Die Suche einer Nation nach sich selbst

Rowohlt Verlag Berlin 2017, 2. Auflage, ISBN 978-3-87134-070-3, gebunden mit Schutzumschlag im Oktavformat, 1056 Seiten,
62 Abbildungen, 39,95 €

Eine kurze und scheinbar auch einfache Frage als Haupttitel – und dann als Antwort das voluminöse Buch mit mehr als 1000 Seiten? Wie soll das zusammengehen? Man ahnt, dass es sich um eine schwierige, der Autor würde sagen intrikate Problematik handelt, die sich unter dem Buchdeckel ausbreitet. Dabei passt der Umschlag mit dem Bild des deutschen Rheins bei Bingen mit der deutschen Burg so gut zur Überschrift, die nicht zum ersten Mal in dieser Formulierung in Erscheinung tritt. Allein schon in der aufgeführten Literatur findet man sie mehrfach bei Büchern und anderen Publikationsformen.

Dieter Borchmeyer, ein angesehener und sehr erfahrener Literaturwissenschaftler mit der Spezifität Germanistik, Bekenner zur universitären geisteswissenschaftlichen Lehre und Forschung, legt mit diesem umfangreichen Werk eine strukturierte Übersicht seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit vor. Er tut das in zwölf Kapiteln, deren jedes einzelne mehr oder weniger zahlreiche und unterschiedlich umfängliche Unterteilungen aufweist. Es entsteht so ein ausgedehnter Gang durch die deutsche Ideen- und Kulturgeschichte, überwiegend der vergangenen drei Jahrhunderte. Borchmeyer plädiert darin für geschichtliche Erinnerung und Besinnung, auch nach dem verständlichen fundamentalen Verlust des Selbstwertgefühls der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Schatten von Auschwitz, wie Martin Walser es ausdrückt.

Nach einleitender Andeutung des Themenspektrums einschließlich einer Hommage an Uta von Naumburg mit ihrem rätselhaften, in die Ferne gerichteten Blick, befasst er sich intensiv mit dem engeren Thema des „Was ist deutsch“, gefolgt von Friedrichs Nietzsches These: Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen. Wer sich daran erschreckt, sollte besser das Buch jetzt aus der Hand legen und sich nicht auf das Abenteuer des ungewissen Ausgangs der Beschäftigung mit diesem Werk einlassen. Das Rüstzeug für den geisteswissenschaftlichen Gang in die Literaturgeschichte kann in seiner erforderlichen Breite und Tiefe kaum ein unbedarfter Leser parat haben. Und trotzdem legt man das Buch nicht für längere Zeit weg, lässt sich immer weiter mitziehen, vielleicht sogar provozieren.

Der Autor stellt nicht nur seine eigenen Gedanken in den Vordergrund, sondern stützt sich auf die Zitate von Autoritäten, trägt sie zusammen in manchmal seitenlangen Ausführungen. An erster Stelle sei Thomas Mann genannt, der Wesentliches zu diesem Buch beigetragen hat. Aber auch Goethe, Schiller, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner und so viele, deren Namen heute nur noch dem Kundigen etwas sagen, sprechen hier und melden sich ins Leben zurück. Es beginnt mit dem Kapitel: Das Deutsche im Spannungsfeld von Provinz, Nation und Welt. Die Deutsche Nation war über Jahrhunderte nicht viel mehr als eine Sprachgemeinschaft. Es sei nicht der Deutschen Größe, obzusiegen mit dem Schwert, sagt Schiller. Und so schlägt ihnen in der Geschichte all ihr Gutes in Böses um, selbst ihr Bestes, die Universalität und ihr kosmopolitisches Denken zum bedrohlichen Nationalismus, von der Nationalität zur Bestialität.

Im Kapitel: Phänomenologie des Deutschen geht er u. a. auf die deutsche Treue, das Janusgesicht einer sogenannten nationalen Kardinaltugend ein, seit dem 16. Jahrhundert eine stehende Redewendung. Eigenbrötlerisch und massenselig, untertänig und hochfahrend, friedfertig und raufsüchtig, pedantisch und schwärmerisch, treuherzig und treubrüchig, leichtgläubig und misstrauisch bis aufs Äußerste seien die Deutschen. Und so kommt Thomas Mann zu seiner zeitlebens zäh verteidigten Ansicht, dass es nicht zwei Deutschland gäbe, ein böses und ein gutes, beides zu sein sei Bestandteil deutscher Identität.

Unter den zwölf Kapiteln wird der durchschnittliche Leser seine besondere Aufmerksamkeit dem zu Nationalhymne und Nationalmythos schenken. Die Nationalhymne gehört neben der Fahne zu den wichtigsten Symbolen des modernen Nationalstaates. Sie ist nach innen ein Zeichen der Wir-Identität und nach außen der staatlichen Souveränität. Bei den Deutschen gab es durch die System- und Staatsformenwechsel einen längeren Bildungsprozess. Schillers Ode an die Freude in der Vertonung von Beethoven hat lange und immer wieder diesen Platz freiwillig besetzt. Sie war und ist ein bleibendes Symbol deutscher Weltbürgerlichkeit und hat auch heute noch ihre Funktion im politischen Europa. Sie vermittelt den Begriff von Freiheit. 2008 musste sie sogar mangels eines passenden Liedes als Hymne des Kossovo anlässlich seiner Unabhängigkeitserklärung dienen.

Borchmeyer zollt auch dem Text der DDR-Nationalhymne in ihrer lyrischen Qualität seinen Respekt. Nur hing der Melodie ein Geruch von mehrfachem Plagiat an. Es gab einige Versuche, nach dem 2. Weltkrieg und bei Gründung bzw. Installation der neuen deutschen Staaten neue Hymnen zu kreieren.

Das alte Lied an die Deutschen des Hoffmann aus Fallersleben war diskreditiert, da es in den Jahren des NS-Staates nach der ersten Strophe immer in Verbindung mit dem braunen SA-Lied zu singen war und zudem einer großdeutschen Anmaßung gleichgesetzt wurde. Borchmeyer spricht den Verdacht aus, dass Hitler ein Absingen des weiteren Textes durch diesen unsäglichen Nachgesang unbedingt verhindern wollte, da in der zweiten Strophe vom Wein die Rede ist, ein Gräuel für den Antialkoholiker aus Braunau. Die geschilderte Geschichte unserer heutigen Nationalhymne in Form der dritten Strophe und wie sie vom frischen, wenn auch damals nicht mehr ganz jungen Bundeskanzler Adenauer über alle Bedenken hinweg durch Überrumplung eines großen offiziellen Publikums eingeführt wurde, das ist auch eine der Geschichten, die dem Buch seine Würze geben. Auf jeden Fall kann es sich im Vergleich zu manch anderer blutiger Hymnenschwester sehen bzw. hören lassen, unser friedfertiges und freiheitsbezogenes Vaterlandslied.

Ein weiteres, tief in die Geschichte der Deutschen reichendes Kapitel heißt Deutschtum und Judentum – eine tragische Illusion, in dem u. a. das Jiddische dem mittelhochdeutschen Sprachgut des Walther von der Vogelweide zugeordnet wird, von dem es sich weniger weit entfernt hat als unser Neuhochdeutsch. Man sollte sich seiner nicht schämen. Die Juden in Deutschland und die osteuropäischen Juden waren ein Teil der deutschen Kultur. Ihre Vernichtung wurde so zur Deutschenvernichtung. Auch ist darauf hinzuweisen, dass das Judentum eine der Stützen der deutschen Universalität, ihrer Wissenschaften und Kultur, ihrer Dichtung und Musik darstellte. Deutsche und Juden seien durch ihre gemeinsame Bestimmung gleichermaßen in der Welt verhasst – wer käme bei solcher Feststellung nicht ins Grübeln. Da nimmt man doch gern den Gedanken als Chance auf, dass es das Deutsche nicht für immer gäbe, dass wir uns immer wieder neu fragen müssten: Was ist jetzt deutsch? Darf sich folglich dann der Leser die Frage stellen: Was war deutsch? Dieter Borchmeyer hegt ganz am Schluss seines Buches die Hoffnung, dass für die endgültige Beantwortung dieser Frage einer Nation auf der Suche nach sich selbst Hilfe käme von der von ihm so verehrten Uta im Naumburger Dom mit ihrem visionären Blick.

Das Werk ist in gepflegter, lebenslang am Deutschen gebildeter Sprache geschrieben. Es ist ein Plädoyer für das gedruckte Buch. Die schlichten und überwiegend kleinen Bildchen im Text werden als willkommene und informative Abwechslungen mit Wiedererkennungswert wahrgenommen. Der Buchanhang bietet mit mehr als 100 Seiten Anmerkungen, Literaturangaben und Namensregister einen Nachweis der wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit und Tiefe dieser Arbeit. Dem Leser verlangt das Buch ein gewisses Interesse an deutscher Literatur und Geschichte und die demütige Kenntnisnahme absehbarer Wissensdefizite ab.

F.T.A. Erle, Magdeburg