Heiner Lück

Universitätsverlag Halle-Wittenberg, Halle a. d. Saale 2020, ISBN 978-3-86077-208-0,
gebunden im illustrierten Hardcover/Quartformat (32 x 23 cm, 2500 g), 243 farbige Abbildungen, 367 Seiten, € 175,-
Der Dichter G. E. Lessing, der Frühromantiker Novalis, der Augustinermönch Martin Luther haben an ihr studiert und Generationen von jungen Männern vor und nach ihnen, an der Leucorea (leukos oros=weißer Berg), der Universität Wittenberg. Giordano Bruno und Tycho de Brahe suchten sie auf. Auch Hamlet, der Prinz von Dänemark soll sich hier eingeschrieben haben, literarisch zumindest, folgt man Shakespeares Tragödie in I/2. Wenn das keine Referenzen sind!
Der Autor, Prof Dr. jur. Heiner Lück, Spezialist für Fragen der Rechtsgeschichte, hat sich der Historie der ehemaligen Universität Wittenberg intensiv, mit viel Sachkenntnis, Engagement und sicher auch großem zeitlichen Aufwand angenommen. Herausgekommen ist ein inhaltlich und physisch gewichtiges Werk, das sich angesichts seiner Opulenz nur schwer auf einigen Seiten beschreiben lässt.
Inhaltlich hat der Autor ein strukturierendes Netz über die Menge der gesammelten Daten zur Geschichte dieser seinerzeit europaweit berühmten Universität gelegt. Er ermöglicht es so, eine gewisse Übersicht über die chronologischen Abläufe einerseits und die Fakten der Studienfächer andererseits in den drei Jahrhunderten zu gewährleisten. Mit diesem Netz ordnet er sowohl die Entwicklung der Lehre, deren personalen Fundus als auch studentische Belange und das wirtschaftliche Umfeld einschließlich der baulichen Infrastruktur. Es bleibt noch genügend Raum für Besonderheiten und tragische Geschichten, Existenzschwierigkeiten von Bürgern der Stadt und der Familien der Professoren etc., nie sensationsheischend, immer sachlich im Rahmen des Buchthemas berichtend. Kern des Werkes sind vier chronologisch und thematisch der Universitätsentwicklung geschuldete Kapitel mit strukturierten Texten und zugehörigen historischen Abbildungen
Kapitel I widmet sich dem humanistischen Aufbruch im Zeichen der Reformation und der Gründung der Leucorea als sächsische Landesuniversität am 6. Juli 1502, dem Beginn des sog. Reformjahrhunderts, durch Kurfürst Friedrich III., der Weise genannt. Es wurden (in der Reihenfolge nach Dignität) eine Theologische, eine Juristische, eine Medizinische und eine Artistische (später Philosophische) Fakultät installiert. Prägende Figuren dieser jungen Leucorea waren Martin Luther und Philipp Melanchthon. Ihre Absolventen nahmen das reformatorische Gedankengut mit in alle Lande. Die Theologie hatte das Sagen. Das erste Kapitel beleuchtet die Ursprünge und Entwicklung der namensgebenden Stadt Wittenberg, mit Magdeburger Stadtrecht ausgestattet und als militärische Festung angelegt. 500 Studenten standen anfangs 2000 Einwohnern gegenüber. Ehemalige Klosteranlagen und Kirchen incl. der Schlosskirche wurden in die universitäre Nutzung genommen. Trotz des Todes Luthers 1546 und der Krise der militärischen Niederlage Kursachsens im Schmalkaldischen Krieg 1547 sowie der kompromisslosen lutherischen Orthodoxie in Lehre und Leben der Leucorea blieb das Interesse am Studium an dieser Einrichtung ungebrochen. Von den Juraprofessoren wurde das Einbringen in die Gerichtsbarkeit und die Rechtsangelegenheiten des Landes erwartet, u. a. auch bei Hexenprozessen. Das bedeutete eine erhebliche außeruniversitäre Arbeitsbelastung, war aber auch bzgl. zusätzlichem Einkommen über die universitäre Besoldung hinaus lukrativ. Zudem konnte das aus der Praxis geschöpfte Wissen in der Lehre fruchtbringend angewendet werden. Die Juristen der Universität genossen über die Landesgrenzen hinaus hohes Ansehen.
Der Aufbau der Medizinischen Fakultät verlief schleppend. Sie bezog sich in der Lehre noch auf die antiken Autoren, vor allem Hippokrates und Galen. Förderer und Lehrstoffbereitsteller war vor allem der Theologe Melanchthon (1497-1560). Es gab nur zwei Lehrstühle, deren Besitzer meist auch die Leibärzte von Prominenz des Landes waren. Die Artistische Fakultät verstand ihre Aufgabe in der Realisierung eines gewissen Grundstudiums als Voraussetzung zum Wechsel an eine der drei o. g. „höheren“ Fakultäten. An ihr wurden vor allem Sprachen, aber auch Mathematik und später die Naturwissenschaften gelesen bzw. geübt. Unter dem Gliederungsbegriff der Exkurse macht der Buchautor auf besondere Einwirkungen auf die Leucorea aufmerksam, z. B. die Schäden durch Pest und Katastrophen, u. a. den Einsturz der Elbebrücke 1563, bei dem auch mehrere Studenten ums Leben kamen.
Im Kapitel II, das auf den Einsatz für die wahre Religion eingeht und das Bekenntnis zu ihr hervorhebt in Form der Unterschrift unter die sog. Konkordienformel des gesamten, in Diensten der Leucorea stehenden akademischen Personals. Wittenberg wird mit Jerusalem gleichgesetzt und als Lichtbringer für die deutschen Universitäten empfohlen, eine Gottesstadt, Rom und Athen ebenbürtig. Eine recht dogmatische Gängelung von außen durch den Kurfürsten und sein Oberkonsistorium ist nicht zu verkennen. Das Zurückfallen in der Rangreihung der Universitäten wurde offensichtlich ignoriert. Die erstarkten Leipziger und die 1694 neugegründete kurbrandenburgische Hallische Konkurrenz sowie der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) im Verbund mit einer kleinlichen Reglementierung der Studenten taten das Ihre. Letztere kamen überwiegend aus den sächsischen Territorien, Kurbrandenburg und Schlesien und lebten z. T. eine exzessive Zügellosigkeit, auf die die Gewaltigen der Universität mit überbordender Intoleranz reagierten. Das vor allem bei in Frage gestelltem lutherischen Protestantismus, z. B. durch den aufkommenden Pietismus, wie er in Halle gedieh. Auch der Kurfürst versuchte, modernen Strömungen der Wissenschaft Widerstand entgegen zu bringen, in der Juristischen Fakultät z. B. betreffs Natur- und Völkerrecht.
In der Medizinischen Fakultät bemühte sich der slowakisch stämmige Schlesier Johannes Jessenius (1566-1621) die anatomischen Sektionen durch Beschaffung von Leichen Hingerichteter zu sichern. Er selbst wurde wegen politischer Aktivitäten 1621 in Prag öffentlich exekutiert.
Unter den Professoren der Medizin nennen heutige zahnärztliche Implantologen gern den aus Bitterfeld stammenden und als hochrangig geltenden Professor Konrad Victor Schneider (1614-1680), der durch seine anatomischen Forschungen u. a. feststellte, dass die Nasenhöhle durch eine sezernierende Schleimhaut ausgekleidet ist, der nach ihm später benannten Schneiderschen Membran. So wird in Erweiterung der Lokalisation heute noch die Kieferhöhlenschleimhaut bezeichnet, eine für den oralchirurgischen Implantologen sensible und unbedingt zu schonende Struktur im Oberkiefer. Von Schneider gibt es leider kein Porträt in diesem Buch, nur die Abbildung eines in der Schlosskirche angebrachten Epitaphs.
Kapitel III wendet sich dem Jahrhundert der Aufklärung zu und berichtet über die Auswirkungen des Bekenntniswechsels des Kurfürsten Friedrich August I. (der Starke, 1670-1733) zum Katholizismus als Voraussetzung für die Krönung zum König von Polen (August II.). Hier kommt dann auch der schwarzafrikanische Philosoph Anton Wilhelm Amo (1703-1759) vor, der mit der Anführung eines Aufmarsches im Mai 1733 zur Begrüßung des Landesherren diesem den Schneid der Aufmerksamkeit des Publikums abkauft. Die Aufklärung wirkt nun von außen auf die Wittenberger bzw. die Entwicklung der von ihr gelehrten Wissenschaften ein. Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) trägt seines dazu bei. Die Festungsstadt wird stark in Mitleidenschaft gezogen, fast ganz zerstört. Die originale Thesentür der Schlosskirche verbrennt. Beim Wiederaufbau wird der nordöstliche Schlossturm in die Schlosskirche einbezogen. Der heute die Silhouette des Altstadtensembles dominierende Turm mit seiner Inschrift ist also kein ursprünglicher Kirchturm. Wittenberg wird aber wegen seiner internationalen Berühmtheit als Stätte der Reformation zur touristischen Attraktion, das Lutherhaus zu einer Art Wallfahrtsort. Seine Theologen aber wehren sich noch Anfang des 18. Jahrhunderts gegen die Aufklärung als größte Gefahr für den christlichen Glauben, gegen den Pietismus eines Christian Wolff (1659-1754) aus Halle und auch neues Gedankengut vom Hof in Dresden. Letztendlich setzt sich aber doch eine der Aufklärung zugewandte Theologie durch. Den Juristen gilt weiterhin wegen ihrer fleißigen Arbeit das starke staatliche Interesse. Sie bleiben eine Stütze des Landes und der Universität. Die Entwicklung der Naturwissenschaften mit grundlegend neuen Erkenntnissen wirken auch auf die Medizinischen Fakultät ein, die ansonsten nicht zur Spitze der Leucorea gehört, da auch wenig gefördert. Erwähnt werden soll aber Prof. Abraham Vater (1684-1751), der der papilla vateri am Duodenum und den Vater-Pacinischen Körperchen seinen Namen gegeben hat.
In der Philosophischen Fakultät wird in dieser Phase die Lehre mehrerer orientalischer, auch zeitgenössischer Sprachen vermittelt, z. B. Türkisch, Arabisch und Koptisch. Staatswissenschaft (Kameralistik) wird Unterrichtsgegenstand. Der berühmte Emmanuel Kant im preußischen Königsberg darf aber noch nicht beworben werden.
Kapitel IV beschreibt das Ende der Leucorea nach über 300 Jahren ihres Bestehens, nicht zuletzt durch die Napoleonischen Kriege. Die Medizinische Fakultät hatte sich um das Militärlazarett zu kümmern, wurde aber weiterhin bezüglich Ausstattung seitens der Regierung in Dresden stiefmütterlich (gendergerecht wohl stiefväterlich) behandelt. Vor allem fehlte eine eigene Universitätsklinik. So war dann das Ende des akademischen Lebens in Wittenberg nicht mehr aufzuhalten. Der Festungscharakter der Stadt und die Bindung Kursachsens an Napoleon wurden zu ihrem Schicksal. Der Jurist Karl Klien (1776-1839) war letzter Rektor. Er residierte im Auslagerungsort Schmiedeberg. Das stolze Wittenberg wurde nach dem Wiener Kongress dem Preußischen Staat zugeschlagen. Die Vereinigung der ehrwürdigen Bildungsstätte Leucorea mit der benachbarten, sich dynamisch entwickelnden Universität Halle wurde per königlich-preußischer Entscheidung ab 1. November 1817 unter Einbeziehung des Ortsnamens Wittenberg in die Bezeichnung der neuen Universität als „Vereinigte Friedrichsuniversität Halle-Wittenberg“ vollendet. Es ging nach Hamlet um Sein oder Nichtsein. Sie kommt erst 1933 in den Genuss des Namens Martin Luthers. Am Ort der ehemaligen Universität an der Elbe wird ein evangelisches Predigerseminar eigerichtet, das heute noch Bestand hat. Die Hallische Universität ist in Wittenberg seit 1995 mit der Stiftung LEUCOREA der MLU mit lebendigem Bildungsauftrag und moderner Ausstattung existent.
Die Gestaltung des Buches ist schlicht exzellent, im Layout und beim künstlerischen Design. Die Texte werden durchgehend zweispaltig angeboten. Die 243 Abbildungen sind überwiegend Porträts der aufgeführten Personen. Sieht man von der Hl. Katharina als Patronin der Artistischen Fakultät ab, sind es Männer. Die Bilder zeugen sowohl in der Auswahl als auch in der Qualität ihrer Darstellung von der hohen Professionalität der Beteiligten. Der umfangreiche Anhang mit vielseitigen Verzeichnissen zu Quellen und Namen, Titeln und Orten ist für den Leser eine hervorragende Hilfe zur Orientierung in Buch. Es steht dem Rezensenten nicht zu, die Arbeit des Autors Heiner Lück fachlich zu bewerten. Er kann nur gratulieren zu dieser außerordentlichen Leistung und das Buch als repräsentative Habe oder Gabe an Interessierte empfehlen, vor allem, wenn sie eine Wurzel in einer der beschriebenen Fakultäten bzw. ihrer Nachfolgerinnen haben. Im Übrigen könnte ein Gang durch Wittenberg nach der Lektüre des Buches von einem neuen Blick auf diese Stadt gesegnet sein.
Oktober 2020
F.T.A. Erle, Magdeburg