Edo Popović - Anleitung zum GehenAus dem Kroatischen von Alida Bremer

Luchterhand Verlag, München 2015, ISBN 978-3-630-87356-5
Festeinband im Kleinoktavformat, 54 farbige Abbildungen, 172 Seiten, 16,99 €

Es ist schon ein etwas seltsamer Titel, der dem Buch in der Form eines schwarzen Fußabdrucks vorangeht. Man könnte dahinter einen dieser unzähligen Ratgeber für den richtigen Einsatz der Extremitäten vermuten. Mitnichten! Erst nach der Lektüre wird man feststellen, dass es die Entwicklung der Menschheit ist, deren Voranschreiten hier zum Thema geworden ist, irgendwie.

"Das Material für dieses Buch habe ich an Orten gesammelt, an denen ich mich in den letzten fünfzig Jahren aufgehalten habe", bekennt der bekannte kroatische Schriftsteller und ehemalige Kriegsberichterstatter Edo Popovic´ . Er beginnt seinen geistreichen Essay mit einer evolutionären Betrachtung zu den ersten unserer Vorfahren, die sich auf die Hinterbeine stellten und so das aufrechte Gehen begannen. Dabei bezieht er sich auf paläolithische Funde von Fußspuren in der etwa vier Millionen Jahre alten Vulkanasche im heutigen Tansania und schlägt in einer Art entwicklungsgeschichtlicher Chronologie den Bogen zu uns, seinen Zeitgenossen, deren Lebensrhythmus nicht mehr von Sonne und Mond sondern von Vorgesetzten, nicht von Bedürfnissen sondern von Verpflichtungen bestimmt werde. Der Mensch habe nun keine Zeit mehr zum Verdauen, zum Entlausen und zum Kraulen. Er jaule nicht mehr nur bei Schmerzen und Angst, sondern auch wenn er wütend, verbittert, frustriert, verzweifelt und erniedrigt sei. Dafür habe er gelernt zu hasten, immer schneller und schneller zu leben, dieser naturentfremdete Homo celer.

Der Autor zeigt seine unverkennbar poetisch und philosophisch hinterlegte Schreibkunst bei den Schilderungen einer wilden Natur in den Schluchten und Bergen des Balkan, immer im Bezug zu sich selbst und seinen Lebenserfahrungen. Er tut das unter einer gewissen Strukturierung im Inhaltsverzeichnis, dessen fünfzehn Kapitelbegriffe Aufmerksamkeit fordern. Hinter denen verbergen sich Landschaftsbeschreibungen, Historienbilder, gesellschaftskritische Reflexio­- nen, naturwissenschaftliche Einschübe, Erlebnisse im Freien u. v. a. m. in bunter Vermengung. Er legt sie mit einem zwar sachlichen, doch auch tief gehenden Blick frei. Da kommt er z. B. vor einer unverbrauchten  Felskuppe zu den imperialen Römern und deren Beute, den ansässigen Japoden, deren Frauen und Kinder sie ins Rathaus sperrten, um es dann anzuzünden. Barbaren? Dieser Brauch des Um­- ganges mit Zivilisten habe sich bis in unsere Tage erhalten! Vertraut und fremdartig, banal und alles andere als oberflächlich ist sein niedergeschriebenes Denken.

Grundlage und Gerüst der Schilderungen sind lange und einsame Wanderungen durch den Velebit, einen verkarsteten und naturgeschützten Gebirgszug, der sich längs der kroatischen Adriaküste über das Meer beugt. Landeinwärts, nach Osten hin, ist er mit Buchen bewaldet, seewärts von karg bewachsenen Hängen, steinübersäten Weideflächen und steilen felsigen Abstürzen geprägt. In der historischen Region hat er ein fast olympisch-mythisches Ansehen, dieser Geburtsort der eisigen Borafallwinde. Es gibt dort noch freien Raum zum einsamen Wandern. Popović, von schwerer Krankheit genesen, geht in der Natur auf, kampiert in Gebirgshütten und lässt sich auf schroffe Gebirgsspalten, wundersam geformte Felsformationen, karge und wasserarme Wiesensenken und deren Tier- und Pflanzenwelt ein, ganz unsentimental. Er schleppt Bücher, die wahrlich keine Wanderführer sind, mit auf seinen Touren, sucht Kontakt zu den wenigen dort in der freien Natur anzutreffenden Menschen, die vielleicht noch ein paar Schafe weiden lassen und sie durch furchterregende Hütehunde vor Bären und Wölfen schützen. So gibt er sich der sich unweigerlich einstellenden Stille und Entschleunigung hin, über die er besonders ausgiebig nachdenkt und schreibt. Der Mensch sei ständig auf der Jagd und offensichtlich in einer endgültigen Abrechnung mit seiner Umgebung. Man gerät mitunter beim Lesen seiner Gesellschaftskritik unversehens in eine pessimistische bis katastrophische Stimmung. Man könne von der Natur nichts erwarten, nur in ihr verweilen und so sich selbst begegnen, da man sich ja selbst mit sich herumtrage. Dabei schöpft der Wanderer Popović willkürlich aus Quellen alter Zen-Lehrer, altgriechischer und neuzeitlicher Dichter und Philosophen. Ab und an sind Zitate und Verse eingefügt oder vorangestellt. Einiges davon entstammt seiner eigenen Feder. Die poetische Grundstimmung der Schrift ist unverkennbar.

Einen augenfälligen Teil des Buches machen die in guter Qualität eingefügten Fotografien aus, in ihrer Nüchternheit unspektakulär, in ihrer bildlichen Aussage jedoch beeindruckend. Sie stammen sämtlich von ihm. Durch die dem Text entnommenen Bildlegenden fügen sie sich organisch ein. Sie unterstreichen den Erlebnischarakter des Buches. Sie erinnern den durch Poesie oder Philosophie gefangenen Leser daran, dass hier ganz sachlich auch physisch gegangen wird und stellen eine Verbindung zum Buchtitel her. Sie nehmen ihn mit in eine gigantische Schöpfung und Auflösung der Formen, in eine Welt ohne Anfang und Ende, in der alles ununterbrochen geboren wird. Man taucht in die weißen Wasser der Wolken ein, verspürt das Erklingen der Erdorgel, lässt sich von Wind niederdrücken und freut sich über die gesuchten und gefundenen raren Wasserstellen im Karst. Man begibt sich in die Spur von Hasen und Bären und bekommt so eine Ahnung vom menschlichen Unvermögen, das einzig Lebenswerte, nämlich das Leben selbst zu erleben. Es ist erstaunlich, dass man bei der gewissen Disziplinlosigkeit bezüglich der inhaltlichen Abfolge von Reflexionen und Beschreibungen das Buch doch gern von vorn bis zum Schluss liest, Seite für Seite und mit einer gewissen Spannung, deren Ursprung man sich nicht so ohne Weiteres erklären kann. Es ist wohl ein bisschen die Herausforderung an den Geher, den Wanderer, zu gehen im Kopf und in festen Schuhen, einmal zu sein und nicht nur haben zu wollen. Denn der Besitz ist der Köder, wir sind die Beute, stellt Edo Popovic´  fest. Es ist ein Buch von und für unterwegs. Die zahlreichen slawischen Namen mit ihren irritierenden Zeichen zur Aussprache sollten für den global orientierten Leser der offensichtlich gelungenen Übersetzung keine Hürde darstellen. Würde man sie einfach weglesen, fehlte etwas an der Substanz der fremden Wörter und damit an der Identifikation mit einem besonderen Teil der europäischen Kulturgeschichte.

Auf der Rückseite des Buchdeckels steht im Pendant des schwarzen Fußabdrucks von der Vorderseite: Ein poetischer Ratgeber, der uns lehrt, was wir selbst und unsere Welt zum Überleben brauchen. Offensichtlich ist das nicht sehr viel! Dieses ungewöhnliche Buch mit all seinen zugegebenen Schwächen ist eine Lektion in Bescheidenheit und wird trotzdem oder gerade deshalb diesen oder jenen Liebhaber finden. Denn es bleibt dem Leben auf der Spur!

F.T.A. Erle, Magdeburg