte. Der Engländer Thomas Willis (1621-1675) verhalf dieser Auffassung zum endgültigen Durchbruch.
Dass Schneider dieser fortschrittlichen Deutung nahestand, wird auch in seiner Meinung deutlich, wonach es zur Ausbildung des Schlaganfalls keiner „Affection“ des ganzen Gehirns, sondern bloß eines Teiles bedürfe. Deutet sich hier eine beginnende Einsicht in die funktionelle Lokalisation der Hirnfunktionen an?
Auf jeden Fall überwand Schneider damit die Konzeption Galens, wonach die Apoplexie die Folge einer Schleimverstopfung des Gehirns sei, die die Bildung des „Spiritus animalis“ verhindere. In den Jahren 1660 - 1664 veröffentlichte Schneider seine Erkenntnisse in seinem fünfbändigen Hauptwerk „Von den Schleimflüssen oder Katarrhen“. Darin herrschte freilich eine weitschweifige Gelehrsamkeit, die der Autor noch durch ein Unmaß von Zitaten und entlehnten Ausführungen verstärkte. Seine eigenen Entdeckungen finden sich zum Teil an verschiedenen Stellen versteckt, sodass es, wie sein Biograph anmerkt, schwer ist, sie zu ermitteln. So verwundert es nicht, dass der berühmte Kliniker Hermann Boerhaave (1668-1738) sagte: „das Werk über die Katarrhe würde sicherlich ein unsterbliches seyn, wenn die wahren Beobachtungen, befreit vom unnützen Mischmasch der Citate und der leeren Gelahrtheit, in einem Bande beisammen sich fänden.“ Der weniger bedeutende Zeitgenosse Metzger meinte sogar: „Wer dieses Werk ganz lesen will, muss sich entschliessen einen Ocean von Gelehrsamkeit auszutrinken.“
Der Hallesche Botaniker und Medizinhistoriker Kurt Sprengel verteidigte Schneider jedoch mit den Worten: „Wenige Schriften des 17ten Jahrhunderts übertreffen das Werk de Catarrhis an Klarheit, Gründlichkeit und alles umfassender Gelehrsamkeit“.
Diese gründlichen Kenntnisse zeigten sich auch in Schneiders differenzierter Beschreibung der Krämpfe und Läh-mungen, in der Darstellung der Gichtsymptome sowie in den Darlegungen zur medikamentösen Therapie. So war ihm die Wirkung der Zeitlose bei der Gicht bekannt, wenngleich er ihr auch keine spezifische Wirkung zugebilligt hat. Opium hielt er für das mächtigste der „schlafmachenden Arzneyen“. Wer freilich daran gewöhnt sei, dem müsse man eine „grössere Gabe“ reichen.
Insgesamt hielt Schneider jedoch die Verordnung noch so vieler Arzneien für ein „eitles verwegenes Thun“, wenn die Natur der Krankheit dunkel bleibt.
Angesichts seiner großen Gelehrsamkeit und seiner bedeutenden Schriften wundert es nicht, dass Konrad Victor Schneider während seiner 40-jährigen Tätigkeit in Wittenberg, die von den Kriegs- und Nachkriegswirren des Dreißigjährigen Krieges verdunkelt war, achtmal zum Rektor der Universität und zum Senior der medizinischen Fakultät gewählt wurde. Die medizinische Fakultät konnte sich 1649, also ein Jahr nach dem Ende des großen Krieges rühmen, dass die Zahl der Studenten der Medizin „diese Jahre her“ so beträchtlich gewesen sei, dass Wittenberg „die benachbarten Hochschulen Leipzig, Rostock, Jena, Helmstedt und Frankfurt“ überholt habe. Dies war sicher vor allem dem Ruhm Schneiders zu verdanken. Deshalb wurde er auch zum Leibarzt der sächsischen Kurfürsten und des Fürsten von Anhalt ernannt, der sogar zu den Taufpaten des letzten Sohnes des Mediziners gehörte.
Im Jahre 1667 wurde der Arzt an das Sterbebett der Kurfürstin Luise Henriette (1627-1667) gerufen und später von ihrem Gatten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), dem „großen Kurfürsten“, konsultiert. Schwere Schicksalsschläge trafen Konrad Victor Schneider 1673. Denn in diesem Jahr starben sowohl seine Frau, als auch mehrere seiner Kinder. Der nun sehr zurückgezogen lebende Gelehrte litt bald an einer Herzschwäche. Er starb jedoch an den Komplikationen einer Enteritis.
Nach Schneiders Tod, der in der Leichenpredigt auf den 10. August und in den Kirchenbüchern auf den 09. September 1680 datiert wird, sank die Fakultät, so heißt es bei Walter Friedensburg (1855-1938), „von der Höhe zu der dieser sie erhoben hatte, schnell herab“.
Der große Mediziner wurde in der Wittenberger Schlosskirche begraben. Sein ursprüngliches Grabdenkmal befand sich unter der Orgel und wurde 1760 bei der Beschießung Wittenbergs im 7-jährigen Krieg zerstört. Als Ersatz wurde eine Erzplatte westlich vom Luthergrab aufgestellt. Über Schneiders Aussehen sind wir durch einen Kupferstich des bedeutenden Kupferstechers Jacob von Sandrat (1630-1708) informiert, der ihn in barocker Manier repräsentativ darstellt. Als Symbol seines Lebens darf jedoch die wahrscheinlich von ihm selbst gewählte Umschrift gelten, in der es in deutscher Übersetzung heißt: „Die Frömmigkeit bzw. Barmherzigkeit ist die Grundlage aller Tugenden“.
MR Dr. med. Dietmar Seifert