Über eine andere Haltung zur Welt. Carl Hanser Verlag, München 2013,
ISBN 978-3-446-24183-1, Edition Akzente, französische Broschur im Oktavformat,
143 S., € 17,90

Gelassenheit - ein Wort, ein Wunsch, eine Sehnsucht, heute und lange schon. Gelassen wäre man doch gern. Der schlichte Begriff als Buchtitel fängt den Blick, ist fast eine Aufforderung. Die Ratgeberindustrie hat sich des Themas in Publikationen, Workshops, Kursen und Seminaren bemächtigt. Doch was ist diese so begehrte, obwohl ereignisarme und unbildliche Gelassenheit? Wie kommt man an sie heran? Es muss doch etwas Schönes sein, wenn sich eine offensichtlich ansehnliche Zahl von Erschöpften und Überbürdeten danach streckt.

Der Begriff hat eine lange und reiche ideengeschichtliche Tradition sowie aktuell eine unübersehbare Konjunktur. Es mangelt ihm jedoch an Kontur. Die Gelassenheit tritt mehr als ein ominöses Faszinosum in Erscheinung. Es ist eines der Wörter, von denen Augustinus in Bezug auf den Begriff der Zeit in einem berühmten Diktum sagt, dass man bei seiner Verwendung verstehe, was gemeint ist und es ebenso verstehe, wenn andere es verwenden. Schwierig würde es erst werden, wenn man erklären solle, was es denn eigentlich ausdrücken wolle.
Thomas Strässle wagt den Versuch einer Näherung. Er ist lehrender Literaturwissenschaftler an der Universität Zürich und an der Hochschule der Künste in Bern. Ganz nebenbei ist er auch noch diplomierter und praktizierender Konzertflötist.

Es sei gleich vorweg angemerkt: Das vorliegende tiefgründige Essay ist kein praktischer Ratgeber zur Erlangung eines Verhaltens in Art der Coolness. Dafür eignen sich die darin fixierten Gedanken nur sehr bedingt und wenn überhaupt, erst nach reichlicher Reflexion. Der Gegenstand wandelt sich zudem im Verlauf der Lektüre.
Strässle geht in seinen Studien zum Thema auf Quellensuche in Literatur, Philosophie und Religion. Er will wissen, wovon wir lassen oder was uns lässt, wenn wir gelassen sind. Ist Gelassenheit ein Zustand oder eine Haltung? Hat sie etwas mit Trägheit oder Teilnahmslosigkeit zu tun? Worin ist ihre Vornehmheit begründet? Kurz, es geht ihm um das lassende und gelassene Subjekt.

Der weit gespannte Bogen aus der mittelalterlichen Mystik des Meister Eckhart bis in unsere Tage lässt eine inhaltliche Gliederung in hier dreizehn Kapiteln zu, die sich aus der Wandelbarkeit des Begriffes Gelassenheit ergibt. Dem vorangestellt ist eine sehr einprägsame Einleitung mit dem sprachlich gezeichneten Bild des Gustav von Aschenbach in der Novelle „Tod in Venedig“ von Thomas Mann. Die unter Leistungsdruck stets geschlossene Faust weicht einer sich öffnenden, loslassenden Hand.
Im weiteren Verlauf der Abhandlung spiegelt der Autor die Gegenbegriffe Besessenheit, Verbissenheit und Zerstreuung auf die Gelassenheit, deren Synonymrepertoire von A/Abgeklärtheit bis Z/Zufriedenheit reicht. Er zitiert ausgewählte Literatur, die im Anhang samt Anmerkungen genauer aufgeführt ist. Er geht immer wieder auf Bezüge in der deutschen Sprache ein. Strässle zieht die erkenntniskritischen Aussagen Arthur Schopenhauers zur involvierten Distanz und entfremdeten Teilhabe ebenso heran wie Friedrich Nietzsches Forderungen zum Umgang mit dem Für und Wider und zum Recht, seine Werte selbst und in Gelassenheit zu setzen. Die Frage nach der Geschichtlichkeit der Gelassenheit macht er unter Bezug auf Martin Heidegger an der großen Herausforderung für den modernen Menschen, den Umgang mit der Technik, fest. Er forderte ein rechnendes Ja zur Nutzung und ein besonnenes Nein zur vollständigen Beanspruchung.

Schließlich findet die Sicht Peter Slo-terdijks Beachtung, der uns geradezu in einer Gelassenheitskultur leben sieht. Der moderne Mensch sei Agent und Akteur, der sich in Netzwerken bewege und in diese verstrickt sei. Er tut und lässt mit sich tun. Die sich daraus ableitenden Aktivitäts-Passivitätsbilanzen seien individuell abzuwägen.
Das sei auch möglich, sagt Strässle, im Rückgriff auf das gesamte Spektrum an Haltungen und Handlungen, wie er sie hier vorgeführt hat. Da spricht er etwas gelassen aus. Nur die Gesamtschau, wie sie der Buchautor anhand seiner Quellen anbietet, lässt etwas von der Wirkung dieses Begriffes in seiner Vielschichtigkeit ahnen.
Also doch ein Ratgeber? Stil, Sprache und Fundamente des Buches lassen eine solche Einordnung nicht zu. Man wird aber mehrmals, immer wieder mal und mit steigendem Denkgenuss nach dieser anspruchsvollen Lektüre greifen. Inhalt, Gestaltung und Handlichkeit des Büchleins verleiten dazu.

F.T.A. Erle, Magdeburg