Erika Fatland - eine Reise rund um RusslandErika Fatland: Eine Reise rund um Russland  

Aus dem Norwegischen v. U. Sonnenberg, Suhrkamp Taschenbuchverlag, Berlin 2020,
ISBN 978-3-518-46974-3, Klappenbroschur, 21 x 13 x 4 cm, deutsche Erstausgabe,
farbfotogr. illustriert, s.-w. Routenskizzen, 624 Seiten, € 20,-

„Von Russland dem Großen, auf ewig verbündet…“, klingt es noch aus der Erinnerung an die Hymne der Sowjetunion von 1944. Das Ewige daran hat sich überwiegend erledigt, die Verbündung hoffentlich auch.

Größe hat halt seine Stärke und Schwäche, stellt die Autorin fest und kann es beeindruckt bei der Umrundung dieses Riesenreiches wahrnehmen. Die Länge der heutigen Grenze Russlands ist mit mehr als 60 000 km ein Anderthalbfaches der des Äquators.

Die norwegische Sozialanthropologin Erika Fatland wollte es wissen. Ihre universitäre Ausbildung und ihre vielfältigen Sprachkenntnisse, u. a. a. Russisch, ließen sie das Abenteuer der Inaugenscheinnahme des immer noch größten Landes der Welt aus der Sicht der Nachbarn angehen. Es war absehbar keine Luxusreise, sei vorweg bemerkt. Immerhin grenzen 14 Länder an Russland. Seine Einwohnerzahl war infolge Glasnost und Perestroika um mehr als die Hälfte, um einst dem Imperium einverleibte Nachbarn gemindert worden, die nicht mehr dazu gehören wollten. Jedoch leben heute noch ca. 200 verschiedene Völker und Ethnien in der Russischen Föderation.

Zar Peter I. schickte Vitus Behring 1725 in den Fernen Osten, um die Grenzen seines Reiches dort kartografieren zu lassen. Eine 2. Expedition, die mit 34 Milliarden Rubel heutigen Geldwertes die teuerste aller Zeiten werden sollte, brauchte 5 Jahre Anfahrtszeit von St. Petersburg bis Ochotsk. Für Behring war es seine letzte Fahrt. Erika F. erzählt das anlässlich ihrer 10 000-km-Reise auf der schwierigen Nordost-Passage als Passagierin auf einem alten ausgedienten arktischen Forschungsschiff. Die Seefahrt dauerte vier Wochen. Sie erzählt von Kosaken und anderen Abenteurern, die die Weite des Reiches bis nach Alaska durch Steuereinzug in Form von Tierfellen bei den Indigenen markierten. Sie schildert auch den heutigen Zustand der Küste mit unübersehbaren Hinterlassenschaften einer Besiedlung bzw. militärischen Nutzung jüngeren Datums.

Die folgenden Grenzerkundungen führte die Schriftstellerin in die asiatischen Nachbarländer Russlands, zuerst in das gespenstische Nordkorea mit seinem säkular-religionsartigen Überkult um die gottkönigliche Familie Kim. Erika F. ist dort in einer auf Schritt und Tritt überwachten Touristengruppe unterwegs und wird in einem atemlos dicht bepackten Programm durch die Kulissen der Erbdiktatur geschleust. Bei der Ausreise werden ihr von den Wächtern viele Fotos gelöscht, bevor sie den Norden Chinas erreicht. Letzterer war früher der äußerste östliche Punkt russischer Expansion nach der Machtübernahme der Romanows als Zaren 1613. Das Imperium wuchs von da an täglich um etwa 100 Quadratkilometer. Der Letzte in der Dynastie, Zar Nikolaus II., überspitzte seine Eroberungsgelüste und verlor die Bodenhaftung und die Kriege und letztlich infolge der Revolution auch sein Leben.

Russland hatte sich zu einem imperialistischen Reich durch Vereinnahmung seiner Nachbarn entwickelt, eine wegen seiner geografischen Lage besondere Form der Kolonialisierung. Die einzige „Überseekolonie“, Alaska, hatte Zar Alexander II. 1867 für einen Freundschaftspreis an die USA verhökert.

Für an Geschichte und Geopolitik interessierte Leser ist dieses Buch eine Freude, eine Fundgrube. Erika Fatland hat ihre Reisen inhaltlich und logistisch gründlich vorbereitet und nach deren Beendigung offensichtlich auch umfassenden Recherchen unterzogen. Auf ihren Etappen in Zügen, mit dem Flieger, zu Pferde, in klapprigen Transportern und überladenen PKWs, in Überlandbussen und auf unzuverlässigen Fähren sucht sie immer den persönlichen Kontakt zu Leuten, die ihr etwas zu erzählen haben über das jeweilige Land und seine Sicht auf Russland. Irgendwie meistert sie das, oft mit fremder Hilfe, wenn ihre Sprachkenntnisse nicht mehr ausreichen. Sie darf aber häufig nicht erkennen lassen, dass sie ein Buch zu schreiben vorhat. Sie bereist die Mongolei und ihre kriegerische Geschichte, in deren Verlauf Russland unter das Tartarenjoch der Goldenen Horde geriet. Stalin seinerseits ließ es sich nicht nehmen, die Exekution von 10 00 mongolischen buddhistischen Mönchen zu befehlen.

Erika Fatland reist dann nach Xinjiang, der größten chinesischen Provinz, das Land der Uiguren und berichtet Erstaunliches zu deren Geschichte, u. a. zu ihren Kämpfen für die Wiedererlangung der früheren politischen Unabhängigkeit als turksprachiges muslimisches Volk. Ausländer sind in diesem Land Fremdkörper. Terroranschläge werden hart bestraft. Von Seide keine Spur auf der Neuen Seidenstraße, die die Region kreuzt.

Weiter geht es dann über das riesige Kasachstan, in dem heute noch ca. 180 000 Bürger deutscher Abstammung leben. Über das Kaspische Meer erreicht sie Aserbaidshan und seine Ölgeschichte (Die Schlacht um Stalingrad war die um Baku!). Sie genießt die berühmte kaukasische Gastfreundschaft in Georgien und reist durch Stalins Paradiese. Sie fährt über das Schwarze Meer nach Europa in die Ukraine, nach Weißrussland, in die baltischen Länder und nach Finnland, nicht ohne ausgiebig auf Besonderheiten der Geschichte im lokalen Bezug zu erinnern. Schließlich kommt sie wieder nach Hause in ihr norwegisches Heimatland, wo sie in der Finnmark die letzten Kilometer zusammen mit ihrem Vater im Kajak auf dem Grenzfluss zu Russland zurücklegt. Dort angekommen, stellt sie fest, dass zwischen dieser Grenze im hohen Norden und der in Nordkorea nur ein Land liegt – Russland.

Es ist ein fesselndes Buch, trotz aller historischen Exkursionen inhaltlich hochaktuell, in der Aufmachung schlicht aber handlich unter matrjoschkabuntem Deckblatt, ausgestattet mit vielen Erlebnis- und Begegnungsfotografien. Zur genussvollen Lektüre der nicht ohne Humor und in plastischer Sprache verfassten Texte sehr zu empfehlen!

F.T.A. Erle, Magdeburg (Januar 2022)

Cover: Verlag