Diana Stört: Goethes Sammlungsschränke (Cover: Verlag)
(Cover: Verlag)

Diana Stört

Sandstein Verlag Dresden 2020, ISBN 978-3-95498-417-6, geb. im Hardcover, Großoktavformat, reich illustriert, 264 Seiten, € 29,90

Kann man sich das Genie Goethe in einem Gedankenzusammenhang mit Gebrauchsmöbeln vorstellen? Die Autorinnen, eine Literatur- und Kulturhistorikerin und eine Diplomrestauratorin, tun das im vorliegenden Buch. Und das mit Recht! Sie untersuchen innerhalb ihrer jeweiligen fachlichen Kompetenz in einer Studie des Meisters Umgang mit seinen umfangreichen Sammlungen, ihrer Unterbringung im Wohnhaus am Frauenplan samt Nebengebäuden, heute Kern des Goethe-Nationalmuseums in Weimar.

Sie lassen die Dinge sprechen, übersichtlich strukturiert unter dem Inhalt: Der Sammlungsschrank/Sammlungen im Haus am Frauenplan/Goethes Schränke und im Anhang mit einer fotografischen und Daten-Dokumentation von 34 der im Textteil beschriebenen Schrankmöbel mit den dazu gehörigen physischen und historischen Daten inkl. heutiger Standorte.

Sammlungen waren die Wissensspeicher der sog. Goethezeit. Er selbst war als Minister des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach zuständig für alle staatlichen Kollektionen am Hofe. Daneben trug er zu eigenem privaten Studium und Genuss viel Material in seinem Haus zusammen. An hervorragender Stelle waren das Mineralien und Gesteine. Er war schließlich im Auftrag des Landesherrn beruflich zur Förderung des Bergbaus verpflichtet und widmete sich dieser Aufgabe auf autodidaktischer Basis mit Leidenschaft seit Ende der 1770er Jahre. Der Zielzeitraum dieser sog. Dingforschung reicht vom späten 18. bis ins frühe 19. Jhdt. Man muss sich beim Lesen immer wieder daran erinnern, dass die Möbelstücke das eigentliche Ziel der Untersuchungen sind, diese Räume im Raum. Sie können natürlich nicht getrennt von den in ihnen verwahrten Dingen betrachtet werden. Goethe hatte zu Lebzeiten ca. 50 000 Objekte in seiner privaten Sammlung zur Anschauung parat, darunter ca. 23 000 Stücke naturwissenschaftlichen Interesses (Geologie, Botanik, Anatomie, Farbenlehre etc.) und viele Zeichnungen und Grafiken, davon etwa 200 von eigener Hand. Sammlungsschränke waren für ihn unverzichtbare Ordnungsmöbel. Ihr ästhetisches Erscheinungsbild war dieser Funktion untergeordnet, wenn auch dem Zeitgeschmack angepasst. Seine Schränke hat er sämtlich selbst entworfen und mit detaillierten Konstruktionshinweisen an die einschlägigen Handwerker (Tischler, Schlosser, Maler) in Auftrag gegeben, sieht man von zwei wertvollen Übernahmen aus dem Nachlass seines früh verstorbenen Sohnes August ab. Für Fertigmöbel dieser Art gab es seinerzeit keinen Markt.

Goethe wollte als wissenschaftlicher Sammler wahrgenommen werden, nicht als Herr einer sog. Wunderkammer vergangener Zeiten oder einer Mode folgend. Die Mineralienschränke, wahrscheinlich der bedeutendste Teil der über 50 später verzeichneten Kompartimente, mussten nach seiner Vorstellung ausreichend praktischen Gesichtspunkten genügen. Sie mussten aufnahmefähig sein. Ihr Inhalt sollte ohne Umstände der Präsentation zugängig sein, dazu platzsparend und sicher gegen unbefugten Zugriff. Es sind die Schränkchen mit den vielen Schubladen, heute meist in einem lichten Grau gefasst. Ihre strukturierende Inneneinrichtung (Eingerichte) war ausgesprochen variabel mit vielen kleinen unbefestigten und somit entnehmbaren Behältnissen versehen, die der jeweiligen Objektgröße entsprachen. Türen oder feste Innenraster hätten da gestört. Sie waren nicht immer grau gestrichen gewesen. Museale Erfahrungen und Erfordernisse hatten später dazu geführt, die rötliche Holzansicht oder den weißen Lackanstrich zu verdecken.

Etwas andere Anforderungen stellte der Geheimrat an Münz- und Medaillenschränke, die sog. Münz-Cabinette, deren gesammeltem Inhalt er einen hohen Wert für die eigene Bildung und das gepflegte Gespräch mit Gästen über die dargestellten historischen oder künstlerischen Anlässe zumaß. Flache Schubladen mit einliegenden Tablaren, also Münzaufnahmevorrichtungen kennzeichnen sie. Eine weitere Sparte waren die Majolikaschränke, denen er eine ganz andere Draufsicht verordnete und zur Realisierung an die Gewerke weitergab. Die farbenprächtigen 105 Teller sollten immer sichtbar in den Raum strahlen und als Gesamtkunstwerk wahrgenommen werden, also hinter Glas auf Anhieb sichtbar sein. Sie standen mit ihren farbenfrohen Szenerien für glückliche Zeiten der eigenen Vergangenheit, z. B. der Italienreise. Wieder andere Gestalten waren die Mappenschränke für die sehr unterschiedlich großen Grafiken und Zeichnungen und deren unkomplizierte Handhabung. Und schließlich ist noch die Kategorie der vielseitig verwendbaren Glasschränke zu erwähnen, in denen u. a. Kleinplastiken staubgeschützt aufgestellt waren.

Sitz-, Liege-, Schreib- und andere Gebrauchsmöbel im Haus am Frauenplan spielen in diesem Buch keine Rolle, sind nur beiläufig auf einigen Bildern zu sehen. Die überkommene Menge der Sammlungsschränke, für die zu Goethes Lebzeiten kein zuverlässiger Katalog erstellt worden war, verdankt ihre heutige Existenz dem Dichterkult um Johann Wolfgang von Goethe als Glücksfall. Den beiden Autorinnen ist es gelungen, wesentliche Aspekte dieser Exponate bezüglich ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Überformungen, ihrer Aufstellung und ihrer historischen Nutzung zu klären. Die Sprache der Texte wird die Leserschaft als gut verständliches Fachdeutsch annehmen. Die Illustrationen werden aufschlussreich in den Texten mitgeführt. Die Kapitelabsetzungen werden von hervorragenden ganzseitigen Fotografien der aktuellen Aufstellung solcher und anderer Möbel im Raumbezug eingeführt. Der systematisch und sorgfältig gestaltete Anhang geht auf die o. g. thematisierten Möbel in Wort und Bild mit den interessierenden Daten übersichtlich ein. Ein alphabetisches Autorenverzeichnis der zitierten Literatur und eine Liste der Abbildungsnachweise schließen das in bester Materialqualität vorliegende, in der Handhabung etwas rigide Buch ab. Ein Stichwortverzeichnis und ein Lesebändchen wären hilfreiche Instrumente gewesen. Man lernt anhand seiner Sammlungsschränke einen sehr pragmatischen Goethe kennen. Er ist hier nicht vordergründig der Literat und offenbart z. B. ein ausgeprägtes Nachlassbewusstsein. Anrührend das postum fertiggestellte Gemälde auf Seite 6: Der gealterte Dichterfürst diktiert seinem Sekretär John in die Feder. Beide sind drinnen in wärmende Mäntel gekleidet. Es war wohl frisch in den Räumen des Wohnhauses am Frauenplan. Den Möbeln wird es nicht geschadet haben.

F.T.A. Erle, Magdeburg
Dezember