Leserbrief von Professor Frank P. Meyer
Anmerkung der Redaktion: Die gegenwärtigen Diskussionen über das Impfen gegen Corona werden auch in den nächsten Wochen und Monaten weiterhin präsent sein und durch diverse Einschätzungen und Bewertungen der Impfwirksamkeit der Corona-Impfstoffe begleitet. Wir alle müssen diese Fragen weiterhin im Blick behalten und uns kritisch damit beschäftigen. Vor diesem Hintergrund hat die Redaktion Herrn Professor F. P. Meyer gebeten, seine Einschätzung der Diskussion in einem Leserbrief darzustellen.
Heureka!?
Wir erinnern uns: Am 10. Dezember 2020 erschien in New England Journal of Medicine ein bemerkenswerter Artikel von Polack et al.: „Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine“ mit der sensationellen Botschaft: „BNT162b2 was 95 % effective in preventing Covid-19“.
Ähnlich hohe Erfolgsquoten wurden für weitere Impfstoffe publiziert:
- Spikevax (Moderna) bis zu 94 %,
- Vaxzevria (AstraZeneca) bis zu 70 %,
- Jcovden (Janssen/Johnson & Johnson) bis zu 67 %,
- Nuvaxovid (Novavax) bis zu 90 %.
Personen, die Prozentrechnung nicht abgewählt haben, würden eine Erfolgsquote von 95 % wohl so interpretieren, dass von 100 Geimpften 95 geschützt sind und nur 5 Personen sich infizieren könnten. In einem „Update zur Corona-Schutzimpfung“, das vom Bundesministerium für Gesundheit, vom Robert Koch Institut und von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung am 5. März 2021 im Deutschen Ärzteblatt publiziert wurde, wird diese Sichtweise ausdrücklich bestätigt. Dort heißt es bei den Wirksamkeitsangaben, z. B. „bis zu 95 % für Comirnaty“: „Die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu erkranken, sinkt bei den Geimpften um den genannten Prozentsatz.“
Warum sollte der normale Bürger den Fachleuten aus dem BMG oder dem RKI misstrauen? Als Klinischer Pharmakologe bin ich aber immer skeptisch gewesen, wenn die Pharma-Industrie und ihre Interessenvertreter seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit ihre „Innovationen“ mit zweistelligen Erfolgsquoten „gehypt“ haben. Da hilft nur ein Blick in die Originalliteratur. Aus deren Ergebnistabellen kann man in den meisten Fällen die Realität aufspüren.
Am Beispiel von Comirnaty von BioNTech sollen die Probleme im Folgenden dargestellt werden: An der Studie nahmen 43.448 Personen teil, die randomisiert entweder Placebo (n = 21.728) oder BNT162b2 = Verum (n = 21.720) zugeordnet wurden. Von den 21.728 Placebo-Patienten infizierten sich 162, das sind 0,74 %. Von den 21.720 Verum-Patienten infizierten sich nur 8 Personen, das sind 0,04 %. Daraus resultiert also nur eine Ereignisreduktion oder absolute Risikoreduktion (ARR) von 0,70 % (0,74 minus 0,04). Wenn nun aber in die übliche Trickkiste gegriffen wird und die ARR von 0,70 % auf den Placebo-Wert von 0,74 % bezogen wird, erhält man tatsächlich 95 %.
Zusammengefasst: Bei der angeblichen Erfolgsquote von 95 % der Geimpften addieren sich zwei „Mogeleien“:
- bezieht sich die „efficacy“ nicht auf die Gruppe der geimpften Personen, sondern nur auf die infizierten Patienten!
- wird die relative Risikoreduktion (RRR) veröffentlicht, also die Prozentzahl einer Prozentzahl, die ohne Kontextinformationen völlig irreführend ist. Die eigentlich relevante ARR wird verschwiegen. Vermutlich hätte es für 0,70 Prozent auch kein Bundesverdienstkreuz gegeben.
Für die anderen Impfstoffe ergeben sich folgende Werte der absoluten Risikoreduktion (ARR):
- Spikevax: 1,23 %
- Vaxzevria: 1,2 %
- Jcovden: 1,18 %
- Nuvaxovid: 0,69 %
Die ARR-Werte reichen also von 0,69 % bis 1,23 %! Diese geringen Differenzen haben aber keine klinisch relevante Bedeutung. Es ist außerdem zu erkennen, dass die Angabe des RRR-Wertes von 70 % für den AstraZeneca-Impfstoff völlig sinnlos ist, da der ARR-Wert von 1,2 % anzeigt, dass es sich keineswegs – wie häufig kolportiert – um einen „Impfstoff zweiter Klasse“ handelt.
Eine besonders krasse „Mogelei“ kam im April 2022 aus dem Haus unseres Gesundheitsministers, als Professor Lauterbach für eine vierte Impfung warb, weil die Sterblichkeit im Vergleich zur dritten Dosis noch einmal um 80 % reduziert würde. Dabei bezog er sich auf ein Preprint aus Israel. Das kann doch nur heißen, wenn nach der dritten Dosis noch 100 Geimpfte sterben, versterben nach einer vierten Dosis nur noch 20 Geimpfte. Das klingt so unglaublich, dass man nachrechnen muss. Konkret: Von 124.000 dreifach Geimpften starben in Zusammenhang mit einer Covid-Infektion 32 Personen. Das sind 0,0258 %. Von den 112 000 vierfach Geimpften starben nur 5 Personen. Das sind 0,0045 %. Die absolute Risikoreduktion (ARR) beträgt also nur 0,0213 % (0,0258 minus 0,0045). Wenn man natürlich wieder trickst und die ARR von 0,0213 % auf die Dreifach-Impfung von 0,0258 % bezieht, dann resultiert tatsächlich die irreführende relative Risikoreduktion (RRR) von 82,6 %, also die 80 % unseres Gesundheitsministers. So können Politiker aus einer Mücke (0,0213 %) einen Elefanten (80 %) machen. Zur Zeit ist eine Vielzahl modifizierter Impfstoffe in der Entwicklung. Das betrifft sowohl i. m. als auch nasal applizierbare Produkte. Die meisten Präparate befinden sich noch in der Studienphase 1. Wenn die Hersteller in folgenden klinischen Studien mit zweistelligen Erfolgsquoten auftrumpfen sollten, ist Skepsis angezeigt.
Nicht ganz beiläufig sei erwähnt, dass die oben erwähnten „Mogeleien“ nicht nur die Impfstoffe betreffen. So gab es im Deutschen Ärzteblatt vom 4. Februar 2022 einen kurzen Beitrag unter dem Titel: „COVID-19: Grünes Licht für Paxlovid“, in dem es u. a. hieß: „Bei Menschen mit Vorerkrankungen soll [Paxlovid] das Risiko von sehr schweren Krankheitsverläufen um 89 Prozent senken.“ Wenn man sich die Daten der zugrunde liegenden EPIC-HR-Studie genauer ansieht, dann erkrankten unter Placebo 6,45 % und unter Paxlovid 0,72 % der Patienten. Die absolute Risikoreduktion (ARR) beträgt also nur 5,73 % (6,45 minus 0,72). Wenn man aber wieder in die Trickkiste greift und die ARR von 5,73 % auf den Placebo-Wert von 6,45 % bezieht, dann erhält man tatsächlich 89 %. Wo ist das Problem? Bei einem Wert von 89 % vermutet man doch, dass bei 90 von 100 Patienten ein schwerer Verlauf verhindert wird. Tatsächlich müssen aber 17 Patienten (100 geteilt durch 5,73) behandelt werden, um bei einem (1) Patienten einen schweren Verlauf zu verhindern.
Übrigens: Diese kritischen Bemerkungen sprechen überhaupt nicht gegen Impfungen oder andere Therapien. Im Gegenteil – unter Beachtung aller Nebenwirkungen, Interaktionen und Kontraindikationen sind Impfungen das Nonplusultra. Man darf nur keine Wunder erwarten!
Prof. Dr. med. Frank P. Meyer
Wanzleben-Börde