im Ärzteblatt Sachsen-Anhalt, Heft 11/2021, S. 18f
Leserbrief von Dr. med. Ilja Karl
Im Beitrag werden Konsensusbemühungen der Kardiologen und Herzchirurgen auf Landesebene zu Fragen der Herzinsuffizienzbehandlung sowie zur LDL-Cholesterinsenkung beschrieben. Aus hausärztlicher Sicht sind hier drei Punkte zu diskutieren:
- Eine Titrations-Strategie (treat to target) wird als „neue Standardtherapie in Sachsen-Anhalt“ dargestellt. Dies mag für Kardiologen und Herzchirurgen so sein. Für den hausärztlichen Bereich maßgeblich ist die Empfehlung der Nationalen Versorgungsleitlinie Chronische KHK [1]. Dort wir unter Punkt 7.2.1 eine Fix-Dosis-Strategie empfohlen. Bei fehlender vergleichender Evidenz der möglichen Strategien (Fixdosis vs. Titration auf Zielwert) ist die Fixdosis-Variante für alle Beteiligten besser praktikabel.
- Folgte man der im Artikel genannten Empfehlung, wäre Rosuvastatin ein Erst-Linien-Präparat. Die Evidenz für dieses Postulat wäre interessant.
- Die Empfehlung zu Ezetimib wird zwar an verschiedenen Stellen, so auch bei der ESC, gegeben, wird dadurch aber nicht besser belegt. In der IMPROVE-IT Studie konnte die zusätzliche Gabe von Ezetimib zu Simvastatin das LDL zwar stärker senken als Simvastatin allein [2]. Die Gesamtsterblichkeit blieb davon unberührt. In der Studie, deren Protokoll mehrfach geändert wurde, konnte der kombinierte Endpunkt nach 7 Jahren um 2 % reduziert werden. Betrachtet man einzelne Endpunkte, so müssen über 7 Jahre 167 Patienten zusätzlich mit Ezetimib behandelt werden, um einen Schlaganfall zu verhindern sowie im selben Zeitraum 59 Patienten, um einen Infarkt zu verhindern, zumeist einen nicht-tödlichen. (Zum Vergleich: Ticagrelor (BRILIQUE®) wurde eingeführt, nachdem die PLATO-Studie eine Reduktion der Gesamtsterblichkeit von 1,4 %/Jahr zeigte. Damit wird bei 72 behandelten Patienten im Jahr 1 Leben gerettet).
Interessant für die Beurteilung der IMPROVE-IT-Daten ist der Beitrag von Deloughery und Prasad aus dem Jahre 2018. In diesem Beitrag wird die Entscheidung der FDA untersucht, der Kombination Simvastatin/Ezetimib eine erweiterte Marktzulassung nicht zu erteilen [3].
Für den hausärztlichen Versorgungsbereich ist der geschilderte Konsens entbehrlich. Aus dem Imperativ „als neue Standardtherapie in Sachsen-Anhalt anzuwenden“ erwächst keinerlei Handlungsverpflichtung. Es gilt weiterhin „fire & forget“ als Fix-Dosis-Strategie, Ezetimib allenfalls im Ausnahmefall und primär die Verordnung von Simvastatin und Atorvastatin.
Dr. med. Ilja Karl
Facharzt für Allgemeinmedizin
Literatur:
[1] Nationale Versorgungsleitlinie „Chronische KHK“ https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-004l_S3_KHK_2019-04.pdf, zuletzt besucht 07.11.2021
[2] Cannon CP et al. Ezetimibe added to statin therapy after acute coronary syndromes. N Engl J Med 2015; 372:2387-2397 DOI: 10.1056/NEJMoa1410489
[3] Deloughery EP, Prasad V. If the IMPROVE-IT Trial Was Positive, as Reported, Why Did the FDA Denied Expanded Approval for Ezetimibe and Simvastatin? An Explanation of the Tipping Point Analysis. J Gen Intern Med. 2018 Aug;33(8):1213-1214. doi: 10.1007/s11606-018-4498-3.
Leserbrief von Andreas Gänsicke
Verbindlich?
Im Rahmen der 5. Mitteldeutschen Herztage erfolgte eine Fragebogenaktion u. a. zum Algorithmus lipidsenkender Therapie bei manifester Arteriosklerose – von ca. 200 angefragten kardiologisch tätigen Kollegen gab es eine Rücklaufquote von 36,5 %. Dabei gelang es, einen breiten Konsens zu erzielen in Übereinstimmung mit der aktuellen Lipidleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK). 94,5 % der Befragten stimmten zu. Die wissenschaftliche Leitung der Veranstaltung erklärte im Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 11/2021, dass „dieses Schema als neue Standardtherapie in Sachsen-Anhalt anzuwenden ist“. Bei Statin-Intoleranz wird ein entsprechend abgewandeltes Schema mit einer Zustimmung von 84,9 % „als verbindlich … in Sachsen-Anhalt“ erklärt.
Da ich mit diesen Vorgaben sowie deren Verbindlichkeitsstatus nicht einverstanden bin, muss ich mir die Mühe machen, hierzu einen Leserbrief zu schreiben. Ich gehöre zu den wenigen Kollegen, die den vorgeschlagenen Schemata nicht zugestimmt haben und lasse mich nicht verpflichten, diese als verbindlich anzusehen.
Verbindlich sind für Vertragsärzte jedoch die Regelungen aus dem fünften Sozialgesetzbuch, dort z. B. das Wirtschaftlichkeitsgebot §12, welches uns zur effizienten Erbringung unserer Leistungen verpflichtet.
Zur Leitlinie Management of Dyslipidaemias der European Society of Cardiology (ESC) von 2019: In einem Kommentar stellt das Transparenzportal Leitlinienwatch fest, dass 20 der 21 Leitlinienautoren finanzielle Interessenkonflikte deklarieren, darunter 14 mit Herstellern von PCSK9-Hemmern. Alle drei Koordinatoren geben finanzielle Interessenkonflikte an. Eine externe Beratung der Leitlinie durch die Fachöffentlichkeit fand nicht statt. Leitlinienwatch empfahl der ESC, die Lipidleitlinie zurückzunehmen, „da sie die wichtigsten Kriterien einer medizinischen Behandlungsleitlinie verfehlt: klare Orientierung auf den Patientennutzen auf der Grundlage von Ergebnissen randomisierter Studien sowie Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen“. Allerdings werden Zweifel erhoben, ob eine Organisation, die 75 % ihrer Einnahmen (54 von 72 Mill. Euro in 2018) von der Industrie erhält dazu geeignet ist, unabhängige Leitlinien zu erstellen.
Die DGK hat die ESC-Leitlinie 1:1 übernommen und den deutschen Kardiologen als Standard für die Behandlung von Millionen Patienten empfohlen. Nun haben wir nochmals eine entsprechende bestätigende und gar verpflichtende Empfehlung der wissenschaftlichen Leitung der Mitteldeutschen Herztage für Sachsen-Anhalt erhalten.
Welche Evidenz ergibt sich aus den vorliegenden randomisierten Studien?
Hierzu möchte ich aus dem arznei-telegramm 2018, Nr. 6, S. 52 zitieren: „Eine Metaanalyse von 34 randomisierten Studien mit Statinen, Ezetimib oder PCSK9-Inhibitoren findet zwar eine signifikante Reduktion der Gesamt- und kardiovaskulären Mortalität“, es „zeigen sich jedoch hochsignifikante Interaktionen mit den Ausgangs-LDL-Werten“. Und weiter: „Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass im Widerspruch zu Schlüssen der CCT-Autoren kein linearer Zusammenhang zwischen LDL-Senkung und Reduktion der Gesamt- und kardiovaskulären Mortalität besteht, sondern ein kurvi- oder log-linearer mit der Folge, dass gleiche LDL-Senkungen bei niedrigeren Ausgangswerten geringere Effekte und bei Werten unter 100mg/dl keine Mortalitätsreduktion mehr zeigen.“ Dies steht gut im Einklang mit „der IMPROVE-IT-Studie mit Ezetimib und der FOURIER-Studie mit Evolocumab, die bei Reduktion der LDL-Werte von 70 mg/dl auf 53 mg/dl bzw. von 92 mg/dl auf 30 mg/dl keinerlei Effekt auf gesamt- oder kardiovaskuläre Mortalität erkennen lassen“. Und: „Forderungen und Leitlinienempfehlungen, die LDL-Werte bei Patienten mit sehr hohem Gefäßrisiko auf Werte unter 70 mg/dl zu senken, müssen als Marktbereitung für PCSK9-Hemmer gewertet werden“. Der Slogan „The lower – the better“ erweist sich somit als irreführend. Auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) konnte keinen Zusatznutzen der PCSK9-Hemmer erkennen. Aus gutem Grund haben sich die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) diesen Leitlinienempfehlungen nicht angeschlossen, sondern plädieren für eine Strategie der festen Dosis, dargestellt z. B. in der Nationalen Versorgungsleitlinie Chronische KHK.
Zum Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V: Was wissen wir über die Kosten-Nutzen-Verhältnisse von Ezetimib und PCSK9-Hemmern? Mit Ezetimib in der IMPROVE-IT-Studie bzw. Evolocumab in der FOURIER-Studie konnten lediglich nichttödliche Herzinfarkte verhindert werden. Die Verhinderung eines Infarktes mit Ezetimib kostete beim Einführungspreis von Ezetrol 275.000 Euro (eigene Berechnung). Die Verhinderung eines Infarktes mit Repatha kostet nach einer Berechnung des arznei-telegramms etwa 2 Millionen Euro. Von Bempedoinsäure und Inclisiran kennen wir lediglich die Kosten, jedoch wegen fehlenden Endpunktstudien nicht deren jeweiligen Nutzen, da Surrogatparameter nach den bisherigen Ausführungen zur Nutzenbeurteilung unzulänglich sind.
Nach einer Schätzung der WHO kann das deutsche Gesundheitssystem derzeit ca. 150.000 Euro für die Verhinderung eines vorzeitigen Todesfalles bereitstellen. Daraus und aus den jeweiligen Studiendaten ergäben sich Ansätze zu Preisverhandlungen für pharmazeutische Innovationen. Die bei den Mitteldeutschen Herztagen empfohlenen Schemata zur Lipidtherapie hätten bei Anwendung eine hochgradig ineffiziente Behandlung zur Folge, was unter dem Blickwinkel des SGB V einer Veruntreuung von Versicherten- sowie Steuergeldern entspräche.
Als in Sachsen-Anhalt kardiologisch tätiger Internist kann ich nicht nachvollziehen, warum die zum Standard (und als verbindlich) vorgegebenen Behandlungsstrategien, die mit Interessenskonflikten behaftet entstanden und fachlich fragwürdig sind, für mich verbindlich sein sollen, nur weil eine Mehrheit sie befürwortet. Vielmehr fühle ich mich dem SGB V verpflichtet, zu dem die vorgebliche Standardtherapie m. E. im Widerspruch steht.
Andreas Gänsicke
Facharzt für Innere Medizin, Wittenberg
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