Cover: Verlag
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Hrsg. v. Dr. Mieste Hotopp-Riecke für das ICATAT*

Mehmed Ali Pascha – geboren 1827 in Magdeburg als Ludwig Carl Friedrich Detroit in ärmlichen Verhältnissen einer Hugenottenfamilie und gefallen als hochrangiger Militär des Osmanischen Reiches 1878 auf dem Balkan. Sein Grab befindet sich im Kosovo, nach dem Tod durch aufständische Freiheitskämpfer. Er hinterließ eine große Familie, aus der u. a. in direkter Linie der bekannte türkische Nationaldichter Nasim Hikmet (1902-1962) hervorging. Als halbwüchsiger Waise riss der junge Detroit elbabwärts nach Hamburg aus, heuerte als Schiffsjunge auf einem Lastensegler an und gelangte so über London nach Konstantinopel. Dort entzog er sich der Ausbeutung auf dem Schiff, desertierte und konvertierte zum Islam. Er fand das Wohlwollen eines hohen osmanischen Regierungsbeamten, nicht zuletzt wegen seiner Sprachkenntnisse. So wurde ihm eine Ausbildung beim Militär und eine steile Karriere zuteil. Er stieg zum Armeegeneral und zeitweisen Generalstabschef auf. Seine Fronterfolge waren jedoch von bescheidener Art. Bei den Gebietsverhandlungen nach der Niederlage der Türken gegen die Russen war er Verhandlungsmitglied der Delegation der Hohen Pforte und traf bei der Gelegenheit auf dem Berliner Kongress 1878 auf den mächtigen Reichskanzler Bismarck, der ihn abschätzig als den „Magdeburger“ bezeichnete und für die Verhandlungen als eine Zumutung empfand. Des Paschas letzter militärischer Auftrag im gleichen Jahr auf dem Balkan kostete ihm das Leben.

Diese Geschichte (Kap. 1) liest sich wie der Klappentext eines Abenteuerromans, allerdings auf der Grundlage historischer Quellen geschrieben. Sie eignet sich ausgezeichnet als Aufhänger für das Anliegen der Autoren, nämlich den Nachweis zu führen, dass es in Mitteldeutschland schon seit langer Zeit gegenseitige Berührungen mit dem Orient gab und die Kultur dieser Region um Magdeburg und Halle, die Börde und die Altmark kein reines Eigengewächs der bodenständigen Bevölkerung war.

Die 45 Kapitel des Buches sind in vier Themenkreise gegliedert. Bei den Kreuzwegen tauchen überwiegend Namen von prominenten bzw. verdienten Persönlichkeiten mit regionalem und orientalischem Bezug auf. Genannt seien z. B. Prinzessin Theophanu, Johann von Lossow, Friedrich Aly, Heinrich v. Diez, Imam Herbert Hobohm aus Hötensleben, Bruno Taut. Unter der Überschrift Befruchtungen findet man u. a. die orientalischen Inspirationen am und im Magdeburger Dom, z. B. die vielen Darstellungen des heiligen schwarzen Patrons Mauritius und den sog. Tatarenturm an der Ostseite der Kathedrale. Auch der Leibmameluk Napoleons, Rüstem Rasa, wird in diesem Buchteil gewürdigt. Unter Sagen und Legenden werden die Zweifrauenehe des Kreuzritters Ulrich von Jagow aus Aulosen, der Kaffee als Türkentrank oder Wein des Islam und vor allem die Orts-, Flur- und Straßennamen sowie die Lokalisation von Gräbern und Gedenksteinen in der Region angeführt, soweit sie tatarischen Hintergrund zu haben scheinen. Mit einigem Erstaunen stellt man dabei fest, dass die heutigen Sinti und Roma schon einmal einen Bezeichnungswandel durchgemacht haben. Sie wurden vor Jahrhunderten von der hiesigen Wohnbevölkerung Tatern und später Zigeuner genannt, wohl wegen ihres exotischen Erscheinungsbildes und einer scheinbaren Ähnlichkeit mit den in Heerzügen auftauchenden islamischen Söldnern aus den Turkvölkern des Ostens. Unter der Kategorie Neue Vielfalt Sachsen-Anhalt gehen die Autoren, Künstler und Übersetzer (m/w/d) auf ihre Motivation zur Erstellung dieses Buches ein, u. a. auf das Knüpfen von Verbindungen und die Pflege von Beziehungen zwischen Sachsen-Anhalt und der Russischen Teilrepublik Tatarstan mit ihrer Hauptstadt Kasan. In ihr lebt heute der größte Teil der sog. Wolgatataren. Es konnten unter maßgeblicher Mitarbeit der Autoren lebendige kulturelle und wissenschaftliche Kontakte und Hochschulpartnerschaften entwickelt werden. Beiläufig wird auch der lange Weg des in Europa so gut angenommenen Kiosk aus dem alten Turkestan bzw. der Mongolei bis in die Entwürfe Bruno Tauts nachgezeichnet. Das letzte Kapitel das Buches (45) lautet: Radiowellen von Halle nach Tschalle!

Das Buch ist von Materialqualität, Bildausstattung und grafischem Design her wunderbar gestaltet, von bunter Vielfalt mit seinen zahlreichen dekorativen Schmuckelementen, Porträts und Historienbildern und den eigens für diesen Zweck künstlerisch geschaffenen Werken. Hat man es einmal aufgeschlagen, kommt man ins Blättern. Hervorzuheben sind die nach jedem Kapitel über zwei volle Buchseiten in vier Spalten eingeschobenen Abstrakte des vorausgegangenen Inhalts auf Englisch, Arabisch, Russisch und Türkisch. Der Lesbarkeit halber hätten die Haupttexte etwas mehr optischen Kontrast vertragen. Und beim Vergleich der zahlreichen, jedoch nicht nummerierten Abbildungen im laufenden Text mit dem angefügten Bildverzeichnis kommt man ins Schwitzen.

Wichtig ist: Das auch äußerlich ansprechende Buch öffnet einen Blick zurück nach vorn und dürfte dem Anliegen seiner Macher vollauf entsprechen. Es kann als Lektüre empfohlen werden, z. B. in tausend und einer schlaflosen Nacht!

(*ICATAT: Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien)


F.T.A. Erle, Magdeburg (Juli 2021)