zum Leserbrief von Dr. med. Jens-Olaf Naumann im Ärzteblatt Sachsen-Anhalt
Heft, 1-2/2022, S. 48   

Die Notwendigkeit einer invasiven Präventionsmaßnahme, wie einer Impfung muss sich auch 2000 Jahre nach deren Festlegung an den ethischen Grundregeln der Medizin messen lassen: Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare. So werden Kinder in Deutschland seit 2004 gegen Varizellen geimpft, weil bis zu diesem Zeitpunkt 95 % eines jeden Geburtsjahrgangs an der Primärinfektion durch das Varicella-Zoster-Virus erkrankten und bei 2–5 % der Erkrankten – neben Kindern 5 % Erwachsene – z. T. schwerwiegende Komplikationen wie massive bakterielle Superinfektionen, Enzephalitiden, Zerebellitiden, Gonarthritiden, hämorrhagische Varizellen, nekrotisierende Fasziitiden etc. erlitten und jährlich Todesfälle zu verzeichnen waren. Ziel der Zoster-Impfung ist nicht primär die Vermeidung von Todesfällen durch den Zoster, sondern – neben dessen Verhinderung – die Verhinderung der Post-herpetischen Neuralgie.

Diese ist in Deutschland übrigens eine der Hauptsuizid-Ursachen bei Frauen jenseits des 70. Lebensjahres. Indikation für die Pertussis-Impfung für Erwachsene ist nicht nur der Schutz ungeimpfter junger Säuglinge, der effektiver durch die Impfung Schwangerer zu erreichen ist, sondern auch die Verhinderung von Komplikationen besonders bei pulmologisch vorerkrankten und immunsupprimierten Erwachsenen. Weder bei Kindern noch bei Erwachsenen ist eine Antibiotika-Therapie gegen Bordetella pertussis effektiv, sondern reduziert und dies nur selten bei sehr frühem Beginn geringfügig die Ansteckungsgefahr. Bei allen drei Erkrankungen ist eine erhebliche Krankheitslast zu verzeichnen.

Die Auswirkungen einer SARS-CoV-2-Infektion bei Kindern und Jugendlichen werden in Deutschland in einem COVID-Survey unter Leitung der Universitätskinderklinik Dresden beobachtet und durch die DGPI (Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie) regelmäßig auch online veröffentlicht. In der übergroßen Mehrzahl verläuft COVID-19 bei Kindern inapparent bzw. mit einer moderaten vorwiegend respiratorischen Symptomatik, die auch hinsichtlich von Komplikationen und bleibenden Schäden mit der älterer, vorgeschädigter oder gar ungeimpfter Erwachsener nicht im mindesten vergleichbar ist. So ist während des gesamten Pandemiezeitraums in Deutschland kein gesundes Kind an COVID-19 verstorben. Seit Anfang 2020 sind ca. 3700 SARS-CoV-2-positive Kinder stationär betreut, von diesen jedoch weniger als 20 % wegen COVID-19 behandelt worden. In mehr als 2 Jahren waren eine intensivmedizinische Intervention bei bislang 156 Kindern und Jugendlichen notwendig.

Bisher wurden weniger als 700 Fälle vom PIMS (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) erfasst, mehr als die Hälfte ist ausgeheilt, die Prognose erscheint günstig, Todesfälle sind bislang nicht zu verzeichnen. Über Long-COVID bei Kindern gibt es wenige anekdotische Berichte; allein die definitorische Einordnung ist schwierig. In den wenigen vorliegenden Arbeiten unterschied sich die Seroprävalenz von SARS-CoV-2 bei Kindern mit potentiellen Long-COVID-Symptomen nicht von denen der Kontrollgruppe. Zweifellos sind weiterführende Untersuchungen über Long-COVID bei Kindern sowie PIMS notwendig. An mehreren universitären Kinderkliniken laufen inzwischen Studien in Spezialsprechstunden.

In einer Vielzahl nationaler und internationaler Arbeiten ist belegt, dass keineswegs Kinder für wesentliche Viruseinträge in die Gruppe vulnerabler Erwachsenen verantwortlich sind, sondern genau das Gegenteil der Fall ist. Die Verantwortung für SARS-CoV-2 bedingte Todesfälle ungeimpften Kindern zuzuschieben, ist unzutreffend, unseriös und verkennt die epidemiologische Rolle ungeimpfter insbesondere älterer Erwachsener. Die Notwendigkeit einer zweifelsfrei wirksamen Impfung muss sich gerade bei immunologisch unreifen Kindern an der Krankheitslast, i.e.S. an den Parametern Hospitalisierung (Komplikationen) und Todesfälle bemessen lassen. Diese ist bei Erwachsenen in Abhängigkeit vom Lebensalter hoch, korreliert mit verschiedenen Risiken und rechtfertigt eine Impfung unbedingt.

In Deutschland empfiehlt die STIKO die COVID-Impfung für 5-11-jährige Kinder mit bestimmten Risiken für schwere Krankheitsverläufe und bei Kontakt zu erwachsenen Kontaktpersonen mit hohem Krankheitsrisiko, nicht aber für gesunde Kinder dieser Alterskohorte. In der aktuellen Empfehlung ist eine Öffnungsklausel implementiert, die die Impfung auch der gesunden Kinder zwischen 5 und 11 Jahren ermöglicht. Dabei erfolgt die Impfung auf den schriftlich erklärten Wunsch der Eltern und ohne Notwendigkeit einer ärztlichen Empfehlung. Für den Fall koinzidenter unmittelbarer oder mittelbarer schwerer Nebenwirkungen mit bleibenden Folgen greift eine Staatshaftung. Die Gründe für die fehlende Empfehlung sind in der wissenschaftlichen Erklärung der STIKO dargelegt und umfassen neben dem Fehlen einer relevanten Krankheitslast u. a. das Fehlen valider Daten über mögliche seltene bzw. verzögert beobachtbare Begleiterscheinungen des in einer Probandengruppe von ca. 1000 Kindern über einen Zeitraum von ca. einem Monat Phase-III-getesteten und auf dieser Grundlage durch die EMA für die genannte Altersgruppe bedingt zugelassenen Impfstoffs. Die bedingte Zulassung eines Medikamentes durch die EMA ist nicht gleichzusetzen mit der wissenschaftlichen Belegbarkeit dessen Einsatzes.

Einerseits geht die aktuell prädominante Omikron-Variante von SARS-CoV-2 mit einer höheren Kontagiosität bei reduzierter Morbidität einher, andererseits schützt die Impfung noch weniger als bei der Delta-Variante vor Infektion und Virustransmission. Die erhebliche Ausbreitung der Omikron-Variante geht mit steigenden Nachweisraten auch bei ungeimpften und bisher nicht infizierten Kindern einher, offensichtlich indes nicht mit einem Anstieg klinisch relevanter Krankheitsfälle. Der impfbedingte Vorteil für Erwachsene – die deutliche Reduktion von Morbidität und Mortalität – ist in der Alterskohorte junger Kinder mangels Krankheitslast kaum relevant. Mathematischen Modellierungen der STIKO zufolge würde eine Impfung der 5-11jährigen Kinder anders als die der bislang ungeimpften Senioren den Verlauf der aktuellem Pandemiewelle kaum beeinflussen.

Im Zusammenhang mit dem Fehlen valider Daten über seltenere (> 1:1000) oder längerfristige Impfstoffnebenwirkungen (> 1 Monat) sei an einen der ebenfalls bedingt zugelassenen Impfstoffe der Influenza-H1N1-Pandemie erinnert. Diesem Impfstoff wurde die Zulassung entzogen, nachdem nach mehr als 2 Jahren valide Daten über einen Zusammenhang mit der Auslösung der Narkolepsie bei Kindern und Jugendlichen belegbar waren.

Primum nil nocere, secundum cavere: Momentan ist eine undifferenzierte Forderung der Impfung junger gesunder Kinder mangels Krankheitslast, aber auch des Fehlens valider Daten wissenschaftlich nicht begründbar. Selbstbestimmten Eltern ist es überlassen, ihre Kinder dennoch impfen zu lassen.

Ein abschließendes Wort zur STIKO: Anders als das RKI im Weisungsbereich des BMG ist die STIKO ein Gremium ehrenamtlich tätiger unabhängiger Experten, welches ganz sicher zeitnah stärkere personelle und materielle Unterstützung verdient und bekommen wird. STIKO-Bashing mag en vogue sein, ist aber unangebracht und unkollegial. Anders als durch GMK, MPK etc. ergehen die Empfehlungen der STIKO auch und gerade in der aktuellen komplexen und dynamischen Gemengelage auf der Basis umfangreicher wissenschaftlicher Recherchen und nicht am ärztlichen Sachverstand vorbei. Davor ziehe ich den Hut.

Dr. med. Gunther Gosch