Rowohlt Verlag Berlin 2021, ISBN 978-3-7371-0102-8, aus dem Englischen von Hainer Kober, gebunden mit Schutzumschlag/Oktavformat, 510 Seiten, 39 Abbildungen, 26,- €

„Die längste Geschichte. Wie die Menschen andere Arten geliebt, gehasst und missverstanden haben.“ So lautet der übersetzte Titel der englischen Ausgabe dieses bemerkenswerten Buches des Biologen Richard Girling. In vier Teilen (Jäger, Bauern und Krieger/Künstler und Denker/Ritter und Schlächter/Fälscher, Fabrikanten und Forscher) und 27 Kapiteln bietet es naturwissenschaftlich interessierten Lesern einen spannenden Stoff.

Die Bekanntschaft mit Tieren sei für den Menschen so alt wie die mit seinesgleichen. Schließlich hätten sie einen gemeinsamen Ursprung am Baum des Lebens, so der schreibgewandte Brite. Sie seien dann in der Schöpfung, wie man die Evolution auch nennen könnte, eigene Wege gegangen. Die Trennung setzte beim Menschen mit der Entwicklung eines Gehirns mit Potenz zu Deutung und Schlussfolgerung ein. Steine wurden zu Werkzeugen, Beute zu Vieh, Zähmung zur Macht. Tiere – zur Rede stehen hier fast ausschließlich Wirbeltiere – wurden zu planbarer Nahrung, zu helfenden Sklaven, zu Weiheopfern, Göttern, Waffen, Spielzeug, Prestigeobjekten und Rohstofflieferanten. So sollen z. B. zur Gewinnung des nötigen Pergaments für den Druck der ersten dreißig Bibeln 5950 Kälber geschlachtet worden sein.

Haben Tiere eine unsterbliche Seele? Treffen Jäger und Metzger auf ihre Opfer in einer anderen Welt? Heißt es doch in der Bibel: Macht euch die Erde untertan, andererseits aber auch: Du sollst nicht töten. Gilt für Menschen, was für Tiere nicht zutreffen soll? Schließlich töten und fressen viele von denen Artgenossen bzw. Verwandte!

Richard Girling schöpft aus dem Vollen seines ungeheuer reichen, natur- und kulturhistorischen Wissens. Es sind u. a. die eingestreuten anekdotischen Geschichten, die den Leser im umfangreichen Text halten, z. B., dass nur der Mensch Po-Backen besitze, dass Pythagoras Fleisch und Wein ablehnte und dass die Sexualität mit Tieren in der Antike zu Teilen den Segen der Götter gehabt haben soll. Sklaven als Viehhüter? Da passte nach Ansicht der antiken Römer nur ein Tier auf das andere auf.

Einen erheblichen Anteil seiner Ausführungen nehmen Tiere im Dienst der Wissenschaft einst und heute ein, etwa in Form der Vivisektionen von der frühen Anatomie bis in die späte Aufklärung. Tierversuche seien Höllenlöcher, von Monstern betrieben! Mitunter wurden auch lebende Strafgefangene als Untersuchungsobjekte benutzt, mit oder ohne Gegenleistung, und bis ins 20. Jahrhundert. Irgendwann, in England Anfang des 19. Jahrhunderts, meldete sich das Gewissen. Der organisierte Tierschutz begann sich zu formieren angesichts der schlechten Behandlung von Nutztieren auf der Straße und der Berichte über die blutrauschende Minimierung der Bisonherden in der Neuen Welt. Eine der Folgen solcher Bestrebungen war die Einrichtung von Tierschauen und Zoos. Ihre exotische Bestückung durch den Tierfang in Afrika und Asien war von hohen Verlusten gekennzeichnet. Der Transport über Kontinente und Meere, auf Schiffen, in Waggons und zu Fuß unter dem Mangel jeglicher artgerechten Haltung und Ernährung sowie eine anschließende Unterbringung in engsten Räumen hinterließen eine Spur von Kadavern, wenn es dann auch bei Hagenbeck in Hamburg etwas bürgerlicher zuging. Dafür wurde dort später das Repertoire durch die beliebten Völkerschauen erweitert, der Darstellung von Fremdländern, z. B. Lappenfamilien mit ihren Rentieren.

Das Jagen nimmt im Buch an mehreren Stellen viel Raum ein. Die höfische Jagd entartete in die pure Lust zum Töten („Jagd ohne Töten ist wie Vögeln ohne Orgasmus“/Montaigne S. 110). Die Großtierjagd war (ist?) höchster Beweis von Potenz. Winston Churchill soll sich auf einem „Jagdausflug“ einmal quer durch Kenia geschossen haben. US-Präsident Theodor (Teddy) Roosevelt verschonte nach zahlreichen Abschüssen abends einen jungen Bären vor der Kugel. Die Tat hat ihr Denkmal bekommen – den Teddybären. Heute greifen hochkriminelle Wilderer sogar zu Granatwerfern und Kalaschnikows, um einen ganz speziellen Markt mit Elfenbein oder angeblich aphrodisischem Horn zu beliefern. Richard Girling widmet ein ganzes Kapitel den „Helden auf vier Beinen“. Kein Krieg von der Antike bis in den 2. Weltkrieg wurde ohne Pferde gewonnen. Sie krepierten zu Millionen. Hitlers Schäferhund erlitt den „Heldentod“ übrigens im Berliner Bunker.

Im letzten und aktuellsten Buchteil geht es um unseren heutigen Umgang mit Tieren in der Massenhaltung, Proteingemüse in Käfigen, weitgehend im Verborgenen gezogen und verarbeitet. Ein Hähnchen habe über dem Bratrost auf der Grillstange mehr Platz als in seinem Vorleben in der Aufzucht, vermerkt Girling sarkastisch. Auch hier regelt und entscheidet der Gott, der Markt heißt.

Der Autor schreibt den umfangreichen Buchtext in einem lockeren Erzählstil, geprägt von britisch schwärzlichem Humor. Sein Credo: Es gibt keine Grenze zwischen den Arten, also zwischen Mensch und Tier. Der Umgang mit den nahen Verwandten sei des Überdenkens würdig. Humaner Exzeptionalismus verbiete sich. Dass sich Wildschweine, Dachse, Füchse und andere Wildtiere zunehmend in Großstädten einrichteten, liege am gegebenen Schutz durch urbane Biotope. Man kommt bei der Lektüre ins Grübeln angesichts der sich auftuenden Zwiespälte und Widersprüche. Man muss sich ja nicht gleich mit den radikalen Ansichten des Autors in seinem offensichtlichen Lebenswerk voll identifizieren, wenn die nächste Mahlzeit noch schmecken soll.

Ein dezidierter Literaturnachweis, das ausgiebige Begriffs- und Namensregister und der gewissenhafte Bildnachweis kennzeichnen den Autor als ernstzunehmenden Wissenschaftler. Ein lesenswert bleibendes Buch zum angemessenen Preis!

F.T.A. Erle, Magdeburg (November 2021)

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