Klaus Schroeder/Jochen Staad (Hrsg.)
Ein biografisches Handbuch

2. bearb. Aufl., Peter Lang Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-631-74981-4, Großoktavformat, geb. Hardcover, zahlr. Fotoreprod. s/w, 684 S., 58,70 €

Auf dem Cover des Buches, was für ein Zeichen: Die im Ährenkranz durchschossene Prägung des Staatsemblems der DDR auf dem Sozialversicherungsausweis eines an der Staatsgrenze getöteten Bürgers, der den Weg in den Westen suchte!

Das kompakte und inhaltsschwere Buch ist das Ergebnis der Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Band 24. Es ist also als wissenschaftliches Werk anzusehen. Kann man mit Wissenschaft tragische Schicksale beschreiben? Die Herausgeber versuchen es mit beachtlicher Effizienz. Es ist letztlich ein Buch der Biografien der an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zu Tode gekommenen Menschen. Ihr Leben wurde durch die kalte Hand eines kalten Krieges abrupt oder quälend langsam verblutend beendet, die meisten von ihnen auf dem Wege von Ost nach West.

Der Zeitraum der Untersuchungen erstreckt sich von den beiden deutschen Staatsgründungen bis zum Mauerfall. Der Sterbeort ist die sogenannte grüne Grenze, also der Grenzverlauf von Sachsen bis an die Ostseeküste oder von Bayern bis Schleswig-Holstein, immerhin ca. 1400 km lang. Nicht eingeschlossen ist die Grenze zu Westberlin, die Ostseeküstenlinie selbst und die Abgrenzung zu den sozialistischen Nachbarn.

Wissenschaft braucht Systematik. Das spiegelt sich hier in der Inhaltsstruktur wider: -Biografien der Todesopfer im innerdeutschen Grenzgebiet; -Todesfälle in Ausübung des Grenzdienstes; -Todesfälle im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes; -Suizide in den Grenztruppen; -Weitere Todes- und Verdachtsfälle. Die Biografien der Verstorbenen in Bezug auf das Todesereignis wurden seitens der untersuchenden Wissenschaftler anhand der eingesehenen zahlreichen Quellen mehr oder weniger vollständig rekonstruiert. Standardangaben sind die Daten zu Geburtstag und -ort, zur Gewalteinwirkung bis zum Sterben inkl. relevanter Ortsangaben. Für das heutige Sachsen-Anhalt standen vor allem der Harz mit seinem nördlichen Vorland und die Altmark zur Diskussion. Liest man sich jede einzelne der 327 Biografien als Zeitgenosse durch, weiß man den alltagshistorischen Wiedererkennungswert des Handbuches zu schätzen.

Die sog. Grenzsicherung war von Anfang an ein Projekt der Stasi. Jeder der Beteiligten aller Dienstgrade konnte davon ausgehen, dass er unter Beobachtung eines IM oder ähnlichen Zuträgers stand. Die politische Absicherung lag in der Verantwortung des ZK der SED, über eine lange Phase bei Erich Honecker. Die Entwicklung der personalen Bewachung ging im Analysezeitraum von der Deutsche Grenzpolizei der DDR bis zu den speziellen Grenztruppen der NVA, von denen sich ca. 2000 Soldaten fahnenflüchtig in den Westen absetzten.

Man kann in der Geschichte des DDR-Grenzregimes eine Dynamik von vier Phasen ausmachen. 1949: Die Übergabe der Grenzsicherung von den Sowjets an die Grenzpolizei der DDR; 1952: Der Ausbau der Grenze durch geografische, technische und bevölkerungspolitische Maßnahmen (Aktion Ungeziefer); 1961: Die Verlegung von Bodenminen, 1971: Die Applikation von Splitterminen bzw. Selbstschussanlagen, auch Schützenminen genannt, an den Grenzzäunen Mit der Zunahme der Verminung stieg die Anzahl der Fluchtversuche über die sog. nasse Grenze, d. h, das Durchschwimmen von Grenzgewässern, ein oft tödlich endender Trugschluss, bes. an der Elbe, selbst für trainierte Rettungsschwimmer.

Das Spektrum der verwendeten Quellen ist breit. Sie finden sich überwiegend in den Akten der Stasi, des MdI, der NVA, von Staatsanwaltschaften und Gerichten der DDR. Auch in der BRD wurde dokumentiert, meist von einschlägigen Bundesministerien, Oberfinanzdirektionen, Zollämtern und nicht zu vergessen der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter, nach der Wende auch von der ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität in Berlin), die im Gegensatz zu den Autoren selbst ermitteln konnte. Dokumente von immer beteiligten ärztlichen Behandlern und anderem medizinischen Personal, z. B. Zahnärzte zur Identifizierung namenloser Leichen, werden selten als Quellen genannt, Ihre Ersteller jedoch mitunter namentlich erwähnt, z. B. in den Gerichtsmedizinischen Instituten der einschlägigen Klinika.

Das jüngste Opfer war ein hochriskant sedierter Säugling, der im Kofferraum eines rostigen Straßenkreuzers in Anwesenheit seiner Eltern unbemerkt erstickte. Der älteste durch die Grenze Getötete war ein 81-jähriger Bauer im niedersächsischen Wendland, der bei seiner Arbeit versehentlich in ein Minenfeld geriet und dem die Explosion beide Beine abriss. Er verblutete wie viel andere auch, denen nicht umgehend geholfen werden konnte.

Die Motive der Flüchtenden waren in den verschiedenen Zeiträumen sehr different. Genannt wird an erster Stelle die Unzufriedenheit mit dem politischen Druck in der DDR. Es folgen die Flucht vor juristischer Ahndung krimineller Delikte, die Sehnsucht nach dem westlichen Lebensstandard und nach der großen weiten Welt, die Flucht aus gescheiterten Beziehungen und Familienproblemen, eine absehbare Einberufung zum Wehrdienst, spontane Ent-schlüsse durch Alkoholeinfluss.

Geschossen wurde mit Handfeuerwaffen, von der Pistole bis zum leichten Maschinengewehr und schließlich durch die automatischen Schützenminen an den Streckmetallzäunen. Als stellvertretende Beispiele sollen die drei folgenden Kasuistiken kurz skizziert werden: S. 501: Eine Gruppe junger Volkspolizisten im Grenzdienst plante 1950 die gemeinsame Flucht. Einer von ihnen war IM der Stasi und verriet sie. Sie mussten der sowjetischen Militärjustiz übergeben werden. Ein Tribunal der Besatzer verurteilte sie unter Anschuldigung der Bildung einer faschistischen Untergrundorganisation und der politischen Zersetzung der VP zum Tode. Sie wurden ein Jahr später in Moskau hingerichtet.

S. 468: Otto S. (Jahrgang 1937) war unser guter Freund in Kindheitstagen. Seine Familie war 1946 aus dem Riesengebirge in die Vorharzregion vertrieben worden. Er wurde in Ilsenburg Forstfacharbeiter, studierte in Ballenstedt Forstingenieur und wollte später eine Revierförsterei führen. Es wurde ihm dringend empfohlen, sich „freiwillig“ für zwei Jahre zum Dienst an der Waffe zu melden. Er trat diesen militärischen Dienst 1958 bei den Grenzern an, heiratete im August 1959 seine Jugendliebe. Zwei Wochen später, am 13. September 1959, wurde er als forstkundiger Grenzer von seinem Vorgesetzten beauftragt, jenseits des Grenzzaunes, aber deutlich diesseits der Demarkationslinie Sichtfreiheit durch Abholzung herzustellen. Eine nicht informierte Kontrollstreife aus Halberstadt bemerkte ihn im Unterholz und erschoss ihn kurzerhand gezielt mit dem Karabiner. Er hatte keine Chance. Das Ereignis wurde der jungen Witwe gegenüber als Unfall deklariert. Sie leidet nach 63 Jahren heute noch darunter.

S. 380: Der italienische Fernfahrer, Kommunist und Familienvater Benito Corghi (38 J.) fuhr für seine Firma Fleischtransporte aus der DDR in die heimatliche Reggio Emilia. Durch ein Versehen in der Passkontrolle des Grenzüberganges Hirschberg/DDR wurde er ohne die Veterinärunterlagen abgefertigt. Er bemerkte deren Fehlen erst an der bayrischen Grenzstation Rudolphstein und wollte sich die fehlenden Papiere zu Fuß in Hirschberg holen. Auf diesem Fußweg an der Autobahn entlang wurde er auf DDR-Gebiet von einem offensichtlich verunsicherten Grenzer im Nebel gezielt nach Anruf erschossen. Der Vorgang erzeugte erhebliche diplomatische Komplikationen. Die Bemühungen der DDR um einen gewissen materiellen Ausgleich für die Familie waren angesichts der einzigen zugegebenen schuldhaften Tötung an der Staatsgrenze fast peinlich. Auf Wunsch der italienischen Diplomaten wurde in Jena eine Totenmesse (Requiem) für B. C. gelesen.

Todesschützen wurden wegen ihres pflichtgemäßen Handelns vom Minister mit der Ehrenmedaille und einer Geldprämie belohnt. Ihr Auftrag war es, Grenzdurchbrüche mit aller Konsequenz zu verhindern, notfalls auch durch „Vernichtung“ der Flüchtenden. Der Begriff der Tötung kam bei der Vergatterung nicht vor.

Das Buch kann als Standardwerk über einen wesentlichen Abschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte angesehen werden. Es ist sowohl antiquarisch als wahrscheinlich auch noch im Handel erhältlich

F.T.A. Erle, Magdeburg
(Dezember 2022)