Rezension
Im Originalen erschienen in: Klesse, R., Teising, M., Lewitzka, U., u. a.: Assistierter Suizid und Autonomie – ein Widerspruch? Das Konzept der „freien“ Entscheidung zum Suizid im Lichte von anthropologischen, entwicklungspsychologischen und psychotherapeutisch-psychiatrischen Befunden. In: psychosozial, 45. Jahrgang, 2022, Heft III, Nr. 169. PDF-E-Book als Sofort-Download unter www.psychosozial-verlag.de, 5,99 Euro, ISSN 2699-1586. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Aktuell ringen Politik und Ärzteschaft um normative Regelungen zum assistierten Suizid, die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und das ärztliche Selbstverständnis wesentlich mitbestimmen werden. Denn das Bundesverfassungsgericht postulierte in seinem Urteil vom 26.02.2020 ein „Grundrecht“ auf Suizid und leitete daraus ein „Recht“ auf Beihilfe zum Suizid ab.
Grundrechte schützen Güter. Der Tod jedoch ist kein schützenswertes Gut, sondern das Ende aller Güter und der Freiheit. Das vom Gericht behauptete Recht hebt sich also selber auf und ist damit ein Widerspruch in sich selbst. Trotzdem behauptet das Gericht in seiner Urteilsbegründung, dass die Entscheidung zum assistierten Suizid „freiverantwortlich und wohlerwogen“ getroffen werden könne.
Das Skandalon dieses Gerichtsentscheides besteht darin, dass es das Unbewusste, dass zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen der letzten 150 Jahre zählt, ohne Begründung ignoriert. Das Gericht schreibt Suizidalen einen „freien Willen“ zu, den diese nicht haben, solange sie von unbewussten Motiven getrieben sind und ihr „Ich nicht Herr im Hause ist“ (S. Freud). Suizidalität ist gerade dadurch charakterisiert, dass das rationale Überlegen und Entscheiden durch starke unbewusste Emotionen blockiert ist. Das Gericht ignoriert in seiner Entscheidung die wissenschaftlichen Befunde der Suizidforschung völlig. Es ist nicht akzeptabel, dass ein so ernstes menschliches Problem wie das der Suizidalität rechtlich beurteilt wird, ohne dass die dafür zuständige wissenschaftliche Disziplin berücksichtigt wird.
Umso wertvoller ist daher die Übersichtsarbeit „Assistierter Suizid und Autonomie – ein Widerspruch?“. In ihr legen renommierte Suizidforscher, Suizidpräventionsexperten, Psychiater und Psychotherapeuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf der Grundlage von Anthropologie, Kulturanthropologie, Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Entwicklungspsychologie, Psychiatrie und Psychotherapie dar, dass das Konstrukt der Freiverantwortlichkeit beim Suizid den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Suizidforschung nicht standhält. Bei der einleitenden Betrachtung anthropologischer Befunde erläutern die Autoren eine der Grundbedingungen menschlichen Lebens: Der Mensch – ein von Natur aus soziales Wesen – ist in all seinen Lebensphasen auf andere Menschen angewiesen. Menschliche Autonomie ist nie absolut, sie ist immer eine relationale Autonomie, eine Autonomie in Beziehung zum Mitmenschen. Ausgehend vom Verständnis der Suizidalität als Ausdruck höchster Not eines Menschen legen die Autoren aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Praxiserfahrungen die Entstehung und Entwicklung von Suizidalität sowie den psychotherapeutischen Umgang mit ihr dar. Anhand von eindrucksvollen Fallbeispielen wird deutlich, dass der Suizidwunsch bis zum Schluss höchst ambivalent ist, Suizidalität mit ihren bewussten und unbewussten Motiven verstehbar ist und durch fachliche, von Mitmenschlichkeit getragene Unterstützung bewältigt werden kann. Dabei kann jeder Einzelne mithelfen. Alles dafür Notwendige ist in unserer Gesellschaft vorhanden, es muss nur umgesetzt werden. Dies gilt ebenso für den assistierten Suizid. Jedoch wird der Mensch dabei in der Krise nicht nur im Stich gelassen, sondern trifft darüber hinaus auf ein Netzwerk derer, die, wie er selbst, seinen Lebenswert negieren und ihn in den Tod führen.
Die Verfasser zeigen auf, dass die kulturelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte den assistierten Suizid fördert, und belegen, dass die (Selbst-)Tötungsrate von Euthanasie und assistiertem Suizid in Ländern, die Euthanasie und/oder assistierten Suizid eingeführt haben, steigt. Die Forderungen, die die Autoren aus den dargelegten Befunden ableiten, messen der suizidpräventiven Wirkung eines antisuizidalen Klimas in der Gesellschaft, das den Wert des menschlichen Lebens und die Bedeutung des Alters würdigt, große Bedeutung bei. Die in der Übersichtsarbeit zusammengetragenen Erkenntnisse und Erfahrungen können im Hinblick auf unser menschliches Zusammenleben, unsere ärztliche Berufsethik und für den Umgang mit suizidalen Menschen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine breite Rezeption des Fachartikels wird für die Diskussion um den assistierten Suizid in der Gesellschaft richtungsweisend sein. Die Erkenntnisse werden im laufenden Gesetzgebungsverfahren zum assistierten Suizid und bei der normativen Regelung der ärztlichen Berufsordnung Berücksichtigung finden müssen. Sie sollten obligatorischer Gegenstand des Medizinstudiums sowie der ärztlichen Fort- und Weiterbildung sein und die Grundlage für eine breite Aufklärung der Öffentlichkeit zum Thema Suizidalität bilden.
Autorin und Korrespondenzanschrift:
Dr. med. Susanne Ley
c/o Ärzte in Ehrfurcht vor dem Leben
Postfach 680 275, 50705 Köln
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