Neuland gewinnen
Neuland gewinnen
(Cover: Verlag)

Siri Frech, Babette Scurell, Andreas Willisch (Hrg.)

Ch. Links Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-86153-949-0, Klappenbroschur im Lexikonformat,
193 farbige Abbildungen, 271 Seiten, 25,- €

Neuland gewinnen! Hieß das nicht einmal, jungfräulichen Boden unter den Pflug zu nehmen, um ihm Leistung abzuringen, Pionierarbeit also? Das vorliegende, flexible Buch kommt im grünen Gewande daher. Es versammelt in sich solche Hoffnungen auf Entwicklung von ländlichen Räumen und darüber hinaus städtischen Brachen durch Menschen, die sich nicht mit Brüchen oder Behinderungen ihrer Biografien und Lebensräume abfinden wollen. Sie suchen sich Gleichgesinnte, Interessenten und andere Mitmacher, kreieren eine Idee und machen ein Entwicklungsprojekt daraus. Auf Außenstehende mögen ihre Vorhaben wie Träumereien wirken. Scheitern scheint angesagt, passiert auch manchmal, in der Mehrzahl aber nicht.

Vierundzwanzig solcher Projekte werden von ihren mehrheitlich weiblichen Initiatoren in diesem Buch vorgestellt. Sie werden mit eigenen Worten oder als Mitschriften von Interviews verfasst. Sie finden in den neuen, den ostdeutschen Bundesländern statt, Berlin und Thüringen ausgenommen. Acht davon beziehen sich auf Orte in Sachsen-Anhalt, von der Altmark im Norden bis Anhalt im Süden des Landes, ins Leben gerufen von fünf Frauen und drei Männern. Sie erfreuen sich sämtlich einer Förderung durch die Robert-Bosch-Stiftung mit deren Programm „Neulandgewinner“.

Die Berichte kommen aus sog. abgehängten Regionen Ostdeutschlands, denen man gewöhnlich keine menschenfreundliche Entwicklung mehr zutraut. Es sind vor allem Dörfer und ihr ländliches Umfeld, auf dem eine erfolgreiche Agrarbranche wühlt – und das doch mit seinen Funklöchern für die alteingesessene Bevölkerung ohne Zukunftsaussichten zu sein scheint. Dazu werden auch Stadtrandgebiete, Stadtbrachen und der Leerstand an Industriekomplexen und Wohngebäuden gezählt. Dort ist ausreichend Platz vorhanden, scheinbar jedoch mangelt es an Lebensqualität. Die noch ansässigen Menschen der Region möchten aber in ihrer historisch gewachsenen, heimatlichen Umgebung bleiben. Zumal ihr Schatz des Wissens um den Boden, die Landschaft, die Sprache und die Geschichte ihrer Region ein nicht zu verachtender Reichtum ist, der verlorenzugehen droht.

Die einzelnen Beiträge des Buches sind gegliedert nach bestimmten Aspekten, u. a. der räumlichen, der zeitlichen, der wirtschaftlichen oder der gesellschaftlichen Perspektive. Die berichtenden Frauen und Männer sind gleichzeitig die Projektinitiatoren. Sie befinden sich durchweg in einem schaffenskräftigen Alter voller Ideen und Tatendrang. Sie waren entweder immer am Ort des Geschehens oder sind in Sehnsucht nach der Heimat zurückgekehrt, der Liebe gefolgt oder aus irgendeinem anderen Grund dort sesshaft geworden, ganz entgegen dem Trend zur Fluktuation aus Lokationen, die von außen gesehen nicht zum Bleiben einladen. Ihre Projekte widmen sich anspruchsvollen Zielen, die sich manchmal im Laufe des Fortgangs der Realisierung ändern im Sinne von Anpassungen an die Wirklichkeit. Sie dienen aber sämtlich nicht nur dem eigenen Interesse, sondern deutlich auch der Entwicklung oder Bewahrung von Gemeinschaften, dem Aufhalten von Verfall und der Schaffung von Stätten der Begegnung und der Arbeit. Alle gemeinsam haben sie, dass sie ohne sichere materielle Basis begonnen werden, wobei die zeitlich limitierte, o. g. institutionelle Förderung eine Mut machende Stütze ist.

Persönliches Engagement im Ehrenamt ist unabdingbar, selbst bei gewissem professionellem Hintergrund der Aktivisten. Da wird ein verkommendes, markantes Bahnhofsgebäude, zentral in der Kleinstadt gelegen und mit jeder Menge Geschichte gefüllt, am Rande der Legalität zu einem Veranstaltungszentrum und Jugendtreff mühsam und geduldig ausgebaut. Es werden ehemalige Agrarbetriebsanlagen bewohnbar gemacht, Gebäude eines DDR-Musterdorfes der sozialistischen Landwirtschaft mit seiner denkmalgeschützten und landschaftsprägenden Architektur dem Abriss entzogen und nützlichem Gebrauch zugeführt. Das Bewusstsein der Herausforderungen des demografischen Wandels und die gläubige Sicherheit, dass die Verlierer von heute die Gewinner von morgen sind, tun ein übriges. Denn der Trend, dass in Deutschland mehr Menschen vom Lande in die großen Städte ziehen, scheint sich in letzter Zeit umgekehrt zu haben. Die Großstädte wachsen zwar weiter, jedoch aufgrund des Zuzuges aus dem Ausland.

Die ländlichen Räume werden zum Leben gebraucht, nicht nur zum Aufstellen von Windrädern. Allerdings muss dafür das Dorf neu erfunden werden, auch wenn es vorerst nur für den Betrieb einer Marmeladenmanufaktur ist. Was fehlt, sind mehr tatkräftige Zupacker und Leute, die bereit sind, Lebenszeit und Geld in die Gemeinschaft zu investieren. Bei den meisten der hier vorgestellten Projekte handelt es sich um wirtschaftliche Gratwanderungen, die aber trotzdem zufrieden machen und der Region die Hoffnung geben, zukunftsfähig zu bleiben oder zu werden. Die Aussicht auf funktionierende Daseinsfürsorge, z. B. in Form der ärztlichen Versorgung und der Pflege im Alter, ist ein wesentlicher Grund für das Gelingen solcher Visionen. „Nichts zu tun ist das Schlechteste, was man da machen kann,“ lautet die Feststellung einer der Neulandgewinnerinnen. Man könne nicht alles erhalten oder verbessern, müsse aber an einer Stelle anfangen.

Das Buch ist kein Katalog der guten Dinge. Es steht aber eine Menge Brauchbares und Mut machendes in ihm. Es werden reichlich Beispiele hoffnungsträchtiger Lebensentwürfe geschildert an fast schon aufgegebenen Orten, von deren Existenz die meisten Leser und Leserinnen hier erst erfahren dürften. Es verbreitet weniger Landlust als vielmehr Lebenslust, ist professionell gestaltet und lebendig illustriert. Es zeigt auf, wie altes Land neu gewonnen werden kann. Pionierarbeit eben!

F. T. A. Erle, Magdeburg