Maik Reichel
Die Lebensgeschichte der Anastasia Gulej
Verlag Janos Stekovics, Wettin-Löbejün 2022, ISBN 9783899234398,
Hardcover mit Schutzumschlag, 15 x 21,7 cm, reichlich fotografisch illustriert, 334 Seiten, 25,00 €
Wie Proklamationen stehen die Namen der fünf Orte im Buchtitel. Sie markieren die z. T. schmerzlichen Erinnerungen der Anastasia Gulej. Das Buch beschreibt die Beziehungen zwischen den o. g. Ortsnamen und der Biografie der alten Dame. Es erzählt die Lebensgeschichte der heute fast 97-jährigen Ukrainerin mit der am linken Unterarm eintätowierten Zahl 61369, die zeitweise ihre einzige Identität sein durfte.
Der Herausgeber und Mitautor Maik Reichel wurde 2014 auf einer Veranstaltung im Rahmen des Netzwerkes „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in Mücheln (Geiseltal) auf Anastasia Gulej aufmerksam. Sie hatte den ehrenvollen Auftrag zur Patenschaft für dieses Projekt angenommen und die lange Anreise nicht gescheut. Von da ab entwickelte sich eine zunehmend freundschaftliche Beziehung zwischen der bejahrten Aktivistin und dem Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt. Er stellte bald fest, dass durch sie wichtiges Zeitzeugenwissen erfahren und gesichert werden konnte. Er konnte Anastasia Gulej dazu bewegen, zur Abfassung dieses Buches die wesentliche Substanz beizutragen.
Sie erzählt von ihrer Kindheit während des roten Hungers (Holodomor) und des stalinistischen Terrors in der Ukraine zwischen Revolution und 2. Weltkrieg, beides Zeiten großer Not für Leib und Leben. Und trotzdem erinnert sie sich an eine romantisch verlebte Kindheit auf dem Lande in der Nähe der geschichtsträchtigen regionalen Metropole Poltawa im Südosten der Ukraine. Dabei ist der Hunger so mächtig und der staatliche Druck auf die Bauern so gewaltig, dass sogar krepierende Pferde ausgeschlachtet wurden und die paar persönlichen Habseligkeiten zu Kartoffeln gemacht werden mussten. Denunziationen und Exekutionen sind an der Tagesordnung. Mitbürger verschwinden einfach aus der Gesellschaft. Die Angst regiert.
Dann kommen der Krieg und die Deutschen mit ihrem schlimmen Besatzungsregime. Es herrscht Weltuntergangsstimmung. Nach einigen erfolglosen Kampagnen der neuen Herrscher zur Rekrutierung freiwilliger Ostarbeiter für das Reich folgt die Phase der Zwangserfassung arbeitsfähiger Leute mithilfe örtlicher Kollaborateure. Künf-tig sollten Stacheldraht, Viehwagen und Gefängnisse die Welt der jungen Frau sein. Nach mehreren Fluchtversuchen wird Anastasia im August 1943 in das KZ Auschwitz-Birkenau verfrachtet, dort auch tätowiert. Nur in Auschwitz wurde tätowiert! Wer nicht so gekennzeichnet wurde, ging direkt in die Gaskammer, alle anderen später. Ihre Bestimmung war schwere körperliche Arbeit nebenan in Budy im Landwirtschaftskommando, im Blick immer die Selektionen und Tötungen Mitgefangener. Aus der sog. Krankenbaracke kam niemand lebend heraus. Den Acker düngten die Arbeitssklavinnen mit eingesackter Menschenasche aus den Krematorien.
Im eiskalten Winter 1944/1945 geht es auf den Todesmarsch, teilweise in vollgeschneiten offenen Waggons der Reichsbahn. Ein Zwischenhalt ist das KZ Buchenwald. Die Endstation der fürchterlichen Fahrt heißt Bergen-Belsen in der niedersächsischen Heide, die auch hätte Hölle heißen können, in das total mit Lebenden und Toten überfüllte Lager der Vernichtung. Lethargie und Tod waren die vorherrschenden Daseinsformen. Am 15. April 1945 kommt die Errettung durch britische Truppen. Ohne Freude, Trauer oder Schmerz nehmen es die Gefangenen wahr. Noch Tausende sterben nach ihrer Befreiung vor Ort.
Anastasia jedoch kann sich auf den abenteuerlichen Weg nach Hause machen, mit Zwischenaufenthalt und Anstellung bei der Sowjetischen Roten Besatzungsarmee. In der Heimat angekommen, begegnet ihr Misstrauen wegen des Verdachts auf Kollaboration mit den Deutschen. Es ist ratsam, über die schwere Zeit unter den Nazis zu schweigen. Aber sie ist eine Kämpferin, beendet ihre Oberschule und studiert Forstwirtschaft in Kyjiw. Den Beruf als Försterin übt sie nach gelenktem Einsatz in den Wäldern Moldawiens aus. Sie verlebt dort glückliche Jahre mit Ehemann und Kindern. Später folgt sie Ihrem Mann nach Kyjiw, wo sie unter den Bedingungen des kommunistischen Staates und seiner Wirtschaft ohne Genehmigung auf verbotenem Gelände ein Haus baut und verschiedene Berufe leitend ausübt. Im Alter von 60 Jahren geht sie 1985 in die Rente. Nach dem Zerfall der Sowjetunion widmet sie sich ganz der aktiven Verbandstätigkeit der ehemaligen politischen Häftlinge der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Zudem schreibt sie bereits ihre Erinnerungen nieder. 1995 kommt sie erstmals wieder nach Bergen-Belsen als geladene Zeitzeugin. Der zunehmend kleiner werdenden Gruppe der Überlebenden hilft sie bei der Regelung von finanziellen Zuwendungen der Bundesrepublik. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 flieht sie unter dem Eindruck der Bombardierung aus ihrem Kellerversteck in Kyjiw unter Mithilfe der Landeszentrale in den Süden Sachsen-Anhalts, wo sie z. Zt. noch lebt.
Das inhaltsreiche Buch ist beeindruckend, wenn auch nicht aus einem Guss. Den hauptsächlichen Teil bilden die Schilderungen der Anastasia Gulej. Sie sind das Ergebnis von Übersetzungen früherer Niederschriften aus der Muttersprache, von Befragungen und von eingebauten Zitaten anderer Autoren. Die Übersetzungsarbeit leisten anteilig Nina Navrotska und Ljuba Danylenko. Dem biografischen Teil angeschlossen ist ein Part mit Beiträgen verschiedener Autoren zu historischen Hintergründen der Ukraine. Wesentliches wird in kleingedruckten Fußnoten erläutert. Ganz aktuell wird auch auf die Kriegssituation 2022 eingegangen. Hinzu kommt eine Vielzahl von in Gruppen eingehefteten Fotografien, meist neueren Datums und nicht sämtlich unverzichtbar, was den Wert des Buches aber nicht mindert. Dass es sich bei der Hauptperson Anastasia Gulej um eine gleichermaßen couragierte, nachdenkliche und gütige Persönlichkeit handelt, sieht man dem von ihrem Enkel Anton Nykyforow 2012 gemalten Porträt auf dem Buchdeckel an.
F.T.A. Erle, Magdeburg
(September 2022)